Eingenordet

Es heißt ja immer, dass man sich beim Reisen überall mit hin nimmt, und das stimmt natürlich auch, aber meine Erfahrung nach zwei Dritteln Kopenhagen und zwei Dritteln Weltreise ist eine etwas andere. Mir kommt es so vor, als ob ich in zwölf verschiedene Reagenzgläser getaucht werde – die Reaktion ist immer eine andere und oft unvorhersehbar. Mal laufe ich blau an, mal löse ich mich auf, mal schlage ich Blasen, mal passiert: gar nichts. Zumindest auf den ersten Blick.

Kopenhagen ist die Stadt, in der ich bisher am passivsten war. Beinahe lethargisch. Ich hatte keine Lust auf Konzerte, nicht mal auf die Cinemateket, die bei mir um die Ecke liegt, und bin noch nicht ein einziges Mal, so unfassbar mir das selber vorkommt, abends essen gegangen. Der Kühlschrank ist voll mit Käse und Dillsill und Rhabarberjoghurt, es gibt wunderbares, ziegelschweres Roggenbrot mit Mandeln und Cranberries, warum also rausgehen? Ich habe mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen, lese manisch, schreibe wie am Fließband und gucke mir abends die DVD-Sammlung meines Vermieters Christian an, Citizen Kane, Ran, Taxi Driver, aber auch die vierte Staffel von How I Met Your Mother. Und sticke. Diese kleine, leise, konzentrierte Arbeit, die so unendlich viel Raum zum Nachdenken lässt, ist derzeit die einzige Bewegung, die ich zustande bringe, so scheint es. Zwischendrin schaue ich der alten Frau im Haus gegenüber zu, die alle halbe Stunde aus dem Fenster hinaus raucht. Ich höre das Möwenschreien, Fahrradklingeln, Kirchenbimmeln, Kinderlachen vom Spielplatz hinter meinem Haus und das Scharren des Besens, mit dem jemand den Bürgersteig fegt. Man erfährt schon viel von einer Stadt, wenn man ihr einfach nur zuhört.

Diese ungewohnte Häuslichkeit hat viel mit meinem Gefühl zu tun, dass ich aus den bisherigen Monaten einfach randvoll mit Eindrücken war, da passte nichts mehr rein, das musste einfach mal sacken. Ein bisschen kompostieren. Aber Kopenhagen ist auch genau der richtige Ort dafür. Ich hatte es ja schon in meinen ersten Blogposts geschrieben: Wenn man hier mit Karacho in die Stadt gekachelt kommt, bringt sie einen mit quietschenden Reifen zum Stillstand. Um halb sechs, sechs machen die Geschäfte zu, die Stadt leert sich schlagartig. Selbst Strøget, die erste und längste Fußgängerzone der Welt, die eigentlich zu jeder Tageszeit knüppeldickevoll ist, kommt zur Ruhe. Es ist, als ob alle kollektiv ausatmen. Man geht nach Hause und isst was und lässt es gut sein für heute.

Ein guter Teil meiner Lethargie hat auch damit zu tun, dass mich hier so viel an meine norddeutsche Heimat erinnert. Die spröden Backsteinbauten, das Kopfsteinpflaster, der Wind, der durch die Straßen geht. Und ebenso, wie man seine eigene Stadt kaum wahrnimmt und höchstens dann anschaut, wenn Besuch kommt, denke ich bei Kopenhagen: kenne ich. Nächste Woche besuchen mich meine Eltern, dann werde ich all das mit ihnen tun, was ich bislang gelassen habe: Kanalfahrt, Schlossbesichtigung, Runder Turm. (Die Armen.)

Kopenhagen hat mich wieder eingenordet. Meine irrlichternde Kompassnadel hat sich beruhigt, jetzt kann ich ins letzte Drittel des Jahres aufbrechen. Und selbst meine Stickerei ist beendet: Gestern habe ich das fertige Stück in ein Handarbeitsgeschäft getragen, die machen mir jetzt ein Kissen draus und schicken es nach Hamburg. Nächstes Jahr werde ich darauf sonntags auf dem Sofa einschlafen und von der Welt träumen.


Nachtrag zu London

Heute im SZ-Magazin.

