Unter die Räder geraten

37 Prozent der Kopenhagener fahren mit dem Fahrrad zur Arbeit, die Stadtverwaltung will diese Zahl bis 2015 auf 50 Prozent erhöhen und baut dafür 26 Fahrrad-Superhighways, vor allem in den Vorstädten. Schon jetzt hat die Stadt eines der besten Radnetze der Welt – und einige Albernheiten, mit denen Radler bepuschelt werden: Fußbänkchen an großen Kreuzungen, so dass man nicht mehr absteigen muss, und geneigte Mülleimer, in die man seinen Müll quasi im Vorbeifahren entsorgen kann.

Das Programm, Kopenhagen zur Weltfahrradhauptstadt zu machen, ist so erfolgreich, dass sich jetzt neue Probleme ergeben: wo parkt man die Dinger? Rund um die großen S-Bahnstationen wie Nørreport stapeln sich die Räder, Ständer werden bereits doppelstöckig gebaut, sogenannte Fahrrad-Butler versuchen, halbwegs für Ordnung zu sorgen, und die Verwaltung denkt über Knöllchen für wildgeparkte Räder nach: Offenkundige Schrotträder könnten einkassiert und erst gegen Zahlung wieder freigegeben werden. Noch gibt es keine Meldepflicht für Räder, aber kürzlich hat ein Ingenieur den Prototyp einer Parkscheibe für Fahrräder vorgestellt: Man müsste den Tag eingeben, an dem man sein Rad abstellt, und das mit einem Schlüssel sichern. Wenn das Datum länger als 30 Tage zurück liegt, dürfte die Polizei das Rad entfernen. Kaum vorstellbar, dass das durchgesetzt wird, aber irgendwas Schlaues müssen sie sich bald einfallen lassen – die Fahrradpolitik ist einfach zu erfolgreich.

Abgefahren

In meinem Reisebudget steckt eine bislang unangetastete Summe für besondere Ausgaben. Unangetastet bis heute nachmittag. Denn nachdem ich gestern schon sabbernd um den Laden von Søren Sögreni herumgeschlichen bin, war ich heute reif. Zu Beginn der Reise hatte ich mal den Plan, mir während meines Londoner Monats einen Anzug in der Savile Row maßschneidern zu lassen, ein alter Traum. Ich hab’s gelassen, weil ich mir im Lauf des Jahres ein paar Kilo angefressen habe – macht derzeit wenig Sinn, sich auf diesen Leib was schneidern zu lassen. Some other time. Stattdessen: Plan B. Ein maßgeschneidertes Rad erträgt jede Gewichtsfluktuation.

Ebenso wie in der Savile Row beginnt alles mit dem Vermessen. Die Beinlänge wird ermittelt, der Rahmen ausgewählt, Reifenstärke, Anzahl der Gänge. Søren, der seinen Laden vor 30 Jahren gegründet hat (hier ist seine Geschichte) setzt sich mit mir eine Stunde an den Tisch, springt zwischendrin auf, um Materialproben zu holen, scheucht mich vor die Tür zu einer Probefahrt auf seinem eigenen Rad, weil wir in etwa eine Beinlänge haben, rät ab von neun Gängen („brauchst du nicht“), debattiert das Für und Wider der wahnsinnig schönen Holzschutzbleche. Ergebnis: ein Rad mit Unisex-Rahmen in dunkelblau matt mit honigfarbenem Brooks-Sattel und Ledergriffen, mit Kupferblechen und Kupferklingel, die bald aufs Schönste matt patinieren werden (ich: „Kriegen die grüne Patina wie Kirchendächer?“ Søren: „Nur wenn ich drauf pinkle“), mit drei Gängen von Sachs („Shimano ist Mist, das ist das Microsoft der Gangschaltungen“) und mit einem hohen Lenker, denn ich sitze gern gerade auf dem Rad. Die bauen das jetzt in aller Ruhe und nächstes Jahr hole ich es ab. Es wird das schönste Rad der Welt.

Und wie es der glückliche Zufall will, ist Søren Kuba-Spezialist. Er war schon oft dort, er wird Anfang nächsten Jahres mehrere Radtouren über die Insel führen und er wird mich vorher mit jeder Menge Geheimtipps versorgen für meinen Havanna-Monat. Es war ein sehr glücklicher Nachmittag.


Sögreni of Copenhagen, Sankt Peders Stræde 30A, 1453 København K

Søndag

Eltern weg, ältester Freund da (36 Jahre, Michi!), Alberheitsquotient hoch. Und ein paar letzte touristische To Dos abgehakt: Nasen plattgedrückt am Laden der Fahrradmanufaktur Sögreni und beschlossen, mir nächstes Jahr endlich mal ein richtig, richtig schönes Rad zu kaufen. Und dann den Schneckenaufgang des Rundetårn hochgelaufen.

