Im Norden, Tag 1: Bahir Dar

Montag, 14. November 2011

Noch einen letzten Fetzen Internetz habe ich hier, deshalb die erste Fuhre Fotos. Heute: Wasserfälle des Blauen Nils, Papyrusboote auf dem Tanasee, das Kloster Ura Kidane Mehret. Unkommentiert, ich glaube, es geht auch so. Bildunteschriften liefere ich nach, wenn ich wieder zurück bin. Es war ein unglaublicher Tag, eine Reise in die Vergangenheit, zu Urgewalten (ob Natur oder Glauben) und zur Einfachheit.

Kolonialschlampen-Tag

Sonntag, 13. November 2011

Dies ist ein Dankesbrief an zwei wunderbare Menschen, Meike und Ingo Becker, denen ich wahnsinnig viel Spaß und ein gerüttelt Maß an Einsichten in das Addis-Leben verdanke. Sie leben seit fünf Jahren hier, Ingo hat eine Professur am Ethiopian Institute of Architecture, Building Technology and City Development und war für ein GTZ-Programm zum Bau von 15 Universitäten hierher gekommen, eines der größten deutschen Entwicklungshilfeprojekte in Äthiopien. Ihre Kinder, 18 und 14, gehen auf die Deutsche Schule, Meike hat bis vor kurzem am Filmprojekt von Brigitte Maria Mayer mitgearbeitet.

Wir hatten schon zwei sehr lustige Abende miteinander verbracht, doch gestern sind wir den ganzen Tag durch die Stadt gefahren. In der Uni zeigte Ingo mir ein Projekt zum Bau von Flüchtlingsunterkünften: Häuser aus Gabionen, mit Steinen gefüllten Drahtkörben, und begrünbaren Bambusdächern, billiger und unendlich viel langlebiger als die vom UNHCR aufgestellten Zelte. Was mir nicht klar war: Diese Camps sind selten Provisorien, viele Flüchtlinge leben bis zu 20 Jahren dort.

Wir drehen eine „Kolonialschlampen“-Runde, wie Ingo das sarkastisch nennt. Durch das riesige Gelände der deutschen Botschaft, zur bestens ausgerüsteten Deutschen Schule, zum Lunch ins pompöse Sheraton (oben), dessen Gäste am Pool durch hohe Zäune mit Landschaftsmalereien von der bösen Welt da draußen verschont bleiben, in eine trostlose gated community außerhalb der Stadt, wo NGO-Mitarbeiter und einige wenige reiche Äthiopier abgeschirmt zu überteuerten Mieten in Luxushäusern wohnen.

Wir fahren zur Seidenweberei Sabahar, einem der vielen kleinen Projekte, die hier blühen: hinreißende handgewebte Rohseide- und Baumwollschals in warmen Naturtönen. Ich kaufe ein Tuch, Meike (die andere) kauft ein paar der wunderschönen Handtücher von From the hands of Ethiopia, einem Projekt, das der Hamburger Weber Andreas Möller in Bahir Dar angestoßen hat.

Wir fahren über die Ring Road, eine neue Umgehungs-Schnellstraße, über die Leute rennen und die immer noch, unfassbar, per Hand gefegt wird. Wir fahren hinaus aus der Stadt, vorbei an Wasserstellen, um die sich Frauen mit riesigen Kanister drängen, über Schotterpisten zu den Neubaugebieten, die hier im Nirgendwo auftauchen wie Geisterstädte. Hastig hochgezogen, völlig unerschlossen, nur mit raren, überfüllten Sammeltaxis erreichbar. Die Stadt wächst in einem atemberaubenden Tempo. Bis jetzt gibt es noch kaum eine städteplanerische Idee, mit der Bevölkerungsexplosion umzugehen. Die begehrten Innenstadtlagen werden ausländischen, meist chinesischen, Investoren überlassen, die in irrer Geschwindigkeit Gebäude hochziehen, die nach zwei Jahren schon wieder verfallen.

