Im toten Meer

Zuerst muss man einfach nur hell lachen. Unglaublich! Das ist ja… So fühlt sich das also an! Wie ein Korken, so leicht. Man kann auf der Seite liegen, die Knie anziehen, unsinkbaren Blödsinn machen, herrlich! Schnell jemandem mit trockenen Händen die Kamera in die Hand drücken, Beweisfoto machen. Und dann: einfach nur treiben lassen.

Irgendwann verändert sich das Gefühl. Von der juchzenden Kinderfreude zu etwas tief in die Eingeweide, nein: zu Herzen Gehendem. Auf dem Wasser liegen wie auf einem Bett, gewärmt, getragen, geborgen. Nach einiger Zeit den Kopf ablegen und merken: auch der ist getragen. In den Nachmittagshimmel schauen und zusehen, wie er immer dunkelblauer wird. Und zuhören, wie die anderen Badenden immer stiller werden.

In der Dämmerung treiben wir, die wir noch geblieben sind, einfach nur stumm und glücklich in der warmen Lake, die Haut schon jetzt so zart wie nie, das Hirn so leer, das Herz so weit.

Ich war eine Stunde im Toten Meer, wie mir allerdings erst später klar geworden ist. Unter den zehn schönsten Stunden dieses Jahres ist die ganz weit oben.

Lever dood as Slaav

„Willst du wirklich da hoch?“ – „Es ist unfassbar anstrengend.“ – „Noch kannst du zurück.“ Jeder, wirklich jeder, der mir auf den ersten hundert Metern des Schlangenpfads entgegenkam, hatte so einen Spruch auf Lager, und bei jeder Mahnung war ich entschlossener: Klar will ich da hoch. Zu Fuß. Um 12 Uhr mittags, bei knochentrockenen, totmeergesalzenen 34 Grad. Seilbahn! Pff! Was bin ich, ein Tourist? Ich bin so dämlich leicht zu manipulieren: Man muss mir nur sagen, „Lass es besser“, und schon wächst mir ein norddeutscher Sturkopp in XL, in den nur noch ein Gedanke passt: „Das wäre ja gelacht.“

Vielleicht ist es aber auch dieser Ort. Masada ist der jüdische Schicksalsberg. Der Nationalmythos. Ein 350 Meter hohes Felsplateau nicht weit vom Toten Meer, auf die Herodes 43 v. Chr. eine luxuriöse Festung bauen ließ. Allein die Überreste seines auf drei Ebenen gebauten Palastes an der Nordspitze des Plateaus, das wie ein Schiffsbug ins Land ragt und einen weiten Blick über die Wüste und das Tote Meer bietet: spektakulär. Eine geniale Wasserversorgung, Vorratsspeicher, die monatelanges Überleben hier oben möglich machten, ein feudales Badehaus mit doppeltem Fußboden zur Wärmespeicherung: brillant. 110 Jahre später wurde die Festung von jüdischen Rebellen erobert, einer der großen symbolischen Erfolge im ersten Aufstand gegen die römischen Besatzer. Im Jahr 73/74 holten die Römer zum Gegenschlag aus. 8000 Soldaten belagerten Masada über mehrere Monate und bauten einen 100 Meter hohen Erdwall, über den hölzerne Belagerungstürme mit Rammböcken geschoben wurden. Der Durchbruch gelang, die Eroberung war unvermeidlich, die römische Übermacht erdrückend. Was dann geschah, basiert auf den Schilderungen des jüdischen Historikers Flavius Josephus, der sich eine gute Geschichte nie von der Wahrheit kaputtmachen ließ. Die 967 Eingeschlossenen – Männer, Frauen, Kinder – bestimmten per Los 10 Männer, die alle anderen umbringen sollten – lieber tot als Sklave der Römer. Unter den verbliebenen 10 wurde einer ausgelost, die anderen neun zu töten und sich dann selbst ins Schwert zu stürzen. Als die Römer am Morgen Masada stürmten, empfing sie Totenstille; nur zwei Frauen und fünf Kinder hatten den Massenselbstmord überlebt.

Masada ist seitdem ein Symbol. Die offizielle Lesart: ein jüdischer Heldenmythos. Unkorrumpierbarer Freiheitswillen, und sei es um den Preis des Todes. Andere diagnostizieren einen Masada-Komplex: die pathologische Neigung zur Selbstzerstörung. Für dritte ist Masada ein klassischer Fall von Geschichtsklitterung aus politischen Zwecken. Denn die archäologischen Funde sind alles andere als eindeutig. Die Tonscherben mit den Namen der zehn Auserwählten, die im Masada-Museum wie Reliquien ausgestellt sind? Die sind echt – ebenso wie die 700 anderen gefundenen Scherben mit Namen von Frauen und von Nahrungsmitteln. Möglicherweise waren die Scherben Teil eines Rationierungssystems. Und waren die Eingeschlossenen wirklich die noblen Freiheitskämpfer, als die sie in Filmen, israelischen Schulbücher und sogar einer Rockoper gefeiert werden? Selbst die ursprüngliche Quelle, Flavius Josephus, identifiziert sie als Sicarier, religiöse Fanatiker, die einen Bruderkrieg gegen moderatere jüdische Gruppen führten. Josephus schildert einen Überfall zur Vorratsbeschaffung auf die nahegelegene Oase Ein Gedi, bei dem sie 700 Frauen und Kinder töteten – ein Detail, das im Besucherzentrum von Masada nicht erwähnt wird. Es ist ein Minenfeld, wie so oft im Nahen Osten. Was wahr ist und was nicht, ist längst egal. Mythen werden zu Identitäten, Religionen zu Rechtsansprüchen. Lieber tot als nachgeben. Am allerliebsten natürlich: die anderen tot – das gilt für jede Seite.

