Neue Heimat 11 b

Mittwoch, 2. November 2011

Nich’ lang schnacken, Koffer packen. Ich bin umgezogen, das Leben ist zu kurz für Lackdämpfe und dafür, bei jedem Foto zehn Minuten zu bibbern, ob es sich ins Blog hochlädt oder ich einen Reset brauche. Vorläufige neue Bleibe: Jupiter International. Erst mal für zwei Tage, dann sehen wir weiter. Es ist ziemlich laut, es hupt munter von der Straße hoch, siehe unten. Aber zumindest kann ich atmen und ins Netz – also gleich doppelt atmen.

Und jetzt erst mal raus auf die Straße, Stadt angucken.

Neue Heimat 11 a

Mittwoch, 2. November 2011

Nachtflug nach Addis – das klingt wie ein Film mit O.W. Fischer und Ruth Leuwerik, aber die Romantik hält sich in Grenzen. Mein Nachbar ist doppelt so breit wie sein Sitz und schläft folglich halb auf meinem. Wann immer ich ihn sanft wegschiebe, wacht er auf, entschuldigt sich wortreich und schläft an meiner Schulter wieder ein. Wir landen um 5.15 Uhr, es ist noch stockdunkel. Das Visum wird in einem kleinen Nebenraum ausgestellt, eine stempelt, eine kassiert (20 Dollar). Die Taxis halten nicht vor dem Flughafen, sondern auf einem in der Nähe liegenden Parkplatz. Kein Taxameter, und natürlich werde ich abgezockt. Mein Guesthouse, Mr Martin’s Cozy Place, ist… sehr einfach. Der Raum ist anscheinend frisch gestrichen, er riecht nach Lackfarbe. Ein schmales Bett, ein Tisch, zwei wacklige Bambusstühle, die einzige Lampe ist eine Neonleuchte an der Decke. Die Elektrik: mit Vorsicht zu genießen. Gemeinschaftsbad auf dem Flur. Draußen auf dem Hof laufen ein paar Katzen und ein paar Hühner herum. Nebenan wird an einem Hochhaus gebaut. Mit Vorschlaghämmern.

Möglicherweise bleibe ich doch nicht den ganzen Monat hier.

Der Morgen danach

Montag, 17. Oktober 2011

Heute morgen gleich noch mal. Ich bin kurz entschlossen über Nacht im Hod Hamidbar in Ein Bokek geblieben, einer relativ lieblosen Spa-Maschine wie anscheinend alle Hotels hier, aber eines der wenigen mit direktem Strandzugang. Man kann direkt aus dem Bett im Bademantel in das andere Bett da draußen.

Es war halb acht, es dümpelten schon ein russisches und ein israelisches Herrenkränzchen in angeregter Unterhaltung mit Morgenzigarre (übrigens: die Leute da oben stehen nicht auf dem Meeresgrund, die stehen senkrecht im Wasser ohne Bodenberührung. Auch das ein sensationelles Gefühl), aber wenn man ein paar Meter weiter hinaustreibt, ist es so, als ob sie nicht da wären. Jeder existiert hier in seiner eigenen kleinen Welt.

Und wieder eine Stunde, in der ich wirklich weg war. Ganz schnell übernimmt das Amphibiengehirn, die Atmung wird tiefer, der Puls langsamer. Man kann quasi zuhören, wie das Metronom immer gelassenere, ruhigere Ausschläge macht.

Alles ist hier wie abgefedert. Das Wasser trägt wie ein Gentleman, der Wind weht mild, durch den hohen Brom- und Magnesiumgehalt der Luft knallt die Sonne nicht so, UVB-Strahlen werden herausgefiltert. Das Tote Meer ist der tiefste Punkt der Erde, 420 Meter unter dem Meeresspiegel, und genau so fühlt es sich hier an: Man lässt sich sinken und wird gehalten, sicher aufgefangen im tiefen Schoß der Erde.

Bei der nächsten Lebenskrise würde ich ab sofort die Koffer packen und eine Woche Totes Meer buchen. Sie sollen mich mit Schlamm einreiben, mit Salz massieren und dreimal am Tag eine Stunde ins Meer schmeißen – und ich bin so gut wie neu.


Im toten Meer

Montag, 17. Oktober 2011

Zuerst muss man einfach nur hell lachen. Unglaublich! Das ist ja… So fühlt sich das also an! Wie ein Korken, so leicht. Man kann auf der Seite liegen, die Knie anziehen, unsinkbaren Blödsinn machen, herrlich! Schnell jemandem mit trockenen Händen die Kamera in die Hand drücken, Beweisfoto machen. Und dann: einfach nur treiben lassen.

