Kolonialschlampen-Tag
Dies ist ein Dankesbrief an zwei wunderbare Menschen, Meike und Ingo Becker, denen ich wahnsinnig viel Spaß und ein gerüttelt Maß an Einsichten in das Addis-Leben verdanke. Sie leben seit fünf Jahren hier, Ingo hat eine Professur am Ethiopian Institute of Architecture, Building Technology and City Development und war für ein GTZ-Programm zum Bau von 15 Universitäten hierher gekommen, eines der größten deutschen Entwicklungshilfeprojekte in Äthiopien. Ihre Kinder, 18 und 14, gehen auf die Deutsche Schule, Meike hat bis vor kurzem am Filmprojekt von Brigitte Maria Mayer mitgearbeitet.
Wir hatten schon zwei sehr lustige Abende miteinander verbracht, doch gestern sind wir den ganzen Tag durch die Stadt gefahren. In der Uni zeigte Ingo mir ein Projekt zum Bau von Flüchtlingsunterkünften: Häuser aus Gabionen, mit Steinen gefüllten Drahtkörben, und begrünbaren Bambusdächern, billiger und unendlich viel langlebiger als die vom UNHCR aufgestellten Zelte. Was mir nicht klar war: Diese Camps sind selten Provisorien, viele Flüchtlinge leben bis zu 20 Jahren dort.
Wir drehen eine „Kolonialschlampen“-Runde, wie Ingo das sarkastisch nennt. Durch das riesige Gelände der deutschen Botschaft, zur bestens ausgerüsteten Deutschen Schule, zum Lunch ins pompöse Sheraton (oben), dessen Gäste am Pool durch hohe Zäune mit Landschaftsmalereien von der bösen Welt da draußen verschont bleiben, in eine trostlose gated community außerhalb der Stadt, wo NGO-Mitarbeiter und einige wenige reiche Äthiopier abgeschirmt zu überteuerten Mieten in Luxushäusern wohnen.
Wir fahren zur Seidenweberei Sabahar, einem der vielen kleinen Projekte, die hier blühen: hinreißende handgewebte Rohseide- und Baumwollschals in warmen Naturtönen. Ich kaufe ein Tuch, Meike (die andere) kauft ein paar der wunderschönen Handtücher von From the hands of Ethiopia, einem Projekt, das der Hamburger Weber Andreas Möller in Bahir Dar angestoßen hat.
Wir fahren über die Ring Road, eine neue Umgehungs-Schnellstraße, über die Leute rennen und die immer noch, unfassbar, per Hand gefegt wird. Wir fahren hinaus aus der Stadt, vorbei an Wasserstellen, um die sich Frauen mit riesigen Kanister drängen, über Schotterpisten zu den Neubaugebieten, die hier im Nirgendwo auftauchen wie Geisterstädte. Hastig hochgezogen, völlig unerschlossen, nur mit raren, überfüllten Sammeltaxis erreichbar. Die Stadt wächst in einem atemberaubenden Tempo. Bis jetzt gibt es noch kaum eine städteplanerische Idee, mit der Bevölkerungsexplosion umzugehen. Die begehrten Innenstadtlagen werden ausländischen, meist chinesischen, Investoren überlassen, die in irrer Geschwindigkeit Gebäude hochziehen, die nach zwei Jahren schon wieder verfallen.
Abends sitzen wir wieder im urgemütlichen alten Haus der Beckers, durch dessen Garten zwei Hunde, zwei riesige Schildkröten, eine Ziegenherde und eine Hühnerschar laufen (der Esel wurde kürzlich umquartiert, er hielt sich anscheinend für einen Hund und kam immer wieder ins Haus gewandert). Wir gucken Fotos von ihren Reisen durchs Land, atemberaubend schöne und herzzerreißend traurige Bilder, die meine Frage, was sie hier hält, schon von ganz allein beantworten. Die beiden sagen mir das, was mir schon andere in Addis gesagt haben: Die Arbeit, das Leben hier macht einfach mehr Sinn als zuhause. Es ist frustrierender, aber eben auch ungleich befriedigender als in Deutschland. Die Erfahrung, einen spürbaren Unterschied im Leben anderer zu machen, etwas auszurichten und zu verändern, einen wirklichen Lebenszweck zu erfüllen, das ist es am Ende, was zählt. Was bleibt und was sie bleiben lässt.
November 13th, 2011 at 12:58
Hallo,
erleichtert sich auf dem einen Foto der junge Mann in grün?
November 13th, 2011 at 12:59
Liebe Meike,
ich denke es ist die Zeit gekommen, dass ich Ihnen auch einmal schreibe! Seit Monaten nun lese ich Ihren Blog und liebe ihn. Man hat das Gefühl, man könne durch Sie ‘mit’verreisen, auch wenn man selbst in Deutschland ‘festsitzt’. Ich bedanke mich dafür!!
November 13th, 2011 at 13:21
Ein wunderbarer letzter Satz :,-)
November 13th, 2011 at 13:38
Schön, die Sachen, die es bei Andreas Möller gibt. Werde dort meine Weihnachtsgeschenke kaufen. Danke für den Tipp.
November 13th, 2011 at 13:45
Liebe Meike,
zu der Begründung, warum Leute in Addis bleiben, fiel mir ein Text ein, den wir kürzlich als Impuls in unser Teamtreffen im RdS gegeben haben:
Erfolg im Leben zu haben bedeutet:
Viel zu lachen,
die Liebe von Kindern zu gewinnen,
den Verrat falscher Freunde zu ertragen,
die Welt zu einem ein klein wenig besseren Ort zu machen, als sie es war, bevor wir in sie hineingeboren wurden,
die gesellschaftlichen Verhältnisse in irgendeiner Beziehung zu verbessern,
oder einem Menschen zu helfen, gesünder zu werden,
zu wissen, dass ein Leben leichter atmet, seit du lebst,
das ist Erfolg!
(Ralph Waldo Emerson)
November 13th, 2011 at 14:25
Der Begriff NGO und überteuerte Mieten kommt mir irgendwie komisch vor…
November 13th, 2011 at 16:24
@Kristiane: Hab ich da was überlesen?! Welche schönen Sachen gibts bei Andreas Möller, bitte?
November 13th, 2011 at 19:48
Diese weiße Puscheldecke mit den Wellenlinien zum Beispiel! Die find ich traumhaft.
November 13th, 2011 at 22:12
@Farbenfreundin: Oben im Text ist im Absatz nach dem dritten Foto die Seite von Herrn Möller verlinkt.
November 13th, 2011 at 22:12
http://www.moeller-hamburg.com/c/Ethiopia
November 13th, 2011 at 22:57
… und wenn man dann dem link zu Herrn Möller´s Seite gefolgt ist, findet man dort ein Youtube-video “From the hands of Ethiopia”, welches mich sehr berührt hat.
Und wenn man auf Herrn Möller´s Seite oben rechts die “Schals” anklickt, findet man dort die drei weltbesten Schalknoten inclusive Video-Anleitung.
Überhaupt ist es eine sehr schöne Website, die helfen hilft.
Vielen Dank, liebe Meike, daß Sie mir mit gerade diesem Link helfen zu Helfen.