Abends sitzen wir wieder im urgemütlichen alten Haus der Beckers, durch dessen Garten zwei Hunde, zwei riesige Schildkröten, eine Ziegenherde und eine Hühnerschar laufen (der Esel wurde kürzlich umquartiert, er hielt sich anscheinend für einen Hund und kam immer wieder ins Haus gewandert). Wir gucken Fotos von ihren Reisen durchs Land, atemberaubend schöne und herzzerreißend traurige Bilder, die meine Frage, was sie hier hält, schon von ganz allein beantworten. Die beiden sagen mir das, was mir schon andere in Addis gesagt haben: Die Arbeit, das Leben hier macht einfach mehr Sinn als zuhause. Es ist frustrierender, aber eben auch ungleich befriedigender als in Deutschland. Die Erfahrung, einen spürbaren Unterschied im Leben anderer zu machen, etwas auszurichten und zu verändern, einen wirklichen Lebenszweck zu erfüllen, das ist es am Ende, was zählt. Was bleibt und was sie bleiben lässt.

Freitagnacht

Sonntag, 13. November 2011

Unter den Top Ten der besten Abende in diesem Jahr ist dieser hier ziemlich weit oben. Zuerst Essen mit ein paar Leuten im Juventus Club. Das ist ein alter Sportverein mit angeschlossener Gastronomie, der irgendwann mal bei allen möglichen Fußballclubs weltweit angefragt hat, ob die ihn sponsorn würden. Es meldete sich Juventus Turin, und seitdem heißt der Laden so, wie er heißt. Abends trifft man sich hier an langen Tischen zu italienischem Essen, Kinder sausen durch den Raum oder toben sich in der Turnhalle nebenan aus, ein paar Entwicklungshelfer hängen an der Bar herum, in einem Nebenraum tagt eine Pokerrunde. Essen für vier mit Zickleinragout, Piccata alla Milanese und ordentlich viel Rotwein: knapp 40 Euro.

Das war schon mal gut. Dann wurde es richtig, richtig gut. Ich hatte schon vorher vom Jazzamba gehört, einem Jazzclub im alten Ballsaal des Taitu Hotel, des ältesten Hotels Äthiopiens. 20 Jahre lang war der Saal verwaist, seit Juni spielt hier wieder jeden Abend eine Band. Die Atmosphäre ist großartig: der Saal pickepackevoll mit gutbesetzten Tischen, darüber ein paar funzelige Kronleuchter, links eine Bar. Auf der Bühne, wie jeden Freitag: das Addis Acoustic Project, eine noch junge Band mit einer Legende an der Mandoline, Ayele Mamo. In den Fünfzigern und Sechzigern war Addis eine Jazz-Hochburg, als das Derg-Regime die Macht übernahm, war es vorbei mit der Freiheit. Doch jetzt finden die alten Musiker eine neue Bühne. Für einen Gastauftritt tritt Girma Negash ans Mikro, ebenfalls ein Held der guten alten Zeit – heute fährt er Taxi. Später kommt Melaku Belay, einer der besten traditionellen Tänzer der Stadt hinzu (in seinen Club Fendika muss ich auch noch mal, so ungefähr ist es da), spätestens jetzt dreht der Laden völlig durch und ich auch. Die Stimmung ist sensationell. Ein bisschen Buena Vista Social Club, ein bisschen Familienfeier, ein bisschen hysterisch. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so gelöst, so ausgelassen, so glücklich war. Ein großes, großes Geschenk, so etwas erleben zu dürfen.

Hier noch ein ganz professionelles Video über das Addis Acoustic Project. Und hier ihre erste CD.


Bole Road

Mittwoch, 9. November 2011

In der Tourist Information am Meskel Square.
„Guten Tag, haben Sie einen Stadtplan von Addis?“
„Nein, aber Sie können einen im Souvenirshop nebenan kaufen.“ 
„Haben Sie denn sonst Informationsmaterial über die Stadt?“ 
„Hm… nicht wirklich. Doch, hier, diesen Veranstaltungskalender.“
„Aber der ist ja für Oktober.“
„Den für November kriegen wir nächste Woche.“
„Also Mitte November?“
„Ja.“
Im Souvenirshop nebenan:
„Guten Tag, haben Sie einen Stadtplan von Addis?“
„Ich muss mal schauen. Ja.“
Ein quadratmetergroßes Plakat wird gebracht.
„Haben Sie so etwas auch kleiner, zum Falten?“
„Nein.“
„Danke schön.“

Also gut, dann halt so. Der heutige Plan: die Bole Road hinunter laufen, eine etwa fünf Kilometer lange Hauptstraße mit Restaurants, Kinos und Shoppingcentern, die am Flughafen Bole endet.