Der Turm ist ein schönes Beispiel für die Pragmatik der Dänen: eine Mischung aus Observatorium, Universitätsbibliothek und Kirchturm. Selbst der Glockenboden wurde kreativ genutzt: zum Wäschetrocknen, Kräutertrocknen, zur Aufbewahrung von Rindsleder und zum Bemalen von Theaterkulissen.

Außen am Turm: ein Bilderrätsel, ersonnen vom Bauherrn Christian IV. Besonders gut gefällt mir das Fragezeichen mit den zwei Punkten. Wäre es übrigens nicht langsam mal Zeit für ein paar neue Satzzeichen? Dieses Fragezeichen zum Beispiel: perfekt für rhetorische Fragen. Ein umgedrehtes Ausrufezeichen: Ich bin zwar laut, aber ich meine es gar nicht so.

Ich hatte eine Farm in Afrika

„Ich hatte einen alten hölzernen Wandschirm, bemalt mit Figuren von Chinesen, Sultanen und Negern mit Hunden an der Leine. Er hatte seinen Platz am Kamin. Abends, wenn das Feuer hell brannte, traten die Gestalten hervor und dienten als Bilder zu Geschichten, die ich Denys erzählte. Ich schaute ihn lange an, klappte ihn zusammen und legte ihn in eine Kiste; da mochten die Gestalten sich vorerst einmal ausruhen.“

Aus dem Kapitel „Abschied von der Farm“ aus Afrika, dunkel lockende Welt. In der Übersetzung von Rudolf von Scholz

Den Paravent, von dem hier die Rede ist, findet man heute in Karen Blixens Haus in Rungsted, und wenn man davor steht, glaubt man kurz, endlich am Boden all der Sedimentschichten angekommen sind, die sich über ihr Leben gelegt haben. Die oberste, weltberühmte sind die Bilder aus „Jenseits von Afrika“: Meryl Streep als Karen Blixen, Robert Redford als Denys Finch Hatton, Kenia als Afrika, Publikumsseufzer als Soundtrack. Die Haarwaschszene! Die Beerdigungsszene! Es war alles so verdammt ergreifend.

Der Film beruhte auf gleich mehreren Büchern von Tania Blixen, wie sich Karen als Autorin nannte (in England nutzte sie einen Männer- und ihren Mädchennamen: Isak Dinesen), die Bücher wiederum auf Szenen aus ihrem Leben: Kindheit in Dänemark, Flucht aus dem Elternhaus nach Kenia, wo sie eine Kaffeefarm betrieb, die Heirat mit Bror von Blixen, der ihr Geld verjuxte und ihr die Syphilis anhängte, die Liebesaffäre mit dem Großwildjäger Denys Finch Hatton, die Rückkehr nach 17 Jahren Afrika in ihr dänisches Geburtshaus, die ersten Buchveröffentlichungen. 1962 starb sie mit 77 Jahren, ein kleines, dürres Vögelchen von 35 Kilo, begraben unter einer Buche im schönen wilden Garten hinter dem Haus. Diesseits von Afrika, aber für immer mit der Ferne verbunden.

Das Haus ist hell und freundlich. Ihr Schreibtisch steht in einem Raum mit Blick zum Meer, viele Möbel sind mit ihr nach Afrika gereist und wieder zurück. Der Paravent, aber auch der bemalte Holzstuhl mit dem Korbgeflecht, auf dem Denys Finch Hatton so gern gesessen hat.

Karen Blixen Museet, Rungsted Strandvej 111, 2960 Rungsted Kyst

Haus am Meer

Ein Haus wie ein Déjà-Vu. Als ob man schon dreißigmal hier gewesen wäre, jeden Sommer wieder, immer im Eckzimmer oben rechts. Die Schaukelstühle auf der Veranda, die Wolldecken im großen Weidenkorb, die gestreiften Leinensofas, die geweißten Gläserregale im Speisesaal – das Badehotel Helenekilde in Tisvildeleje im Nordwesten von Seeland, etwa 60 Kilometer von Kopenhagen entfernt, ist auf eine fast unwirkliche Weise perfekt, ohne dass man allzu große Styling-Anstrengung dahinter spürt. Es hat genau die geschrubbte Gemütlichkeit, die man sich von einem Hotel am Meer wünscht. Leider ziemlich hellhörig und leider auch beliebtes Ziel für Business- und Kreativseminare. Nichts verdirbt die Ferienstimmung ja so verlässlich wie eine Gruppe von Menschen mit Namensschildchen.