Ich bin dann mal (kurz) weg

Liebe Mitreisende, ich merke gerade, dass ich erlahme. Ich bin erschöpft. Müde des Bloggens, müde der Erwartungen. (Nicht müde des Reisens, oh nein.) Ich merke, dass ich dünnhäutig werde. Ich merke es unter anderem daran, dass ich ich mich über einen negativen Kommentar mehr ärgere als mich über 20 positive zu freuen. Mit anderen Worten: Da stimmt was nicht mit mir. Wenn es nicht so lächerlich klingen würde, könnte man sagen: Ich bin urlaubsreif. Ich bin jetzt den achten Monat unterwegs und die ganze Zeit fast jeden Tag auf Sendung gewesen – jetzt ist es Zeit für eine Pause. Denn wenn man müde ist, wird man gnatschig und missgelaunt, und das möchte ich nicht. Der Blog macht also Ferien. Es ist der richtige Zeitpunkt, in Kopenhagen ist ohnehin nicht viel los, was ich persönlich ganz wunderbar finde. Hinzu kommt: Ich habe in diesem Monat wahnsinnig viel zu arbeiten, es stehen einige längere, kompliziertere Geschichten auf meinem Zettel, für die ich mir beinahe ein paar Regentage wünsche. Beinahe.

Wir sehen uns in einer Woche wieder. Oder zwei. Bis dahin: vielen Dank für die bisherige freundliche, aufmunternde, anteilnehmende Begleitung; sie bedeutet mir sehr viel.

Sommersamstag

Das Schöne an Kopenhagen ist, dass es praktisch keine Sehenswürdigkeiten gibt. Als Tourist wird man hier ziemlich in Ruhe gelassen: Die Innenstadt ist in einer halben Stunde zu Fuß durchquert, die zwei Schlösser hat man auch schnell erledigt, dann noch eine Hafenrundfahrt, fertig. Anschließend: leben. Ich habe wie immer gleich mit dem Leben angefangen und die sights bisher unseen gelassen (Schreibtischwoche gepaart mit sommerlicher Besichtigungslustlosigkeit). Auch heute: Superwetter, deshalb lieber rauf aufs Rad und raus aus der Stadt.

Aber die hier lag auf dem Weg:

Ein Rätsel, warum dieses kleine Dingelchen so berühmt werden konnte. Es liegt vergleichsweise ab vom Schuss und nicht mal sehr hübsch: Die Touristen bemühen sich unter Verrenkungen, den gegenüberliegenden Industriehafen nicht mit ins Bild zu kriegen. Historische Bedeutung hat Den lille havfrue auch nicht gerade (1913), der Bildhauer Edvard Eriksen hat sonst kaum Nennenswertes geschaffen und auch die Hintergrundgeschichte ist eher deprimierend. Nicht nur das Märchen von Hans Christian Andersen selbst – über eine unglückliche Liebe mit tödlichem Ende –, sondern auch die Entstehung der Skulptur stimmt eher trübe: Der Besitzer der Carlsberg-Brauerei, Carl Jacobsen, sah eine Aufführung des Balletts über die Kleine Meerjungfrau und wollte unbedingt die Primaballerina Ellen Price verewigt sehen. Die weigerte sich aber, nackt zu posieren, und so musste Eriksens arme Ehefrau ihren Körper hinhalten – auf den der Kopf von Ellen Price gesetzt wurde. Und auch die Nachwelt ist bislang alles andere als pfleglich mit der Dame umgegangen.

Aber ich wollte eigentlich die Küste hoch, Richtung Norden. Vorbei an der ehemaligen Tuborg-Brauerei…

… und an der Meeresbadestelle Charlottenlund…

… und an Arne Jacobsens grandioser Tankstelle von 1937 in Skovshoved (immer noch in Betrieb in Kombination mit einer Eisdiele)…

…fuhr ich wieder mal geisterhafte Hauptstraßen entlang. Ich kapier’s nicht: Samstag, Badewetter, 11 Uhr vormittags – wo sind die nur alle? Bestimmt schon am Strand.

Nee. Hier auch nicht. Das Strandbad Bellevue in Klampenborg: verlassen. Macht nichts, ich mache mich dafür um so breiter. Beim Ausziehen muss ich lachen. Kolhapuri-Latschen: Mumbai, Top: San Francisco, Bikini: Honolulu, Tasche: Sydney, Sonnenbrille: Flughafen Singapur, Sonnenmilch: Buenos Aires. Nur der Rock ist aus Hamburg (my rock – immer wieder danke für die Grundgarderobe, Katharina, die funktioniert wirklich in jeder Stadt).

