Jerusalem I

Links die Männer. Rechts, durch eine Wand getrennt, die Frauen. Über allem ein Gesang und eine merkwürdige Beklommenheit. Soldaten mit Maschinenpistolen stehen herum, amerikanische Touristengruppen. Als ob alle auf etwas warten.

Der Tempelberg mit dem Felsendom, ein paar dutzend Meter über der Klagemauer und doch wie auf einem anderen Planeten. Nicht-Moslems dürfen ihn nur durch einen hochgesicherten Eingang betreten, der von israelischer Polizei kontrolliert werden, und das auch nur außerhalb der Gebetszeiten. Die Wartezeit heute morgen: eineinhalb Stunden. Endlich oben angekommen, gehen die Massen, die sich unten drängten, auf dem weiten Plateau schnell verloren. Die Al-Aqsa-Moschee, der Felsendom selbst: ebenfalls nur Moslems geöffnet. Auch hier: eine seltsame Starre, ein Gefühl von Uneigentlichkeit.

Hier oben auf dem Tempelberg konzentriert sich das, was die Israelis trocken HaMatzav nennen: die Lage. Die Lage ist die: Für die Juden ist der Tempelberg das Allerheiligste. Der Fels, auf den die Welt gebaut ist, der Ort, an dem Gott die Erde für Adam entnahm und Abraham beinahe seinen Sohn Isaak opferte, der Ort des Salomonischen Tempels, in dessen Innerstem die Bundeslade mit den zehn Geboten im Tabernakel ruhte – das Allerallerallerheiligste. Für Moslems ist vom Tempelberg Mohammed in den Himmel aufgefahren, nach Mekka und Medina der drittwichtigste Ort im Islam. Und für alle ist es der Nabel sämtlicher Konflikte in der Region. Der Auslöser für HaMatzav.

Und dann hätten wir noch das hier, keine 500 Meter von Tempelberg und Klagemauer (der ehemaligen Westmauer unterhalb des zerstörten Salomonischen und Zweiten Tempels) entfernt: die christliche Grabeskirche. Erbaut an der Stelle, an der laut Überlieferung Jesus gekreuzigt und begraben wurde. Der Altar oben, unter den die Gläubigen sich bücken, birgt ein Loch im Steinboden, in dem angeblich das Kreuz gestanden hat – Golgatha. Diese Kapelle ist unter der Obhut der Griechisch-Orthodoxen, die Kapelle zwei Meter daneben (hier wurde Jesus ans Kreuz geschlagen) gehört den Franziskanern. Zwischen den diversen christlichen Fraktionen, die Besitzansprüche anmelden, ist der Dissens so groß, dass seit dem 12. Jahrhundert der Schlüssel zur Grabeskirche in der Hand derselben muslimischen Familie ist, die jeden Morgen um 4.30 Uhr aufsperrt und abends um 20 Uhr wieder zu.

Wenn es nicht alles so tragisch wäre, dann… Aber so ist nun mal ist die Lage.

11 Antworten to “Jerusalem I”

  1. Bernd Says:

    Da fällt mir nur ein einziges Wort ein, im wahrsten Sinne des Wortes, in seiner geballten Bedeutung:

    MENSCHENSKINDERS ………..

  2. Uschi aus Aachen Says:

    Puh. – Als meine Mutter vor zwei Jahren dort war und davon erzählte, hörte und fühlte sich das (wenn auch mit nicht ganz so wohlgesetzten Worten) ziemlich genauso an…

  3. ThomasCrown Says:

    In jüngeren Jahren besaß ich die übliche Halbbildung aus den Nachrichten zu “der Lage” und war im üblichen jugendlichen Idealismus der Meinung, mit ein bißchen Toleranz und ein paar Kompromissen könne das doch nicht so schwer zu lösen sein.
    Dann las ich mehr, lernte mehr und mit jedem Themenkomplex, von dem ich erfuhr – grüne Grenze, die Wasserversorgung, der Grenzwall – wuchs der gordische Knoten um eine Dimension. Religion ist “nur” der Kern, umgeben von wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, historischen und allen anderen Verstrickungen und Konfliktlinien, die man sich so vorstellen kann. Seitdem wundert es mich nicht mehr, daß die Tagesschau vor 15 oder 25 Jahren die teils exakt gleichen Formulierungen wie die aktuelle Ausgabe verwendet, wenn es um “Nahost” geht.

  4. Heike Says:

    Nennt es nicht Klagemauer.
    Nennt es westliche Mauer.
    :)

  5. Penelope Says:

    “dass seit dem 12. Jahrhundert der Schlüssel zur Grabeskirche in der Hand derselben muslimischen Familie ist, die jeden Morgen um 4.30 Uhr aufsperrt und abends um 20 Uhr wieder zu”, das ist ein wirkliches WUNDER!

  6. Kerstin Says:

    Und nennt es nicht Kreuz.
    Nennt es Pfahl…
    Ich will keine religiöse Diskussion anzetteln, sondern nur interessante Fakten erwähnen. Die weit verbreitete Vorstellung, daß Christus gekreuzigt wurde, ist laut der Bibel nämlich nicht richtig.

    Zitat: “Die Entstehungsgeschichte des Kreuzes als christliches Glaubenssymbol ist unklar. Unsicherheit besteht bereits durch das Neue Testament. Die im griechischen Urtext benutzten Wörter staurós, stauróō, anastauróō und xýlon werden im biblischen Kontext zumeist mit „Kreuz“ beziehungsweise „Kreuzigung“ übersetzt. Das Wort staurós hat allerdings nur die Bedeutung „aufrecht stehender Pfahl“ oder „Holzstange“, benutzt v.a. auch im Kontext von Palisaden und hölzernen Unterlagen. Xýlon, das im Neuen Testament öfters als Synonym für staurós auftaucht, wird meist mit „Holz“, „Brennholz“, „Balken“, „Stamm“ oder „Pfosten“ übersetzt.”

    Hier das komplette Link von Wikipedia dazu, oben eingefügte Erklärung findet sich unter Punkt 5:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Kreuz_(Christentum)

  7. Lisa Says:

    Beim Stöbern (präsenile Bettflucht ..) gefunden: Den Klassiker “Jerusalem” von Selma Lagerlöf. Gibt es als urheberrechtsfreie Kindle- Ausgabe hier: http://snipurl.com/2bxw0e
    Ich hab´s noch ncht gelesen, aber scheint zum Thema gut zu passen.

  8. Bettina Says:

    Wenn es Gott wirklich gibt scheint er einen sehr merkwürdigen Humor zu haben…

  9. retro Says:

    Ich glaube, er hat mehr Humor, als ihm allgemein hin zugeschrieben wird – nur glaube ich auch, dass er manche Dinge überhaupt nicht witzig findet.

  10. Rabin Says:

    Und das gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu. Man weiß nicht, soll man den Kopf schütteln oder den schwarzen Humor auspacken. Solche Details erfährt man natürlich nicht in den Nachrichten.

  11. romy Says:

    das Bild mit dem Felsendom: einfach fantastisch. Romy