Erster Halt: das subtil betitelte „Red Terror“ Martyrs Memorial Museum, das die Herrschaft der marxistischen Derg-Militärjunta in den Jahren 1974 bis 1991 behandelt. Drinnen geht es ebenso holzhammerig weiter: In einer Vitrine diverse Folterinstrumente von der Lederpeitsche bis zur rostigen Kneifzange, das lebensgroße Modell einer Foltermethode namens wofelala (das wollen Sie nicht wissen), der Nachbau eines Massengrabs, daneben – in raumhohen Glasschränken – die Original-Schädel und Knochen, die darin gefunden wurden, Särge gefüllt mit blutigen Kleidungsstücken, Schwarzweißfotos von Opfern der Massenhinrichtungen, deren Leichen anschließend in den Straßen verrotteten. Das Museum ist weniger Aufklärung als Propaganda, ein einziger Empörungsschrei – der enorm an Wirkung verliert durch die Selbstdarstellung der derzeitigen Regierungskoalition EPRDF als siegreicher Befreier von den Unterdrückern. Also genau des Parteienbündnisses, das ihrerseits etliche Oppositionelle auf dem Gewissen hat und dieses Museum 2010 in einem Luxusbau an einen der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte von Addis geklotzt hat.

Vorbei an Großbaustellen, auf denen Frauen die Knochenarbeit leisten und die Zementeimer schleppen, während die Männer mit den Händen in den Taschen daneben stehen. Davor Plakate mit Aufschriften wie „From shabby to chic – witness the transformation!“ Um Platz für die neuen Prachtbauten zu machen, wurden tausende von Slum-Hütten plattgemacht und ihre Bewohner an den Stadtrand verbannt.

Kurz in ein Musikgeschäft, um eine CD mit äthiopischem Jazz zu kaufen. Gibt es gerade nicht, könne man mir aber bis morgen schwarz brennen, mit Farbkopien des Covers und des Booklets, für 90 Cent. Ich winke ab. In den Regalen: James Last-CDs mit verblichenen Schwarzweiß-Kopien des Covers.

Weiter: Postmodernistische Monsterbauten, davor verkrüppelte Bürgerkriegsopfer, die sich auf Ellenbogen über die Straße robben. Ein schwarzer Mercedes, ungeduldig hupend. Ein Burger-Restaurant. Ein Pizza-Restaurant. Ein Day Spa, Maniküre: 2,40 Euro. Bettelnde Frauen, bettelnde Kleinkinder.

Das Friendship Shopping Center. Darin ein Juwelier mit wunderschönen orthodoxen Silberkreuzen.

Und ein Supermarkt mit fast leerem Kühlregal: nur ein paar Milchschläuche und einige Töpfe geklärter Butter.

Und eine Möbelabteilung mit Sitzgruppen für 2800 Euro, steinhart gepolstert. Hier lässt sich niemand sinken.

Und ich habe mir für 50 Cent eine Tüte Erdnüsse gekauft, allein schon weil irgendjemand – ich könnte schwören: eine himmelschreiend unterbezahlte Frau – sich die Mühe gemacht hat, in jede einzelne der etikettenlosen Plastiktüten oben rechts in die Ecke ein kleines Loch zu stanzen, dort ein sorgsam geringeltes rosa Bändchen einzufädeln und es vorsichtig zu verknoten. So was bringt mich um vor Rührung.

Und tschüß

Samstag, 5. November 2011

308 Tage, das ist kein schlechter Schnitt auf einer Weltreise. 308 Tage hat es gedauert, bis das Unvermeidliche passiert ist: Mir ist heute meine Tasche geklaut worden.

Am meisten ärgere ich mich über mich selbst, denn ich weiß es ja besser. Hab das Ding immer schön quer vorm Körper getragen, im Gedränge auch mal unter den Arm geklemmt. Ich kenne alle Tricks, bilde ich mir ein, alle Ablenkungsmanöver. Aber heute habe ich die Tasche wie der größte Anfänger aller Zeiten kurz neben mich gestellt, es war am gottverlassenen Derg Monument, einem kommunistischen Mahnmal. Oben vor dem Monument weit und breit keine Menschenseele zu sehen – bis auf den Moment, wo sich ein Junge (ich glaube: der ganz links außen auf dem Foto oben) sich lautlos von hinten anschlich, die Tasche griff und loswetzte. Ich für hundert Meter brüllend hinterher, klar, aber das Bürschchen war schneller, vor allem, als er sich in die Büsche schlug. Mann, habe ich geflucht.