Irgendwann verändert sich das Gefühl. Von der juchzenden Kinderfreude zu etwas tief in die Eingeweide, nein: zu Herzen Gehendem. Auf dem Wasser liegen wie auf einem Bett, gewärmt, getragen, geborgen. Nach einiger Zeit den Kopf ablegen und merken: auch der ist getragen. In den Nachmittagshimmel schauen und zusehen, wie er immer dunkelblauer wird. Und zuhören, wie die anderen Badenden immer stiller werden.

In der Dämmerung treiben wir, die wir noch geblieben sind, einfach nur stumm und glücklich in der warmen Lake, die Haut schon jetzt so zart wie nie, das Hirn so leer, das Herz so weit.

Ich war eine Stunde im Toten Meer, wie mir allerdings erst später klar geworden ist. Unter den zehn schönsten Stunden dieses Jahres ist die ganz weit oben.

Blaue Stunde

Donnerstag, 22. September 2011

Es gelingt mir nicht in jeder Stadt, aber in den meisten: ein Hotel in der Nähe meiner Wohnung zu finden, das ich als Zweitwohnsitz nutze. Oder Zweitliegesitz, siehe oben. Gern sehr früh oder eher spät am Tag. In Barcelona ist es das recht defensiv getaufte Grand Hotel Central bei mir um die Ecke. Das Hotel hat einen kleinen Swimmingpool auf dem Dach im siebten Stock mit schönem Blick über den Born – Santa Maria del Mar drei Zentimeter links neben meinem großen Zeh (OPI „Big Apple Red“, Sandalen: Colaba Causeway/Mumbai; haben bis jetzt überlebt, Respekt), dahinter unsichtbar in der Ferne das Meer – und spielt abends zum Sonnenuntergang nettes chilliges Zeug.

Ich habe immer das Prinzip des third place sehr richtig gefunden: einen dritten Ort neben Zuhause und Arbeitsstelle zu haben, eine Art Druckausgleich zwischen dem Einen und dem Anderen (ich erwähnte es schon einmal anlässlich eines Londoner Clubs). Ich in meinem Home Office-Leben brauche also zumindest einen second place. Cafés sind gut, Eckkneipen sind besser, Hotels sind am besten; keine Ahnung, warum. Vielleicht weil man hier im Notfall sogar ein Bett finden würde. Dieser Notfall tritt natürlich nie ein, aber allein die Idee beruhigt.

Grand Hotel Central, Via Laietana, 30.

Neue Heimat 9

Mittwoch, 31. August 2011

Eine Gasse im Born, in die ich mich nie trauen würde, wenn ich hier nicht wohnen würde. Drei enge, steile Treppen hoch – und dann eine frische Brise Weiß, die 28 Grad Barcelona sofort auf angenehme 22 Grad herunterkühlen. El Born ist neben dem Barrio Gótico das Altstadtviertel von Barcelona, 10 Minuten von den Ramblas und 10 Minuten vom Strand entfernt, fünf Minuten vom Picasso-Museum und drei Minuten vom Markt. Die bisherigen Monate haben mich gelehrt: Die Entfernung zum Markt ist die bei weitem wichtigste. Wie oft geht man schon ins Museum? Wie oft hingegen braucht man einen frischen Mangosaft oder ein Viertelpfund Serrano-Schinken? Richtig.

Was mich nahtlos zu einer VMDW-Tradition bringt: das erste Mahl im neuen Heim. Serrano-Schinken, natürlich, von einem dicken kahlköpfigen Katalanen abgeschnitten, der mein neuer bester Freund für die nächsten vier Wochen wird. Dazu Honigmelone, dickes Pa d’Olives (an Katalanisch muss ich mich erst noch gewöhnen, nachdem ich mir in Buenos Aires einen Porteño-Akzent zugelegt habe) und eine Flasche Cava. Eine. Flasche. Cava. Nur für mich. Denn hey, dies ist der Monat, in dem gelebt wird; die protestantische Arbeitsethik habe ich in Kopenhagen hinter mich gebracht.

Zurück II

Dienstag, 2. August 2011

Und weil es so merkwürdig ist, dass mich heute lauter Dinge erreichen, die schon Monate hinter mir liegen: eine Geschichte, die aus einem Interview entstanden ist, das ich der China Daily von Honolulu aus gegeben habe.

