Abgetaucht

Ich bin dann mal wieder weg. Ich habe einen Wagen gemietet und fahre nachher durch die Negev-Wüste ans Rote Meer nach Eilat, um dort eine Woche lang das Tauchen zu lernen, ein alter Traum, der jetzt wieder (räusper) aufgetaucht ist und spontan verwirklicht wird. Auf dem Weg dahin komme ich am Toten Meer vorbei und werde selbstverständlich das obligatorische Foto machen, zeitungslesend im Wasser treibend. Und weil ich wegen Laubhüttenfest und Sabbat zwei Tage tauchfrei habe: Vielleicht nutze ich die Gelegenheit, nach Jordanien hinüberzufahren, nach Petra.

Wie es mit dem Netz da unten aussieht, weiß ich nicht – das sehen wir dann ja. Falls ich also in dieser Woche nichts von mir hören lasse: Keine Sorge, mir passiert schon nichts.

Jom Kippur II/Sabbat

Nach Sonnenuntergang begann es erneut: Der Verkehr brandete über die Ben Yehuda, die Teller klapperten aus den Fenstern, das Leben ging weiter. Aber was für ein wunderbarer, leiser Tag es gewesen ist! Ich selbst habe mir ein komplettes, köstliches Garnichtstun verordnet, bestehend aus Rumliegen, Hörbücher hören, ein bisschen an den Strand gehen. Auch zuhause ist Samstag mein fauler Tag, am Sonntag sitze ich oft schon wieder am Schreibtisch, nach der ausführlichen Sonntagszeitungslektüre, versteht sich.

Der wöchentliche Sabbat findet seine Entsprechung im Sabbatjahr, neudeutsch Sabbatical. Eigentlich ein biblisches Konzept:

Sechs Jahre sollst Du Dein Feld besäen und sechs Jahre Deinen Weinberg beschneiden und die Früchte einsammeln. Aber im siebten Jahr soll das Land dem Herrn einen feierlichen Sabbat halten. Da sollst Du Dein Land nicht besäen und auch Deinen Weinberg nicht bearbeiten. (3. Mose 25,1-4)

Und genau so hält es österreichische Graphikdesigner Stefan Sagmeister, dessen Buch und Webprojekt Things I Have Learned in My Life So Far ich sehr mag. Alle sieben Jahre schließt er sein New Yorker Studio, nimmt für ein Jahr keine neuen Aufträge an und macht ein Sabbatical, um eigenen Interessen zu folgen und spielerisch neue Ideen zu entwickeln. Seine Überlegung: Statt der üblichen Dreiteilung des Lebens in 25 Jahre Ausbildung, 40 Jahre Arbeit und 20 Jahre Rente – wie wäre es, wenn man fünf Rentenjahre in regelmäßigen Abständen zwischen die Arbeitsjahre schiebt? Im TED-Vortrag oben erklärt er, wie das geht – und dass seine Arbeit in sechs folgenden Jahren fast ausschließlich auf Einfällen beruht, die er in der Auszeit hatte.

Jom Kippur I

Gegen drei bin ich endlich aus dem Haus gekommen, ich musste noch was fertigschreiben. Morgen ist Jom Kippur, jetzt besser schnell noch was einkaufen, dachte ich. Und stand dann mit offenem Mund auf einer menschenleeren Straße vor verschlossenen Geschäften. Auf der Straße, denn Autos fuhren zu diesem Zeitpunkt in etwa so viele wie sonst gegen drei Uhr nachts.

Straßen leer, Geschäfte zu, Restaurants geschlossen, selbst der Strand war verlassen – über diesem Freitagnachmittag, dem Vorabend zum höchsten jüdischen Feiertag, lag eine Stimmung wie frischgefallener Schnee. Die Welt ist wie ausgeknipst und in Watte gepackt, so leise. Ich glaube, ich hatte zuletzt 1973, am autofreien Sonntag während der Ölkrise, ein ähnlich entrücktes Gefühl mitten in einer Stadt.