In der Tasche war mein Kindle (Mist), zwei kurz zuvor gekaufte Bücher über Addis und Äthiopien, Sonnenbrille (bei dem Wetter eh nicht nötig) und meine Geldbörse mit umgerechnet etwa 50 Euro. Glücklicherweise hatte ich vor meinem Spaziergang die größte Menge des Bargeldes, Kreditkarten, Führerschein und Pass in den Hotelsafe gepackt. Handy, Hotelkeycard und Fotoapparat waren in meiner Jackentasche. Denn ich bin zwar blöd, aber nicht so blöd. Der Schaden ist also eher ein ideeller, denn diese Tasche begleitet mich seit Sydney, ich habe sie sehr lieb gewonnen und hätte sie gern als Andenken an die Reise behalten. Und der Verlust des Kindle schmerzt natürlich. Andererseits: Alle gekauften Kindle-Bücher habe ich auch auf einer App in meinem iPhone, ein Hurra auf die Technik.

Was nicht geklaut worden ist: ein Tütchen mit diesem bezaubernden sahnegefüllten Spritzgebäck-Schwan aus einer Bäckerei an der Churchill Avenue. Der wird jetzt gerade, während ich dies schreibe, zu einer Kanne Earl Grey gegessen.

Und wenn ich schon dabei bin: Hier ein paar Fotos von meinem heutigen Streifzug.

Die St. George Cathedral ist ein ungewöhnlicher Rundbau. Die Gläubigen wandern gegen den Uhrzeigersinn um sie herum und küssen sie in regelmäßigen Abständen, die Türen waren alle geschlossen. Ich, im Uhrzeigersinn gehend, wurde gemahnt, die Richtung zu ändern – das würde mich mehr öffnen.

Die Cunningham Street im Bereich Piazza (oder Piassa, die Schreibweise wechselt) ist eine der zentralen Einkaufsstraßen von Addis Abeba.

Haile Selassie Street, ebenfalls im Zentrum.

Schon mal ein Vorgeschmack auf Kuba: Alte Käfer gibt es hier in rauen Mengen.

Die Beschilderung ist, wie so oft in Afrika, kreativ bis unlesbar. Das gilt übrigens auch für die Straßenschilder. Kürzlich sind in einer Hauruck-Aktion 52 Straßen nach Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union umbenannt worden, offenbar in Reaktion auf die Drohung, den Hauptsitz in eine andere afrikanische Stadt zu verlegen. Bedeutet: Alle Straßenpläne sind Makulatur.

Bar.

Schlachter.

Bücherstände.

Einer der größten Buchläden, Megabooks. Interessanterweise ausschließlich Fachliteratur. Buchhaltung, Ingenieurswissenschaften, Englisch als Fremdsprache. Halt alles, was wirklich wichtig ist in so einem Land.

Eine ziemlich typische Straßenansicht. Wellblechsiedlungen, dahinter Hochbauten in verschiedenen Phasen der Fertigstellung. Und davor, an der Mauer, improvisierte Zelte aus Lastwagenplanen, aber auch Leute, die einfach nur zusammengerollt in einem Plastiksack schlafen, direkt auf der Straße, im Regen. Der Anblick ist für mich immer noch erschütternd, obwohl ich merke, dass mich nach Indien nichts mehr so leicht schockiert.

Kaffee ist ein Riesenthema hier in Addis wie auch sonst in Äthiopien, das sich selbst als Urland des Kaffees betrachtet – sehr schade, dass ich Teetrinkerin bin, denn der Geruch, der aus den Kaffeebars in die Straßen weht, ist köstlich. Eine der besten (mit angeschlossener Rösterei) ist das Tomoca in der Wavel Road (Nähe Churchill Avenue). Kaffee-Aficionados rösten selbst in kleinen Pfannen und mahlen per Hand, alle Geräte kann man hier kaufen.

Ich jetzt aber: Schwan & Tee. Schwanentee. Und Montag eine neue Tasche und ein neues Portemonnaie kaufen. Wenn ich ein Talent habe, das beim Reisen wirklich nützlich ist, dann dieses: So was wie einen Diebstahl nie persönlich nehmen. Denn das ist er nicht. Gerade in einem Land wie Äthiopien ist er nur eine fällige Umschichtung von Reich zu Arm.