Neue Heimat 7 1/2

Montag, 11. Juli 2011

Aus der Serie „Dolle Häuser, die dringend noch von mir bewohnt werden wollen“ habe ich mir für die nächsten Tage dieses hier ausgesucht:

Es steht in Suffolk, innen ist es auch ganz nett – allerdings könnte das Internet ein bisschen shaky sein. Wenn ich also nichts von mir hören lasse, ist entweder das Netz abgestürzt oder das Haus.

Body & Soul

Dienstag, 21. Juni 2011

Also – was macht man an einem Tag, an dem man alles machen kann, wenn er in einem Jahr liegt, in dem man alles machen kann? (Und, wenn man mal darüber nachdenkt: in einem Leben, in dem man alles machen kann.) Weil mein Geburtstag auf einen Sonntag fiel, wollte ich ihn klassisch beginnen lassen: in der Kirche. Allerdings in einer nicht so klassischen Kirche: der St. John Coltrane African Orthodox Church in der Fillmore Street (danke, Hollow, altes Haus, für den Tipp), die den großen Jazzsaxophonisten John Coltrane als Heiligen verehren. Der sonntägliche Gottesdienst – ich durfte nicht fotografieren, aber die New York Times war 2007 mal da und hat Bilder gemacht – ist deshalb auch mehr Jam Session als tonloses Gebetsgemurmel. Die Gemeinde bekommt Tambourine und Rasseln in die Hand gedrückt, der Mann neben mir packt seine Posaune aus, und vorn neben der Kanzel spielen die Ministers of Sound: Archbishop Franzo King in seiner schönen lila Soutane am Tenorsaxofon, Reverend Wanika King Stephens, die Pastorin, am Bass, Brother Frederick Harris am Schlagzeug und Mother Marina King and the Sisters of Compassion singen, andere Mitspieler kommen und gehen. „This is not entertainment“, sagt die Pastorin zu Beginn, und in der Tat, es ist einer der innigsten Gottesdienste, die ich je erlebt habe, inklusive einer tränentreibend schönen zwanzigminütigen Version von Coltranes tiefspirituellem „A Love Supreme“, so ekstatisch wie das Original. Jazz kriecht immer wieder in die zweistündige Veranstaltung hinein. Während der Predigt, in der es um die geistliche Erneuerung geht und die Notwendigkeit, jeden Tag ein wenig zu sterben, um das alte Leben abzulegen, improvisiert der Pianist ein bisschen auf Coltranes Klassiker „Everytime we say goodbye“ herum, und die Jazz-Liebhaber im Publikum grinsen. Denn das Lied geht so weiter, wie Ella hier singt: „Everytime we say goodbye I die a little“.

St. John Coltrane Church, 1286 Fillmore Street, Gottesdienst Sonntag um 11.45 Uhr

Die Seele war also gut genährt, jetzt ist der Leib dran. Ich hatte einen Tisch im Sutro’s reserviert, einem Restaurant im alten Cliff House am Ocean Beach. Die Sutro Baths, 1896 eingeweiht und 1966 nach einem Brand geschlossen, waren mal das größte Schwimmbad der Welt, mit einem Süßwasser- und sechs Salzwasserpools (mit unterschiedlichen Temperaturen). Das Bad war damals eine technische Sensation, darüber gibt es sogar noch einen reizenden alten Filmschnipsel, den Thomas Alva Edison persönlich gedreht hat. Heute: eine Ruine, nur das Cliff House steht noch, wenngleich in seiner X-ten Reinkarnation.

Wie immer: ein Logenplatz für die Alleinesserin, direkt am Fenster zum Ozean. Und weil ich meinen Tischnachbarn gegenüber erwähne, dass ich Geburtstag habe, bringt der Kellner, der gut zugehört hat, am Ende ein Butterscotch Pot de Crème mit einer Kerze. Mir wird nichts mangeln.

Plus dieser Blick, zum Besoffenwerden.

Bis hierhin also schon mal ganz gut. Aber jetzt. Was ich bislang noch nicht geschafft habe, wird heute unvermeidlich: Um nach Sonoma zu kommen, ins wine country, muss ich über die Brücke. Die Brücke.

Es war mindestens ein solcher Halleluja-Moment wie am Morgen in der Kirche. Es ist bestimmt keine gute Idee, mit Tränen in den Augen und dazu durch die Windschutzscheibe fotografierend über die Golden Gate Bridge zu fahren, aber St. John Coltrane oder sonstwer war bei mir. Woran liegt es nur, dass mich Bauwerke so rühren? Ist es die Arbeit, die Tapferkeit, der Wahnsinn, die Beharrlichkeit, die immer darin stecken? Ich erinnere mich an eine Geschichte, die uns beim Besteigen der Harbour Bridge in Sydney erzählt wurde (mein Gott, vor einem halben Jahr…): wie die Arbeiter, auf schmalen Streben hoch über dem Wasser balancierend, die glühenden Niete, die ihnen über mehrere Meter Entfernung zugeworfen wurden, mit einem Eimer auffingen. Sechs Millionen Niete. Unvorstellbar, diese Arbeit. Von der Golden Gate Bridge gibt es die schöne Story, dass der letzte Niet aus puren Gold war und unter gewaltigem Presserummel eingeschlagen wurde. Nur hielt er, da Gold sehr weich ist, die starke Erhitzung nicht aus, löste sich und fiel ins Wasser. Und ward nie mehr gefunden.