Zu Jom Kippur hält das Land den Atem an. Selbst normalerweise nicht so Strenggläubige fasten für 25 Stunden und trinken nicht mal Wasser, es fahren keine Busse und Bahnen, das israelische Fernsehen stellt seinen Sendebetrieb ein, es ist der Tag der Ruhe und Reue, und er beginnt mit dem heutigen Sonnenuntergang. Weitere Regeln: kein Sex, keine Lederschuhe, weiße Kleidung. Der Tag wird in der Synagoge verbracht, mit einer Unterbrechung am Nachmittag für ein kleines Nickerchen.

Schon am normalen Sabbat befolgen viele das Gebot, am siebten Tag zu ruhen und nicht zu arbeiten. Gar nicht. Das bedeutete unter anderem früher: kein Feuer anzuzünden. Heute: kein Auto zu fahren (der Zündfunke), kein Licht anzumachen, nicht zu kochen. Ob Elektrizität erlaubt ist oder nicht, ob man einen Kühlschrank öffnen oder den Aufzug nehmen darf, also um alle Probleme, die alte Lehre in das moderne Leben zu übersetzen, darum gibt es viele – und viele lustvolle – Debatten. (Hier ein sehr hübscher Artikel über einen Rabbi, dessen Job die Schlupflöcher des Herrn sind.)

Doch wie immer, wenn der offizielle Betrieb ruht, beginnt ein geheimes zweites Leben. Heute, am Vorabend von Jom Kippur, drangen Kinderrufe hoch in meine Wohnung. Irgendwas war auf der Straße los. Ich ging noch einmal hinunter. Und tatsächlich: Die Kinder erobern sich an diesem Abend auf Fahrrädern, Skateboards, Inlineskates die leeren Straßen zurück so wie wir damals die verlassenen Straßen von 1973. (Übrigens dem Jahr des Jom-Kippur-Kriegs, als Ägypten und Syrien die Feiertagsruhe nutzten, um Israel zu überfallen – aber das ist eine andere Geschichte.) Es ist die entspannte, verspielte, übermütige und überhaupt nicht leise, sondern lebensfrohe Variante von Ruhe, wie ich sie so liebe. Ich habe gerade gegoogelt, ob man am Sabbat eigentlich joggen darf, und die Antwort war: solange es ein Vergnügen ist und keine Anstrengung – ja. Eine Auslegung, mit der ich leben kann.

Your time is limited. So don’t waste it living someone else’s life.

Volkskrankheit

Ich wundere mich seit Wochen – und ich gebe zu, von hier draußen ist das einfach – über all die Titelgeschichten zum Thema Burnout, die alle am entscheidenden Punkt vorbeischreiben und lieber hilflose Kästen über Atem- und Achtsamkeitsübungen drucken als grundsätzliche Fragen zu stellen. Das tut heute dankenswerterweise ein Zeit-Artikel – natürlich, ohne Antworten zu geben.

Volkskrankheit klingt nach etwas bequem Therapierbarem. Wie Volkskrankheit Parodontose, Volkskrankheit Fußpilz und Volkskrankheit Rückenschmerzen (aktueller Spiegel-Titel). Vor allem klingt es aber so, als ließe es sich vermeiden. Um diese Vorstellung herum ist in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Industrie entstanden, bestehend aus Wellnessoasen, Fitness-Centern, Yoga-Kursen und Ökoläden – als Burnoutprophylaxe. In solchen Entspannungsanstalten versorgt der Einzelne sein Humankapital genanntes Leben mit allem Nötigen, um seinen Arbeitsalltag weiterhin in bester Laune zu bestreiten und in jeder Zumutung noch eine spannende Herausforderung zu sehen.

Reasons to be cheerful, part 3

Tag 5 in Tel Aviv, und ich war noch immer nicht in der Innenstadt. Meine Monate folgen einem Muster, das mich anfangs etwas rasend gemacht hat: die erste Woche schreibe ich für meine diversen Auftraggeber über den vergangenen Monat. Ich sitze hier quasi mit scharrenden Hufen, muss aber erst mal Rückschau halten. Mittlerweile habe ich das zu schätzen gelernt. Es ist ein Abschied vom Alten, eine sanfte Landung im Neuen – und auch wenn man den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und nur kleine Ausflüge zum Strand oder Supermarkt macht, passiert eine Menge.