Aber: das Mittagessen! Wir kamen recht spät angetrödelt, fast halb drei. Die Kellnerin musste erst nach dem Koch fahnden, um herauszufinden, ob es noch etwas zu essen gäbe. Nach zehn Minuten erschien sie, verkündete strahlend „Ich hab ihn gefunden!“ und begann, uns den Tisch vollzustellen. Mit Schüsseln voll Hähnchensalat, Krebsfleisch mit Avocado, Lachs mit Äpfeln, Rindercarpaccio mit Ziegenfrischkäse und einem unglaublichen gemischten Salat mit kandierten Walnüssen und Pistazien. Dazu selbstgebackenes Roggenbrot und gesalzene Butter und dieser Blick über den Kattegat, der süchtig macht.

Badehotel Helenekilde, Strandvejen 25, 3220 Tisvildeleje

Flødebolle

Wer hat’s erfunden? Angeblich die Dänen, vor rund 200 Jahren. In jedem Fall ist der Flødebolle (Schokokuss, formerly known as Negerkuss) so etwas wie ein dänisches Grundnahrungsmittel: Jeder Däne isst im Schnitt 45 davon im Jahr. Verpackt sind sie doppelt und dreifach bruchgesichert in Volvo-artigen Tupperdosen. Mehr Schoko + weniger Schaum + essfreundlicheres konisches Design + Kokosstreusel = Samstagsfrühstück. Alles im Dienste der Recherche.

Bei Königs

Ich hatte schon immer ein Schwäche für das dänische Königshaus, es scheint mir so angenehm menschlich. Die kettenrauchende, gelbzähnige Königin Margrethe, der nette Kronprinz Frederik, dem in der Kirche beim Anblick seiner Braut die Tränen über die Backen kullerten und der auf dem offiziellen Foto mit Frau und Zwillingen angenehm verwilderten Zehntagebart trägt, die putzige Operettenarmee, die zum Wachwechsel zinnsoldatenhaft durch die Fußgängerzone marschiert – es ist alles herzallerliebst. Den Hof von Schloss Amalienborg mit seinen vier vergleichsweise bescheidenen Gebäudeteilen – links wohnt die Königin, rechts der Prinz, hinten links die Gäste, hinten rechts ist ein Museum – kann jedermann betreten; nur wenn man sich auf die Treppenstufen vor Margrethes Haustür hockt, guckt eine Wache mal ein bisschen grimmiger. Und nicht weit davon stehen am Hafenrand die Pavillons, in denen gewartet wurde, wenn die königliche Yacht von der gegenüberliegenden Hafenseite herangeschippert werden musste. Keine Ahnung, ob die noch in Betrieb sind – falls ja, sind sie karger ausgestattet als jede deutsche Bushaltestelle: keine noch so harte Sitzbank weit und breit.

Macht hoch die Tür

Die Kopenhagener Kirchen sprengen alle Dimensionen. Diese zwei sind meine liebsten: Oben die Christianskirche im Stadtteil Christianshavn, die breiter als lang ist und theaterähnliche Logen auf drei Rängen hat. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber dieses quergelegte Layout macht mir sofort gute Laune. Ebenso der Pastor Flemming, der mir die Stelle in der Krypta zeigt, wo Gitarrenlegende Link Wray 2005 beigesetzt wurde.

Links und unten die Grundtvigskirche mit ihrer mächtigen orgelartigen Fassade, an der fast 20 Jahre gebaut wurde. Der Architekt Peder Klint hatte sich mit seinem Entwurf an einem Wettbewerb beteiligt, bei dem es eigentlich nur um ein Denkmal für den Philosophen, Dichter, Historiker, Pädagogen und Pastor Nikolai Frederik Severin Grundtvig, Erfinder der Volkshochschule, gehen sollte. Klint war der Ansicht, dass nur eine Kirche – ach was, eine Kathedrale – angemessen wäre, keine schnöde Statue – und gewann. Die Fertigstellung sollte er nicht mehr erleben, sein Sohn, der geniale Kaare Klint, setzte den Bau fort und entwarf auch die Kirchenstühle. Der Bau ist gewaltig, ein Backsteingebirge, das trotzdem federleicht wirkt. Man steht klein drin und glaubt plötzlich wieder an alles Gute im Menschen.

Christianskirche, Strandgade 1, 1401 København K

Grundtvigskirche, På Bjerget 14B, 2400 København

Louisiana

Im Keller gibt es einen Raum, von dem man vorher wissen muss, sonst übersieht man ihn. Wenn man Glück hat, wird man darauf aufmerksam, weil ein paar Leute wartend davor stehen. Geht es hier zur Toilette? Weit, weit gefehlt. In dem Raum, den immer nur zwei Menschen gleichzeitig betreten dürfen, findet sich Yayoi Kusamas Installation „Gleaming Lights of the Soul“, hunderte von Lichtbällen, die alle paar Sekunden ihre Farbe wechseln. Man steht auf einem schmalen Streifen, umgeben von Wasser und Spiegeln und schwebt völlig schwerelos in diesem Bad aus Licht und Farbe. Magisch, suchtbildend.

