Yad Vashem
„Jetzt warst du in soviel unterschiedlichen Kulturen, anderen Ländern, im fernen Asien und Bonbon-Honolulu, hast dich in den schrägsten Sachen ausprobiert und bist in bunte neue Welten abgetaucht, aber erstmals, nach dieser langen Zeit (auch wenn es dir vielleicht vorkommt wie ein Lidschlag), erstmals habe ich das Gefühl, jetzt wo du in Jerusalem bist, dass du in der Fremde bist“, schrieb mir heute jemand. Und konnte da noch gar nicht wissen, wie recht er hat: denn heute war ich in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte. Tatsächlich, erstmals hatte auch ich das Gefühl, in der Fremde zu sein: angekommen in meinem eigenen Land vor 70 Jahren .
Yad Vashem ist nicht nur die hinlänglich aus den Nachrichten bekannte Kranzabwurfstelle, sondern ein kluges, nämlich fast sachliches Museum über die Judenvernichtung im Nationalsozialismus. Es erzählt Geschichten, nicht Geschichte. Es versucht, die Opfer nicht ein zweites Mal zu begraben – unter grauenhafen Statistiken und unfassbaren Zahlen –, sondern sie sichtbar zu machen. Wochenschaudokumente, Fotos, Film-Interviews mit Überlebenden, Fundstücke, Briefe, Tagebücher, moderiert von einem ganz unpathetischen Audioguide, machen diesen Ort so unentrinnbar. Man geht über das Original-Straßenpflaster des Warschauer Ghettos, steigt über die Eisenbahnschienen von Auschwitz, und alles wird entsetzlich präsent. Geschichte, das sind die Lügen der Sieger, las ich neulich im neuen Roman von Julian Barnes. Yad Vashem widerlegt geduldig jeden Versuch einer Lüge mit Dokumenten und noch mehr Dokumenten.
Schon gleich zu Beginn der Ausstellung war es um meine Fassung geschehen: In einer Vitrine lagen angekokelte Fotos aus den Taschen von Gefangenen des estnischen KZ Klooga. Beim Anrücken der Roten Armee wurden die etwa 2000 Insassen erschossen, vorher mussten sie sich auf Holzscheite legen, die anschließend angezündet wurden, um alle Spuren zu tilgen. Die Russen waren schneller da als gedacht, das Feuer hatte noch nicht alle Leichen erfasst. Und auch nicht alle Fotos. Ein Bild zeigt vier lachende Jungs in Badehosen, eines einen ernsten jungen Mann und eine ernste junge Frau beim gemeinsamen Kreuzworträtsellösen. Welche Erinnerungen mit diesen Fotos verbunden waren und warum sie wichtig genug für ihre Besitzer waren, um sie mit ins KZ zu nehmen, darum geht es in Yad Vashem. Immer wieder werden Einzelschicksale aus der Namenlosigkeit ans Licht geholt. Keines davon soll exemplarisch sein, jedes einfach nur – ein Leben.
Yad Vashem, Har Hazikaron, Jerusalem
Oktober 25th, 2011 at 21:31
es ist spät. Ich bin sehr müde. Und trotzdem berührt mich Ihr Post zutiefst.
Danke, liebe Meike.
Oktober 25th, 2011 at 22:20
Ich weiss noch, dass mich die Stelle mit den Schuhen getroffen hat wie ein Hammerschlag…und das obwohl ich wusste, dass die dort sein werden….und die Allee der Gerechten hat mich sehr berührt, weil dort jeder gleichberechtigt nebeneinander steht.
Ein Besuch, an dem man noch lange zu arbeiten hat.
Oktober 25th, 2011 at 22:37
Menschen nicht begraben, sondern sichtbar machen – so muss ein Museum sein! An so einem Ort fühlt man sich nicht von Zahlen erschlagen, sondern von Seelen berührt.
Oktober 25th, 2011 at 23:46
Sichtbar und hörbar – die dunkle Halle in der die Namen ertönen.
Mein Gott.
?
Die Erinnerung daran berührt mich noch jetzt zutiefst. Nach 25 Jahren.
Oktober 26th, 2011 at 04:01
http://www.yadvashem.org/wps/portal/IY_HON_Welcome
Unter dieser Adresse befindet sich “Die Zentrale Datenbank der Shoah Victims ‘Names”.
Oktober 26th, 2011 at 04:48
Geschichtsschreibung als “Lügen der Sieger” – das trifft oft zu, denke ich. Ihr Erlebnis spiegelt die Konfrontation mit einer furchtbaren Wahrheit wieder und Ihre Schilderung treibt mir die Tränen in die Augen. Seit ich im Geschichtsunterricht vom Holocaust erfahren habe, frage ich mich:
W i e k o n n t e d a s g e s c h e h e n ?