Kurzzusammenfassung: Nirgends habe ich bisher so viele schlecht gelaunte und ruppige, aber auch so viele charmante und flirtige Leute auf einem Haufen gesehen. Meine Supermarktkassiererin: ein Drachen, unlächelnd, bellend – aber gestern schob sie mir stumm eine Karte über den Tisch; ihre Kollegin erklärte: Die solle ich ab sofort immer mitbringen, das gebe Discount. Ich bedankte mich, sie lächelte immer noch nicht. Auf der Strandpromenade hält mich ein alter Mann am Arm fest, erzählt mir in bestem Englisch Geschichten von Andromeda und Perseus, hält am Ende meine Hand und baggert ganz entzückend und munter vor sich hin. Wie alt er sei, frage ich. 83. „Ach, wenn Sie nur drei Jahre jünger wären…“, sage ich. Er lacht und lässt mich ziehen.

Und ich bemerke eine Scheu an mir, die ich nirgendwo sonst auf der Welt habe. Wenn jemand versucht zu raten, woher ich komme („Dutch? Swedish?“), korrigiere ich nicht. Nirgendwo bin ich so ungern deutsch wie hier, ob zu Recht oder nicht, werde ich herausfinden.

Vorerst aber sitze ich noch ein wenig am Tisch, schreibe und schaue auf diesen Baum da oben. Was mich zu einem weiteren Rückschau-Ritual bringt: Jeden Abend schickt mir eine Website namens (dämlicher Name) Happy Rambles eine Mail mit der Frage, wofür ich an diesem Tag dankbar war. Ich antworte auf die Mail, fertig. Das Programm sammelt. Ich bin gespannt, am Ende des Jahres all meine Antworten zu lesen. Das Wissen, am Abend die Frage beantworten zu müssen, sorgt schon am Tag für größere Aufmerksamkeit für all die besonderen und gelungenen Momente (die es auch am Schreibtisch gibt: Heute wird eine der Antworten dieser blühende Baum sein). Als mich meine Freundin Rose im März in Indien besucht hat, hatten wir ein ähnliches Spiel. Jeden Abend haben wir uns gegenseitig gefragt: Was war heute das Schönste für Dich? In diesem Jahr ist so viel schön, dass etliches verloren geht. Auf diese Weise ein bisschen weniger.

Schnellschüsse

Wie immer sitze ich zu Beginn des Monats vorwiegend am Schreibtisch, um die Geschichten über den vergangenen Monat zu schreiben – es gibt immer ein bisschen Jetlag im Kennenlernen der neuen Stadt. (Das Geräusch, das Sie im Hintergrund hören, ist das Rasseln der Ketten – erst die Hausaufgaben, dann darf ich mit den anderen Kindern spielen.) Deshalb nur kurz ein paar Eindrücke.

Oh Gott, zerschossen, dachte ich, als ich das Haus aus dem Augenwinkel sah. Und merkte beim genaueren Hinsehen, wie sehr ich die Nahost-Bilder aus den Nachrichten im Kopf habe. Hier war nur ein ehrgeiziger Architekt am Werk, der ganz offensichtlich vorher mal in Barcelona gewesen sein muss. Gaudí reibt sich gerade im Grab die Hände.

Die stehen hier überall in den Straßen: mannshohe Drahtkäfige zum Sammeln von Plastikmüll. Nicht elegant, aber sehr wirkungsvoll: Die allgegenwärtigen und bei der Hitze sehr nötigen Wasserflaschen können so direkt entsorgt werden. Praktischer und praktizierter Umweltschutz.