Einmal um den Block

Mittwoch, 2. November 2011

Dieser erste Tag erinnert mich sehr an Indien. Bettelnde Mütter mit Kind auf dem Arm, die sich ins Taxifenster hängen, Soldaten, die einem das Fotografieren öffentlicher Gebäude verbieten wollen (oben: Africa Hall und UN-Wirtschaftskommission für Afrika), chaotischer Verkehr, irre Luftverschmutzung, Wellblechhütten. Und, wie damals in Mumbai: Ich bin die einzige Weiße, die zu Fuß unterwegs ist. Wer es sich auch nur einigermaßen leisten kann, fährt Taxi oder Sammeltaxi.

Dazwischen musste ich aber auch immer mal wieder lachen.

Zwei furchteinflößend gigantische Friedenstauben auf einem Portal. Verteidigungsministerium?

Der derzeit regierende heimliche König, Haile Gebreselassie, bester Läufer der Welt, macht Werbung für Johnny Walker? Okay…

Passend dazu: erstaunlich viele Leute mit Turnschuhen lassen sich die Schuhe putzen. Die äthiopischen Schuhputzer arbeiten mit Seifenlauge und Lappen – es geht vor allem darum, den Dreck runterzukriegen. Polieren: Nebensache.

Mein Ziel, etwa drei Kilometer entfernt: das Nationalmuseum. Und dort hatte ich tatsächlich zum ersten Mal fast Tränen in den Augen. Zu sehen, wie die großen Fundstücke des Landes – die Skelette von Lucy, DIK 1-1 und Ardi, den ältesten Hominini der Welt, alle in Äthiopien entdeckt – hier lieblos in verstaubten Kisten nur mit ein paar kargen Zeichnungen erläutert präsentiert werden (auch wenn es natürlich nur Replika sind), dreht mir mein Museumsliebhaberherz um. Dasselbe gilt für die unfassbaren Kronen und Staatsroben von Haile Selassie: unbeleuchtet in verschmierten Glaskästen, es ist herzzerreißend. Was könnte man mit etwas Geld für eine tolle Ausstellung daraus machen! Aber genau das fehlt natürlich. Und wenn es da wäre… Ja, hier gibt es Dringenderes zu zahlen.

National Museum, King George VI Street, Addis Abeba

Hinterher immerhin eine Entdeckung: Rechts neben dem Museum gibt es ein Gartencafé namens Lucy. Man sitzt sehr schön im Grünen, eine willkommene Oase. Und das hiesige St. George-Bier ist fast so trinkbar wie das palästinensische Taybeh neulich.

Matkot Madness

Montag, 31. Oktober 2011

Ich gehe da also durch Neve Tzedek, den ältesten Teil von Tel Aviv, und gucke und fotografiere und entdecke in der Shabazi Street dieses Haus. Sind das… Matkot-Schläger da ums Fenster herum? Tatsächlich. Ein kleiner alter Mann greift mich plötzlich von hinten am Arm: „That’s my apartment! Would you like to see it? Come with me!“ Klare Sache: Hinter ihm her, Treppe hoch, rein in die Wohnung. Und dort das, in allen Räumen:

Amnon Nisim, 67, liebt Matkot, das israelische Strandtennis. Kann man sehen, glaube ich. Er spielt seit 60 Jahren jeden Tag morgens um sechs vor dem Gordon-Strand, „nicht am Strand selbst, der Sand macht einen zu langsam. Auf dem Pflaster davor.“ Vor dreißig Jahren hat er angefangen, seine Wohnung zu einem Matkot-Museum zu machen. Schläger aus Glas und aus Marmor, gehäkelte Schläger und Schläger als Puzzle, Trophäen, Fotos, T-Shirts, ein zweieinhalb Meter langer Tisch in Form eines Matkot-Schlägers – die Wohnung ist der Wahnsinn. Viele Exponate haben Künstler speziell für ihn gemacht. Amnon legt mir zu Ehren („Sie sind deutsch?“) eine CD von Caterina Valente auf und singt mit, holt Süßes aus dem Kühlschrank und zeigt mir seine Plattensammlung. „Elvis!“ Hinreißender Typ, hellwach und topfit.