Oben auf dem Plateau, das ich nach 50 Minuten keuchend erreichte (mein privater Massada-Komplex: lieber tot als Seilbahn) lärmen Schulklassen auf Pflichtbesuch, wallfahrten Orthodoxe, galoppieren amerikanische Kreuzfahrttouristen ihrem Führer hinterher. Handy-Klingeltöne spielen die aktuellen Charts, Teeniemädchen kreischen, ein spanischer Fremdenführer wandelt im Jesus-Look durch die Ruinen. Es ist ein Zirkus.

Runter nehme ich die Seilbahn.

War ja klar

Schild gesehen, abgebogen, klar. Brunnen: ausgetrocknet. Mist. Aber die Bäume sehen echt frisch aus.

Schade auch

Schon um acht war ich an der Grenze zu Jordanien, da macht sie nämlich auf am Sabbat. Und wurde sofort angehalten. „Ist das Ihr Wagen?“ – „Nein, ein Mietwagen.“ – Damit dürfen Sie nicht rüberfahren.“ – „Aber man hat mir gesagt, es gebe keine Probleme in Jordanien mit israelischen Mietwagen.“ – „Doch. Sie müssen eine Bestätigung des Verleihers vorweisen, dass es okay ist.“

Anruf beim Verleiher: niemand da, Sabbat. Den Presseausweis wollte ich nicht zücken, dann hätte es vermutlich eher noch mehr Probleme gegeben. Also: kein Petra. Umkehren. Strandtag. Mist. Dabei hatte ich mich extra mit Sean Connery verabredet:

Mutter bei die Fische

Guten Abend. Ich bin jetzt eine PADI-zertifizierte Sporttaucherin. Und wie war Ihre Woche so?

Eigenwerbung

Morgen: Ein SZ-Magazin-Frauenheft, Thema „Auf der Suche nach dem guten Leben“ (wieso das jetzt nur ein Frauenthema sein soll… aber lassen wir das). Dazu ist mir natürlich auch was eingefallen.

Tief gesunken

Tag 3 des Open Water Course, und es wird von Tag zu Tag besser. Inzwischen schraube ich mein Tauchzeug fast blind zusammen und habe unter Wasser im Griff, wann ich mein Jacket aufpumpen oder leeren muss, um die Tiefe (heute 12 Meter) zu erreichen, oder wann ein Druckausgleich fällig ist. Es ist wie Autofahren lernen: Anfangs konzentriert man sich verbissen auf das Schalten, das rumpelige Spiel zwischen Gas und Kupplung, später automatisiert sich das völlig und man kann die schöne Landschaft genießen. Heute hatte ich da unten zum ersten Mal dieses völlig entspannte Gefühl von: Hier gehöre ich her. Was, schon wieder auftauchen? Waren doch erst 55 Minuten!

Eilat ist ohnehin am schönsten unter Wasser. Es ist der klassischen Bettenburg-Urlaubsort mit allen einschlägigen Schrecklichkeiten – für die ich allerdings eine geheime Schwäche habe, muss ich gestehen. Ich mag das irgendwie, diese kreischige Kanonade aus Ballontieren, Neonshorts, Namensarmbändern, Muschellampen, perlenbestickten Chiffonhemden, Strandbars, Eisbuden, Shawarma-Ständen. Diese trotzige Ferienseligkeit, und das bei der Location: genau gegenüber Jordanien, dahinten rechts Saudi-Arabien, die Straße runter Ägypten – die alten Feinde gucken den israelischen Familien direkt in die Badetaschen.

Nemo: gefunden

Mein verdammtes Glück mal wieder: Wir wären eigentlich zu dritt gewesen im Tauchkurs, aber am Vorabend haben die anderen beiden kurzfristig abgesagt. Also habe ich Einzelunterricht bei David. Und er schmeißt mich fast sofort ins warme Wasser. Erst zwei Stunden Theorie: Auftrieb, Überdruck, Druckausgleich – bäh, Physik. Aber lebensnotwendige Physik, also passe ich auf. Dann packen wir die Ausrüstung, ich quäle mich in eine Neoprenpelle, wir fahren ans Meer. Kein Schwimmbadtraining, wozu auch? Der beste Pool ist das Rote Meer.