Weiter durch den Dyrehaven (Hirschpark). Keine 300 Meter hinter dem Dyrehavsbakken, dem ältesten Vergnügungspark der Welt…

…tatsächlich eine Herde freilaufender Hirsche, völlig unbeeindruckt vom Hau den Lukas-Gebrüll.

Nicht weit davon: das Museum Ordrupgaard. Ein ehemaliges Herrenhaus, idyllisch in einem Park gelegen, mit einem Anbau von Zaha Hadid, die ich jedes Mal, wenn ich in einem ihrer Gebäude bin, mit einem nassen Lappen verhauen möchte (ihre größte Idiotie war, glaube ich, die Betriebsfeuerwehrstation für das Vitra Design Museum in Weil/Rhein, die wegen der schräg abfallenden Böden nie benutzt werden konnte – zu gefährlich für die Feuerwehrleute im Fall eines Brandes).

Im Haupthaus hängen einige Bilder von Vilhelm Hammershøi, den ich sehr mag. Sehr leere, sehr stille, sehr monochrome Räume, ein bisschen Vermeer, ein bisschen Edward Hopper. Man sollte Hammershøi auf Blutdrucksenkungs-Tablettenpackungen drucken, es würde die Dosis dramatisch senken.

Ebenfalls im Park von Ordrupgaard gelegen: das Privathaus von einem meiner Lieblinge, Finn Juhl. Er ist nicht so bekannt wie Arne Jacobsen, aber kann das wirklich sein, dass ich an einem Samstagnachmittag die einzige Besucherin hier bin? Von außen ist das Haus eher unaufregend – zwei durch einen Glaskorridor verbundene Giebelhauswürfel –, aber sowie man es betritt, ist man zuhause. Große Offenheit der Räume, dabei ganz klare Funktionen. Fotografieren war leider verboten, aber hier ist noch ein Bild von Finn-Sesseln in Frau Zahas unfreundlichem Klotz:

Und dann wieder heim. Im Spätnachmittagslicht, bei Amselgesang und dem Duft von frisch gemähtem Gras. Satt an Sonne, satt an Schönem. Ein weiterer perfekter Tag.

Nur noch eins

Noch’n Video zum Wochenende (danke, Anne, für den Hinweis): Gary Russo, New Yorker Bauarbeiter, singt seit zwei Wochen jeden Tag in seiner Mittagspause den Passanten was vor. Als Wiedergutmachung für den Lärm wegen des U-Bahn-Baus. In einem CBS-Interview sagte er: „Finde heraus, was du liebst. Und mach es dann.“

Toll

Rush Hour

Irgendwas kam mir gleich merkwürdig vor in meiner Straße. Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich es verstanden habe: Es gibt kaum Autos. Jede beliebige deutsche Innenstadtstraße wäre zu jeder beliebigen Zeit zugeparkt, und hier: Leere. Fast unheimlich, wenn es nicht so schön wäre. Die Erklärung kam gestern von Agnes. Es ist nicht etwa die Ferienzeit, wie ich vermutete, sondern die Tatsache, dass bei jeder neuen Autozulassung bis zu 180 Prozent Luxussteuer erhoben werden (die Autopreise sind allerdings auch etwas niedriger als bei uns). Kein Wunder, dass ich hier in der Stadt oft so ein Sechziger-Jahre-Gefühl habe: Nicht jede Familie hat ein Auto und schon gar nicht zwei. Wer jetzt fragt: Aber wie bringe ich denn mein Kind zum Kindergarten?, dem sei geantwortet: Du bringst es einfach zu Fuß zwei Straßen weiter. Oder runter in den Hof. Selbst (oder gerade) eine so schicke Wohnanlage wie das 8 House hat selbstverständlich eine Kindertagesstätte (Betonung auf Tag) mittendrin.

Dieses Zeitreisen-Gefühl gibt es auch in anderer Hinsicht: Geschäfte öffnen um 11 und schließen um 17 oder 18 Uhr, einige Museen haben nur von 11 bis 15 Uhr geöffnet. Gearbeitet wird in der Regel bis 16 Uhr, Agnes’ Mann kann auf diese Weise oft auf dem Heimweg den Vierjährigen vom Kindergarten abholen.

Und auch die Eisschilder: wie damals, als es nur Cornetto, Happen und Domino gab.