Yad Vashem

Dienstag, 25. Oktober 2011

„Jetzt warst du in soviel unterschiedlichen Kulturen, anderen Ländern, im fernen Asien und Bonbon-Honolulu, hast dich in den schrägsten Sachen ausprobiert und bist in bunte neue Welten abgetaucht, aber erstmals, nach dieser langen Zeit (auch wenn es dir vielleicht vorkommt wie ein Lidschlag), erstmals habe ich das Gefühl, jetzt wo du in Jerusalem bist, dass du in der Fremde bist“, schrieb mir heute jemand. Und konnte da noch gar nicht wissen, wie recht er hat: denn heute war ich in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte. Tatsächlich, erstmals hatte auch ich das Gefühl, in der Fremde zu sein: angekommen in meinem eigenen Land vor 70 Jahren .

Yad Vashem ist nicht nur die hinlänglich aus den Nachrichten bekannte Kranzabwurfstelle, sondern ein kluges, nämlich fast sachliches Museum über die Judenvernichtung im Nationalsozialismus. Es erzählt Geschichten, nicht Geschichte. Es versucht, die Opfer nicht ein zweites Mal zu begraben – unter grauenhafen Statistiken und unfassbaren Zahlen –, sondern sie sichtbar zu machen. Wochenschaudokumente, Fotos, Film-Interviews mit Überlebenden, Fundstücke, Briefe, Tagebücher, moderiert von einem ganz unpathetischen Audioguide, machen diesen Ort so unentrinnbar. Man geht über das Original-Straßenpflaster des Warschauer Ghettos, steigt über die Eisenbahnschienen von Auschwitz, und alles wird entsetzlich präsent. Geschichte, das sind die Lügen der Sieger, las ich neulich im neuen Roman von Julian Barnes. Yad Vashem widerlegt geduldig jeden Versuch einer Lüge mit Dokumenten und noch mehr Dokumenten.

Schon gleich zu Beginn der Ausstellung war es um meine Fassung geschehen: In einer Vitrine lagen angekokelte Fotos aus den Taschen von Gefangenen des estnischen KZ Klooga. Beim Anrücken der Roten Armee wurden die etwa 2000 Insassen erschossen, vorher mussten sie sich auf Holzscheite legen, die anschließend angezündet wurden, um alle Spuren zu tilgen. Die Russen waren schneller da als gedacht, das Feuer hatte noch nicht alle Leichen erfasst. Und auch nicht alle Fotos. Ein Bild zeigt vier lachende Jungs in Badehosen, eines einen ernsten jungen Mann und eine ernste junge Frau beim gemeinsamen Kreuzworträtsellösen. Welche Erinnerungen mit diesen Fotos verbunden waren und warum sie wichtig genug für ihre Besitzer waren, um sie mit ins KZ zu nehmen, darum geht es in Yad Vashem. Immer wieder werden Einzelschicksale aus der Namenlosigkeit ans Licht geholt. Keines davon soll exemplarisch sein, jedes einfach nur – ein Leben.

Yad Vashem, Har Hazikaron, Jerusalem

Jerusalem I

Montag, 24. Oktober 2011

Links die Männer. Rechts, durch eine Wand getrennt, die Frauen. Über allem ein Gesang und eine merkwürdige Beklommenheit. Soldaten mit Maschinenpistolen stehen herum, amerikanische Touristengruppen. Als ob alle auf etwas warten.

Der Tempelberg mit dem Felsendom, ein paar dutzend Meter über der Klagemauer und doch wie auf einem anderen Planeten. Nicht-Moslems dürfen ihn nur durch einen hochgesicherten Eingang betreten, der von israelischer Polizei kontrolliert werden, und das auch nur außerhalb der Gebetszeiten. Die Wartezeit heute morgen: eineinhalb Stunden. Endlich oben angekommen, gehen die Massen, die sich unten drängten, auf dem weiten Plateau schnell verloren. Die Al-Aqsa-Moschee, der Felsendom selbst: ebenfalls nur Moslems geöffnet. Auch hier: eine seltsame Starre, ein Gefühl von Uneigentlichkeit.