Ich schätze, dass jeder etwas hysterisch wird, der zum ersten Mal die Erfahrung macht, unter Wasser zu atmen. Ich wurde gleich doppelt hysterisch, denn keine zehn Meter vom Ufer entfernt beginnt schon der Wahnsinn. Was wir nur aus dem Aquarium kennen, schwimmt hier einfach so rum. Clownfische, Papageienfische, Picassodrücker schießen ungerührt durch die Beine der Badenden, ein getüpfelter Schlangenaal windet sich am Boden, ein Vieh, das aussieht wie ein Stein, drückt sich in einen Felsen, ein Seeigel trudelt über den Meeresboden. Lektion 1: nicht unter Wasser lachen, dabei kommt nur Wasser in die Maske. Lektion 2: Fische kann man nicht mit der Hand fangen, sie wirken immer näher, als sie sind. (Bis auf den Schlangenaal, den habe ich gestreichelt.)

Wir üben Mundstück verlieren, Maske ausblasen, aus der Flasche des Tauchpartners atmen. Ich kämpfe mit dem Druck auf den Ohren, bin anfangs zu ungeduldig mit mir und dem Druckausgleich. David zeigt Fische (Gott! Was riesiges Blaues!), Korallen, wir gehen tief und immer tiefer. Sechseinhalb Meter, sagt er später, 40 Minuten waren wir beim zweiten Tauchgang unten – ich hatte für beides nicht das geringste Gefühl, weder für Zeit noch für Raum.

Manchmal denke ich, es ist vielleicht ein bisschen viel für die Synapsen, was ich in diesem Jahr erlebe. Jeden Monat eine neue Welt, neue Eindrücke, neue Menschen, neue Lebensbedingungen, neue Regeln. Und jetzt auch noch dieser Kosmos unter Wasser. Mir platzt das Hirn. Vor Freude.


Leicht irre

Die echten Profis entfernen die Ringe unter dem Deckel von Plastikflaschen, schneiden Streichhölzer und Zahnbürsten in der Mitte durch und entfernen Schildchen von T-Shirts und Unterhosen: Hurra, wieder drei Gramm weniger. Auf einer Liste wird dann präzise das Gewicht jedes Gegenstandes vermerkt.

Hübsche Geschichte in Spiegel Online über obsessive Gewichtsparer.

Negev

Ich bin erst mal durchgefahren. Auch ohne Aussteigen am Toten Meer (oben das Salz- und Kaliwerk) dauerte die Fahrt nach Eilat sechs Stunden, ich nehme lieber auf dem Rückweg Zeit zum Treiben. Und auch so war es schwer genug, nicht alle paar Kilometer anzuhalten und die Kamera auszupacken. Ich liebe Wüste, und die Negev ist keine Ausnahme.

Meine Vermieterin Gabrielle hatte mich noch gewarnt, „die richtige Straße“ zu nehmen. Auf der anderen, der, die näher an der ägyptischen Grenze liegt, habe es neulich nördlich von Eilat einen Zwischenfall gegeben. „Hast du ‚Babel‘ gesehen?“ Ich wusste gleich, was sie meinte: Heckenschützen hatten vom Sinai aus zunächst auf einen Bus, dann auf einen Privatwagen geschossen, acht Menschen waren dabei gestorben.

Seltsamerweise macht mir das keine Sorge. (Obwohl ich natürlich die andere Straße genommen habe.) Auch wenn ich durch die Straßen von Tel Aviv gehe, fühle ich mich nicht bedroht. Noch schaffe ich es nicht, die Nachrichtenbilder mit dem Land zu verbinden. Aber die Gefahr ist da. Natürlich. Vor ein paar Tagen war ich in einem Vorort zum Essen eingeladen. Sie ist Deutsche und lebt seit 22 Jahren hier, er ist Israeli, die Familie ursprünglich aus Bagdad. Selbstverständlich haben sie einen Bunker im Keller, „ich nutze ihn hauptsächlich als Weinkeller“, sagt er, der Sommelier, lächelnd. Und sie sagt: „Niemals würde ich mein Kind mit einem Bus fahren lassen.“ Wann immer sie einen Bus überholt, sagt sie, zieht sie unwillkürlich den Kopf ein. Warum sie bleiben? Sie schweigen erst. „Wir denken seit zwei Jahren darüber nach zu gehen. Wir haben die Schnauze voll.“ Einfach zu lange mit dem Krieg, den Anschlägen gelebt, die erste Intifada mitgemacht, die zweite. Immer wieder gehofft, dass es endlich vorbei ist. Jetzt ist der Sohn 11, in sechs Jahren müsste er zur Armee, für drei Jahre. Vorher, das schwören sie sich, gehen sie. „Aber wir haben hier unser Leben, unsere Familie, unsere Arbeit. Die Sonne, den Strand.“ Zum Abschied pflückt er mir zwei Zitronen vom Baum vor dem Haus.