


Gegen drei bin ich endlich aus dem Haus gekommen, ich musste noch was fertigschreiben. Morgen ist Jom Kippur, jetzt besser schnell noch was einkaufen, dachte ich. Und stand dann mit offenem Mund auf einer menschenleeren Straße vor verschlossenen Geschäften. Auf der Straße, denn Autos fuhren zu diesem Zeitpunkt in etwa so viele wie sonst gegen drei Uhr nachts.
Straßen leer, Geschäfte zu, Restaurants geschlossen, selbst der Strand war verlassen – über diesem Freitagnachmittag, dem Vorabend zum höchsten jüdischen Feiertag, lag eine Stimmung wie frischgefallener Schnee. Die Welt ist wie ausgeknipst und in Watte gepackt, so leise. Ich glaube, ich hatte zuletzt 1973, am autofreien Sonntag während der Ölkrise, ein ähnlich entrücktes Gefühl mitten in einer Stadt.
Zu Jom Kippur hält das Land den Atem an. Selbst normalerweise nicht so Strenggläubige fasten für 25 Stunden und trinken nicht mal Wasser, es fahren keine Busse und Bahnen, das israelische Fernsehen stellt seinen Sendebetrieb ein, es ist der Tag der Ruhe und Reue, und er beginnt mit dem heutigen Sonnenuntergang. Weitere Regeln: kein Sex, keine Lederschuhe, weiße Kleidung. Der Tag wird in der Synagoge verbracht, mit einer Unterbrechung am Nachmittag für ein kleines Nickerchen.
Schon am normalen Sabbat befolgen viele das Gebot, am siebten Tag zu ruhen und nicht zu arbeiten. Gar nicht. Das bedeutete unter anderem früher: kein Feuer anzuzünden. Heute: kein Auto zu fahren (der Zündfunke), kein Licht anzumachen, nicht zu kochen. Ob Elektrizität erlaubt ist oder nicht, ob man einen Kühlschrank öffnen oder den Aufzug nehmen darf, also um alle Probleme, die alte Lehre in das moderne Leben zu übersetzen, darum gibt es viele – und viele lustvolle – Debatten. (Hier ein sehr hübscher Artikel über einen Rabbi, dessen Job die Schlupflöcher des Herrn sind.)

Doch wie immer, wenn der offizielle Betrieb ruht, beginnt ein geheimes zweites Leben. Heute, am Vorabend von Jom Kippur, drangen Kinderrufe hoch in meine Wohnung. Irgendwas war auf der Straße los. Ich ging noch einmal hinunter. Und tatsächlich: Die Kinder erobern sich an diesem Abend auf Fahrrädern, Skateboards, Inlineskates die leeren Straßen zurück so wie wir damals die verlassenen Straßen von 1973. (Übrigens dem Jahr des Jom-Kippur-Kriegs, als Ägypten und Syrien die Feiertagsruhe nutzten, um Israel zu überfallen – aber das ist eine andere Geschichte.) Es ist die entspannte, verspielte, übermütige und überhaupt nicht leise, sondern lebensfrohe Variante von Ruhe, wie ich sie so liebe. Ich habe gerade gegoogelt, ob man am Sabbat eigentlich joggen darf, und die Antwort war: solange es ein Vergnügen ist und keine Anstrengung – ja. Eine Auslegung, mit der ich leben kann.