Hier oben auf dem Tempelberg konzentriert sich das, was die Israelis trocken HaMatzav nennen: die Lage. Die Lage ist die: Für die Juden ist der Tempelberg das Allerheiligste. Der Fels, auf den die Welt gebaut ist, der Ort, an dem Gott die Erde für Adam entnahm und Abraham beinahe seinen Sohn Isaak opferte, der Ort des Salomonischen Tempels, in dessen Innerstem die Bundeslade mit den zehn Geboten im Tabernakel ruhte – das Allerallerallerheiligste. Für Moslems ist vom Tempelberg Mohammed in den Himmel aufgefahren, nach Mekka und Medina der drittwichtigste Ort im Islam. Und für alle ist es der Nabel sämtlicher Konflikte in der Region. Der Auslöser für HaMatzav.

Und dann hätten wir noch das hier, keine 500 Meter von Tempelberg und Klagemauer (der ehemaligen Westmauer unterhalb des zerstörten Salomonischen und Zweiten Tempels) entfernt: die christliche Grabeskirche. Erbaut an der Stelle, an der laut Überlieferung Jesus gekreuzigt und begraben wurde. Der Altar oben, unter den die Gläubigen sich bücken, birgt ein Loch im Steinboden, in dem angeblich das Kreuz gestanden hat – Golgatha. Diese Kapelle ist unter der Obhut der Griechisch-Orthodoxen, die Kapelle zwei Meter daneben (hier wurde Jesus ans Kreuz geschlagen) gehört den Franziskanern. Zwischen den diversen christlichen Fraktionen, die Besitzansprüche anmelden, ist der Dissens so groß, dass seit dem 12. Jahrhundert der Schlüssel zur Grabeskirche in der Hand derselben muslimischen Familie ist, die jeden Morgen um 4.30 Uhr aufsperrt und abends um 20 Uhr wieder zu.

Wenn es nicht alles so tragisch wäre, dann… Aber so ist nun mal ist die Lage.

Bauhausen

Samstag, 22. Oktober 2011

Die Weiße Stadt also. Den Namen verdankt Tel Aviv seinen geschätzt 3000 Bauhaus-Gebäuden aus den 30er bis 40er Jahren, aus einer Zeit, als sich die Bevölkerung binnen kurzem verdreifachte. Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Bauhaus-Häuser, 2003 hat die UNESCO das Ensemble zum Weltkulturerbe erklärt. Wenn man sich allerdings auf die Suche nach ihnen macht, findet man sich eher in einer Graubraungelblichen Stadt wieder. Die Feuchtigkeit, die Seeluft, die Hitze haben die meisten Fassaden ruiniert, den Rest besorgten unbekümmertes Umbauen, zugemauerte Balkons. Erst seit den Neunzigern besinnt sich Tel Aviv wieder auf seine Architekturgeschichte, doch bislang wurden nur einige hundert Bauten renoviert. Fördergelder bekommen die Besitzer nicht dafür, am Rothschild Boulevard allerdings, wo sich ein Haus an das andere reiht, gibt es die Auflage, dass für jeden Neubau eines verspiegelten Banken- oder Versicherungspalastes ein Bauhaus-Gebäude restauriert werden muss. Aber der Normalfall sieht so aus:

Die derzeitige Wiederentdeckung des Bauhaus-Erbes ist natürlich vor allem spekulationsgetrieben. Renovierte Wohnungen lassen sich für Millionenbeträge an ausländische Investoren, gern russische Oligarchen, verkaufen. Einerseits ist es zum Zähneknirschen, wenn man sieht, was aus der ehemals egalitären Idee des guten Designs für alle geworden ist. Andererseits werden auf diese Weise zumindest ein paar Häuser überleben, die ansonsten keine Chance gehabt hätten.

Aus der Abteilung Ausgleichende Gerechtigkeit: Die frisch getünchten und teuer verkauften Häuser werden regelmäßig von den hier herumfliegenden Fledermäusen mit Kot bombardiert. Leider stehen die Tierchen unter Naturschutz… Karma.

Unabhängig davon ist die Avenue Rothschild eine der schönsten Straßen von Tel Aviv, mit einer prächtigen Fußgänger-Allee in der Mitte. Mein Lieblingshaus hier ist gar kein Bauhaus-Gebäude, sondern eine der mindestens ebenso typischen Promenadenmischungen in dieser Stadt. Von einem russischen Architekten namens Berlin für eine jemenitische Familie gebaut, beherbergte es lange im ersten Stock eine Armenküche für orthodoxe Juden, im Erdgeschoss ein chinesisches Restaurant für die Reichen, heute eine Szenebar. Only in Tel Aviv.