Weiter, nach Sonoma. Sonoma gilt als das unschickere, unangestrengtere der beiden Weintäler nördlich von San Francisco. Also das richtige für mich. Die Fahrt dorthin: zu meiner Lieblingstageszeit, dem späten Nachmittag. In diesem faulen goldenen (nietenfarbenen) Licht, das sagt: Jetzt ist der Tag schon fast vorbei, jetzt kannst du langsam loslassen. Aber genieß dennoch die Wärme, jede Minute davon (Doktor Freud, jetzt Sie mal wieder…). Meine Reservierung im Gaige House Inn war durchs System gerutscht, trotzdem hatten sie ein Zimmer für mich. Ein großes, schönes, trotzdem billiges. „Why don’t we give her the king room?“ Yeah, why don’t you.

Glen Ellen ist der wahrscheinlich verschlafenste Ort im Sonoma Valley. Deshalb stehen Körbe mit Taschenlampen bereit für diejenigen, die abends zum Essen hinausgehen. Denn Straßenbeleuchtung: Pustekuchen. Wenn man zurückkehrt, steht dafür eine Schale mit noch warmen, frischgebackenen Keksen im Gaige House bereit. Geradezu leuchtend.

Gaige House, 13540 Arnold Drive, Glen Ellen, CA 95442

Aber vorher: ein weiterer der vielen Zufälle dieser Reise, die ich inzwischen für fast selbstverständlich halte. Die nette Rezeptionistin empfiehlt zum Abendessen das benachbarte Fig Café. Ich ziehe also mit meiner Taschenlampe los, lasse mich gern an die Bar setzen, bestelle und gucke mich um. Neben mir: eine Frau, die ebenfalls allein isst. Natürlich reden wir. Stellt sich heraus: Birgitta aus Hannover, wohnt seit 16 Jahren in San Francisco, arbeitet bei IBM, pingpongt als Softwareentwicklerin durchs ganze Land. Und. Hat. Heute. Auch. Geburtstag. Also bitte! Ich lache nur. Wie gesagt: MIr sind in diesem Jahr schon so viele Wunder begegnet, dass ich fast schon mit ihnen rechne.

Ein guter Tag, ja? Ein perfekter Tag, würde ich sagen. Halb geplant, halb eben gerade nicht. Und wieder mal sind die ungeplanten Momente so unendlich viel gelungener.

Und deshalb, weil dies so ein Jazztag war, das Motto des Tages, gespielt von Miles Davis und John Coltrane: So what. Coltrane steigt mit seinem Solo bei Minute 2:00 ein. Und circa 30 Sekunden später sieht man Miles Davis eine Zigarette rauchen, wohl wissend, dass es etwas dauern könnte.


Che sera

Freitag, 17. Juni 2011

Von Carmel wusste ich vorher nur, dass Clint Eastwood in den späten Achtzigern hier mal Bürgermeister war. Er war angetreten, weil er sich über die Stadtverwaltung geärgert hatte, wurde mit 72 Prozent der Stimmen gewählt und hat es zwei Jahre lang durchgezogen. Als er dann aber wieder mal über den Neigungswinkel eines Garagendachs entscheiden musste, beschloss er, dass das Leben zu kurz sei für so was.

Das Örtchen ist auf geradezu alberne Weise niedlich. Lauter Hutzelhäuschen, darin nette Bistros und Galerien. Davor: einer der schönsten Strände der Küste.

Und ein neues Heim für zwei Nächte: das Cypress Inn, ein ebenfalls niedliches kleines Landhotel, das Doris Day gehört. Doch, die lebt noch. Natürlich steht sie nicht hinter dem Tresen mit ihren 87, aber sie steuert zumindest den Soundtrack in der Bar bei. Vorbildlich und ungemein stilvoll: Auf jedem Zimmer steht eine Karaffe mit kostenlosem Sherry. Passend zum Gaskamin.

Cypress Inn, Lincoln & 7th St, Carmel-by-the-sea