Habe bis heute keine Antwort gefunden, nicht ansatzweise. Am meisten begriffen habe ich noch durch die Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer.
Vor unserem Haus befinden sich einige “Stolpersteine”. Kleine Messingsteine, die ins Pflaster eingesetzt sind und auf denen die Namen und Lebensdaten ermordeter Juden festgehalten sind, die vor ihrer Deportation im Haus gewohnt haben. Ich stehe oft davor, lese die Namen und denke an diese Menschen. Stelle mir vor, wie sie, genau wie ich heute, mit Einkäufen nachhause gekommen sind, Essen gekocht haben, Besuch empfangen haben, sich gestritten und liebgehabt haben in diesem Haus. Oder ich liege frühmorgens, wenn es hell wird, im Bett und habe den Gedanken: damals war hier plötzlich die Gestapo im Haus. In diesem Treppenhaus! Sie haben an die Tür gehämmert, vielleicht an die Tür, die jetzt meine ist. Und eine Familie, eine ganz normale Familie, aus ihrer Wohnung geprügelt, um sie zu deportieren und umzubringen.
Einfach unfassbar.
Oktober 26th, 2011 at 05:39
Diese Messingsteine gibt es auch bei uns. Einen jedenfalls. Ich sehe ihn jeden Tag, wenn ich aus dem Bus aussteige und rüber zur Arbeit gehe. Das heißt, ich würde ihn sehen. Wenn ich immer bewusst daran denken würde. Irgendwie ist es doch ‘nur’ ein Messingstein. :/
Dieser Artikel ist so bedrückend. Aber gut, dass er geschrieben ist. Bringt es mir wieder etwas näher, dass es um Menschen geht und nicht nur umm Zahlen.
Oktober 26th, 2011 at 08:28
Mit 16 in Yad Vashem hab ich mich an einen stillen Ort im Park gesetzt und erstmal Tränen laufen lassen. Danach ging es auf den Basar in die Altstadt: Was für ein Gegensatz!
Oktober 26th, 2011 at 08:36
@kristiane
sehr ergreifend, wenn ein mensch so einfühlsam ist..und sich, wie du, solche gedanken macht…
finde ich sehr beeindruckend
toll!
lg
nico
Oktober 26th, 2011 at 08:43
@Meike: Danke!
@Rosi: Danke für den Link!
Sprachlos.
Oktober 26th, 2011 at 08:53
DANKE für Ihren so einfühlsamen Bericht! Damit werden Sie den Opfern gerecht! Beim Lesen packte mich einmal mehr das Entsetzen, was vor gar nicht so vielen Jahren geschehen ist.
@ Kristiane: Solche Gedanken bewegen mich auch immer wieder.
Oktober 26th, 2011 at 11:12
Ich kann es immer wieder nicht fassen, was “Menschen” so alles machen!
Aber leider ist das alles nicht nur Vergangenheit, sondern leider auch bittere Realität von heute!
Und noch dazu oft im Namen von Religion, was ich noch abstoßender finde.
Leider ändern sich die Menschen nicht.
Oktober 26th, 2011 at 13:41
Aber bei all dem Grauen und der Schuld, die man manchmal als “Nachgeborener” spürt, die Juden sind uns nicht mehr böse! Sie bezeichnen Deutschland als einen ihrer besten Freunde in Europa. Und ein Orthodoxer Jude hat mir noch nachgerufen, nachdem er erfahren hatte, daß ich Deutsche bin: “Grüßen Sie mir die Fr. Merkel! Und den Herrn Schröder! Und Herrn Köhler und Herrn Fischer!”. Als ich mich nochmal umdrehte, schüttelte er seine ineinandergelegten Hände und rief:” Israel und Deutschland sind so….” Ich war froh, eine Sonnenbrille zu tragen…
Und Israel braucht Freunde! Die Hamas hat nach der Freilassung von über 1000 palästinensischen Gefangenen gegen Gilat Shalit (israel. Soldat) angekündigt, sie werde weitere Soldaten und Siedler entführen, damit die restlichen palestinens. Gefangenen auch noch freigepresst werden können….
Oktober 26th, 2011 at 14:31
@Kristiane, danke für Ihre Gedanken. Leider sind die ” Stolpersteine ” in München unerwünscht.
Juta
Oktober 26th, 2011 at 14:50
Oh Meike,
mal wieder ist es Dir gelungen, genau die richtigen Worte zu finden!