Louisiana, etwa 30 Kilometer nördlich von Kopenhagen, ist ein Museum für Leute, die eigentlich keine Museen mögen. Es ist wie ein großer Kinderspielplatz der Kunst. Es finden immer mehrere Ausstellungen gleichzeitig statt, derzeit ist keine schwere Kost dabei: David Hockneys iPad-Zeichnungen (siehe oben – so simpel die Subjekte sind, es ist faszinierend, ihm quasi über die Schulter zu schauen. Erinnerte mich an die Picasso-Dokumentation), Josef Albers auf Papier und dann noch eine intelligente, gut kuratierte Ausstellung über das Wohnen. Im wunderschönen Park, der zum Øresund hinunter geht: Jazz für Kinder neben Skulpturen von Henry Moore und Joan Miró.

Ein Ort für einen ganzen Tag. Dazwischen und am Ende sitzt man glücklich in der Sonne bei einer Zimtschnecke und mit einem Blick auf Alexander Calder und das Meer. Und beide haben noch nie so gut ausgesehen.

Louisiana, Gl. Strandvej 13, 3050 Humlebæk

Inzwischen

Schön, hin und wieder war ich natürlich doch draußen, zwischen zwei Regenschauern, zwei Artikeln, zwei Büchern. Ein paar Bilder aus den letzten beiden Wochen.

Jeden Mittwoch backt die St. Peders Bageri in der Altstadt Onsdag Snegl, Mittwochsschnecken mit Zimt und Zuckerguss. Eine reicht, um einen für den Rest des Tages stumm und glücklich zu machen.

Sankt Peders Stræde 29, 7 bis 17.30 Uhr

Das Kettenkarussell im Tivoli. Klar war ich oben. Für den Preis einer Kinokarte. Es war… kreeeeeeeeiiiiiiiisch!

Und apropos Drehschwindel:

Kopenhagen hat neben den Onsdag Snegls auch andere atemberaubende Spiralformen. Links mein Lieblingsturm, der von der alten Börse, bei dem sich die Schwänze von vier Holzdrachen zu einer spektakulären Turmspitze verdrehen. Rechts der Turm der Vor Frelsers Kirke, den zu besteigen mindestens so eine Mutprobe ist wie das Tivoli-Karussell. 250 knarrende Holzstufen im Inneren, die in einer Art Hühnerleiter enden, 150 immer enger werdende Stufen außen am metallbeschlagenen Holzturm, der bei starkem Wind wackelt wie ein Drachenschwanz. Aber es gehört einfach dazu, einmal oben die Goldkugel mit dem fahnenschwenkenden Christus anzutippen.

Vor Frelsers Kirke, Skt. Annæ Gade 29, Turm täglich von 10 bis 19 Uhr geöffnet.

Das Palmenhaus im Botanischen Garten. Nichts, was man gesehen haben muss. Aber einer der nettesten Orte, um eine Box mit Take Away-Smørrebrød von Aamanns zu essen.

Aamanns Take Away, Øster Farimagsgade 10, in der Woche 10 bis 20.30 Uhr

Einmal über die Brücke von der Innenstadt kommend, zweimal rechts, und man ist im Havnebadet, einem kostenlosen Ponton-Schwimmbad direkt im Hafenbecken. Die Wasserqualität ist unbedenklich, wenngleich die Becken ziemlich veralgt sind. Stört keinen hier. Schon gar nicht die Jungs zwischen 5 und 55, die Arschbomben vom Sprungturm machen. Der perfekte Ort für einen faulen Sommersonntag. Oder -montag. Oder -dienstag.

Havnebadet Islands Brygge, wochentags 7 bis 19 Uhr, am Wochenende 11 bis 19 Uhr.

In der Pusher Street, der subtil benannten Hauptstraße von Christiania, stehen Büdchen, die fein säuberlich ausgebreitete Haschisch-Pieces und fertig gedrehte Joints in diversen Stärken anbieten. Bei näherer Überlegung: Nö, doch lieber ein hiesiges Öko-Bier in der Sonne vor dem Spielplatz. Wenn man ein bisschen abseits der großen Straßen spaziert, stößt man auf fast ländliche Idylle. Und im Garten eines der hübschen Häuser auf eine ganz traditionelle Hochzeit mit weiß gekleideter Braut und rot angelaufenem Bräutigam.

Und noch so ein vertrödelter Ort, in dem man ganze Nachmittage versacken kann: das Café Bang & Jensen in Vesterbrø. Flohmarkt-Interieur, Frühstück bis 16 Uhr (ich habe um 15.56 Uhr bestellt) und diese beeindruckende Sammlung von künstlerisch wertvollen Seebären-Bildern, unter der ich am liebsten sitze.

Bang & Jensen, Istedgade 130