Fro(h)kost

„Wenn du willst, nehme ich dich mit zum besten Eisladen der Stadt. Donnerstag um 11?“ Ist das eine Frage? Zwar weiß man als Journalistin, dass „bester Eisladen der Stadt“ in der Regel „Ich kenne vier Eisläden, hier schmeckt es mir am besten und zufällig liegt er in der Nähe meiner Wohnung“ bedeutet (ich weiß das deshalb so gut, weil ich berufsbedingt auch oft zu Superlativen neige – und im Lauf meiner Karriere oft genug „Die 10 besten XYZ“-Listen geschrieben habe), aber in diesem Fall: You had me at Eisladen.

Die Einladung stammte von Agnes, die mir neulich als meerfrau in den Kommentaren einige gute Kopenhagen-Tipps gab und seit einem Jahr über ihr Leben hier in der Stadt bloggt. Und die tatsächlich einen verdammt guten Eisgeschmack hat: Ismageriet auf der Insel Amager im Süden der Innenstadt macht phantastisches Rhabarber-, Lakritz- und Blaubeereis (die anderen Sorten dann beim nächsten Mal). Es war zwar erst mein erster Eisladen, aber was soll ich sagen: der bisher mit weitem Abstand beste der Stadt.

Ismageriet, Kongelundsvej 116, Kopenhagen 2300

Ørestad auf Amager ist zugleich Standort eines der spannendsten europäischen Städtebauprojekte, das wir uns hinterher auf einem ausgedehnten Spaziergang anguckten. Höhepunkt: Das 8 House (unten), ein Wohnblock mit fast 500 Einheiten in Form einer liegenden 8, der einen spektakulären Blick über das Naturschutzgebiet bis zum Meer bietet. Eine Rampe im Inneren windet sich wie eine Dorfstraße an allen Wohnungen vorbei, die meisten mit kleinen Vorgärten. Das Konzept ist faszinierend, die Wohnungen sehen (von außen, mit plattgedrückter Nase am Küchenfenster) fantastisch aus. Wen’s interessiert, hier ist ein viertelstündiges Video, in dem der Architekt Bjarke Ingels die Idee mitreißend erklärt (auf dänisch mit englischen Untertiteln). Auf meiner Einkaufsliste: Sein programmatischer Architekturcomic Yes is more, schon des schönen Titels willen.

Hier radelt er durch den Shanghaier Expo-Pavilion, den sein Büro ebenfalls entworfen hat.


Zurück II

Und weil es so merkwürdig ist, dass mich heute lauter Dinge erreichen, die schon Monate hinter mir liegen: eine Geschichte, die aus einem Interview entstanden ist, das ich der China Daily von Honolulu aus gegeben habe.

Wie gemalt

Im letzten Herbst kontaktierte mich eine Berliner Malerin, Martina Minette Dreier. Sie würde mich gern malen, nur so, ihr gefielen meine Texte, ob ich vielleicht irgendwann nach Berlin kommen könne? Fantastisch. Man muss nur meine Eitelkeit kitzeln, und schon bin ich zur Stelle. Was mich darüber hinaus gereizt hat: Es gab keine vorgegebene Idee für das Porträt, ich könnte auch gern anziehen, was ich wollte.

Wie ist es nun also zu diesem Bild gekommen, auf dem ich ein violettes Stoffnilpferd über der Schulter trage? Wir haben einfach nur gespielt. Ich kam mit meiner Seemannsmütze, die wollte ich gern auf dem Bild tragen, weil ich ja bald auf große Fahrt gehen würde. Martina skizzierte mich erst in verschiedenen Positionen – sitzend, stehend, über eine imaginäre Reling gebeugt – und hängte mir irgendwann das Nilpferd über die Schulter. Ein bisschen Nerzstola, ein bisschen Seesack. Die Absurdität gefiel mir sofort, auch wenn das Vieh natürlich irgendwann tonnenschwer wurde. Mir fiel dazu Samuel Taylor Coleridges Gedicht „The Rime of the Ancient Mariner“ ein, in dem einem Seemann ein toter Albatross umgehängt wurde als Zeichen der Sünde, und so kam es zum Titel des Bildes, „A glittering eye“, ein Zitat aus dem Gedicht („He holds him with his glittering eye“). Ich mag es sehr – und noch viel mehr, dass es gerade jetzt fertig geworden ist, wo ich mich in einer so großen (kleinen) Seefahrerstadt befinde.