Nachdenkliche Grüsse aus BCN schickt sehr herzlich
Maike
Oktober 26th, 2011 at 15:52
liebe meike winnemuth,
waren sie schon in mea shearim? um es mal ganz platt zu sagen: sie kommen aus dem gucken nicht mehr heraus!
im herbst ist das laubhüttenfest (sukkot). hier sind sehr eindrucksvolle bilder der ultra-orthodoxen zu sehen.
http://www.boston.com/bigpicture/2011/10/sukkot_a_celebration.html
rosi
Oktober 26th, 2011 at 16:38
@Rosi: nein, leider nicht. Ich bin inzwischen auch wieder in Tel Aviv. Danke für die Bilder! Sukkot ist schon letzten Donnerstag zu Ende gegangen.
Oktober 26th, 2011 at 17:33
@ Juta / @ Kristiane:
„..da der muenchner stadtrat die verlegung (von „STOLPERSTEINEN“) auf oeffentlichem (staedtischen) grund untersagt hat, konnten in muenchen bislang nur wenige STOLPERSTEINE verlegt werden – AUF PRIVATGRUND !.. ueber 150 von buergern gestiftete stolpersteine wurden angefertigt aber NOCH NICHT verlegt; TEILWEISE SIND DIESE IN OEFFENTLICHEN GEBAEUDEN AUSGESTELLT…..“
es existiert eine sehr AKTIVE *initiative* in der bayrischen landeshauptstadt – hier der kontakt:
initiative @ stolpersteine – muenchen . de
stolpersteine münchen bei facebook
initiative stolpersteine für münchen e.v. terry swartzberg ruhestraße 3
D- 81541 münchen tel. +49 (0)89. 48 95 19 10 fax +49 (0)89. 48 95 19 11
Oktober 26th, 2011 at 17:38
Claus, worin kennen Sie sich n i c h t aus? Bin immer wieder verblüfft über Sie, natürlich im positiven Sinne. Danke für die Infos bezüglich der Stolpersteine.
Oktober 26th, 2011 at 20:33
Hallo Meike,
mich hat in Yad Vashem das “Kinderhaus” auch sehr beeindruckt und die Tränen fließen lassen. Ein hoher, runder Bau mit Fotos an den Wänden und eine monotone Stimme sagt nur die Namen und das Alter. Gänsehaut pur.
Ich finde die Museen und Gedenkstätten in Israel fast alle sehr gelungen und auf einem ziemlich hohen Niveau. Das muss so ein kleines Land auch erstmal wuppen. Vor allem wenn die Interessen auseinandergehen und das Misstrauen so gross ist.
Weiterhin noch eine gute Zeit in Israel
Viele Grüße, Sabine
Oktober 26th, 2011 at 21:13
ebenfalls sprachlos und tränenreich..
Als Jugendliche habe ich mich an einem Projekt beteiligt zum Thema NS Zeit in Ulm.
Jahre später wurde ein Dokumentationszentrum daraus: http://dzokulm.telebus.de/index1.html
So bleibt die Erinnerung nah und die Menschen werden nicht vergessen..
Oktober 26th, 2011 at 22:17
Ich war noch nicht in Israel. Aber die Gedenkstätte in Berlin und der Raum der Namen haben mich vor Jahren tief beeindruckt und mich zu Tränen gerührt.
Und zum Glück stolpert man in Köln immer wieder über die Stolpersteine (auch wenn das Finanzamt sie nicht als Kunst anerkennen wollte, aber das ist eine andere Geschichte).
Danke liebe Meike für die vielen Momente und Eindrücke, die wir mit dir teilen dürfen.
Oktober 27th, 2011 at 10:27
Es muss ein unbeschreibliches Gefühl im Wortsinn sein. Wie kriegt man das in Worte? Eigentlich gar nicht so richtig. Man muss selber hin. Dennoch danke für die Beschreibung. Sie erinnert mich an meine eigenen Empfindungen, als ich Auschwitz besuchte.
Oktober 28th, 2011 at 16:28
Hier in Tel Aviv lese. Ich von diesem mir bekannten Ort und bin so beeindruckt wie tief und anrührend du darüber geschrieben hat. Das nun schon vorab bevor wir dich gleich in der so zeitgenössischen Stadt sehen werden.
Oktober 30th, 2011 at 07:34
Hallo Meike, schön geschrieben haben die Zeilen mir doch die vor einigen Jahren besuchte Gedenkstätte wieder spürbar nahe gebracht. Danke
cu Andreas
Oktober 30th, 2011 at 21:22
In München wurden Stolpersteine, anders als in Köln, nicht genehmigt. Finde ich nicht richtig, denn sie lassen einen innehalten.
Grüße aus München,
Katja