Erstes Mahl (draußen) und erstes Mal (drinnen)

Ach, fangen wir doch gleich mit Essen an, warum nicht? Es führt bei mir ja doch kein Weg daran vorbei. Ich wohne nicht weit vom alten Hafen entfernt, der in den letzten Jahren zu einer holzbeplankten Restaurant- und Shoppingmeile umgebaut worden ist. Heute war es hübsch leer, der Sonntag ist hier wie unser Montag, ein normaler Arbeitstag nach dem gestrigen Shabbat. Auf eine Empfehlung hin habe ich Beni HaDayag angesteuert – alias Benny the Fisherman – und arglos eine gegrillte Brasse bestellt. Und bekam dann ein Schälchen, zwei Schälchen, fünf Schälchen, 14 Schälchen mit Vorspeisen hingestellt plus eine Schüssel Salat plus Pita – der Wahnsinn. Gebackene Aubergine (die einzige Art, wie ich Aubergine ertrage, den Fettschwamm unter den Gemüsen), Joghurt mit Dill, scharfe Tomatensauce, Pilzsalat, Kohlsalat, Tabbouleh… es hörte nicht auf. „Sie können von allem gern nachbestellen“, sagte die Bedienung. Ach, Mist. Dabei wollte ich Israel nutzen, um mich wieder in Form zu bringen; ich habe mich gerade für den Hamburger Marathon im April angemeldet – nur für den Fall, dass ich mich nächstes Jahr langweilen sollte. Die Brasse war dann auch ganz vorzüglich: einmal schnell drübergeflämmt, nur mit Zitrone serviert, noch brutzelnd serviert. Genau so, wie man Fisch haben will.

Beni HaDayag, Alter Hafen, Hangar 8

Tel Aviv ist, wenn man’s auf den Punkt bringen will, ein acht Kilometer langer Strand mit Stadt dahinter. Einer der nördlichsten Strände ist gleich auch einer der interessantesten: der orthodoxe Nordau Beach hinter einem Bretterzaun, der tageweise nach Geschlechtern trennt. Sonntags, dienstags und donnerstags können hier die Frauen baden, montags, mittwochs und freitags die Männer, Samstag ist zu. Heute lagen hier Orthodoxe mit verhüllten Haaren, die vollbekleidet schwimmen gingen, neben zwei jüngeren Frauen, die sich oben ohne sonnten – Nordau ist trotz oder wegen der strengen Sitten der einzige Strand in Tel Aviv, wo das möglich ist. Die Atmosphäre: entspannt; wie immer, wenn Frauen unter sich sind. Bisschen wie Damensauna. Bauch raushängen lassen und sich ungestört unterhalten – auch wenn die Bademeister männlich sind.

Nordau Beach, Shlomo Lahat Promenade. Feinster Sand, Duschen und Umkleiden, ein kleiner Fitnessbereich.


Neue Heimat 10

Ich bin am dritten Tag von Rosh Hashana gelandet, dem Neujahrsfest, das nach dem jüdischen Kalender auf Ende September oder Anfang Oktober fällt (übrigens ist unser „Guter Rutsch“ vermutlich eine Verballhornung von Rosh = Anfang). Schon beim Umsteigen in Wien standen Männer im Gebetsschal am Gate und beteten zum Rollfeld hinaus, in Tel Aviv fuhren wegen des Feiertags keine Busse und Bahnen, die Taxis nehmen 25 Prozent mehr. Dieses Jahr ist der Oktober der Monat mit den meisten jüdischen Feiertagen, einer der Gründe, warum ich ihn mir für Tel Aviv ausgesucht habe.

Die Wohnung liegt am nördlichen Ende der Ben Yehuda Street, 200 Meter vom Strand entfernt. Meine Vermieterin: Gabrielle, Tochter einer US-Amerikanerin und eines Brasilianers, in Hongkong geboren, in den Philippinen aufgewachsen, hat in London studiert – ein weiteres Weltenkind.

Das erste Mahl im neuen Heim: gekräutertes Hummus mit Kreuzkümmel-Crackern, Obstsalat aus Mango, Kaki und weißem Pfirsich, Grapefruitsaft. Auf einen frohen neuen Monat!

Was wir stattdessen gemacht haben

1. Dem Beach Boy in Sitges dabei zugeguckt, wie er mit einer Bosch ein Loch für unseren Sonnenschirm in den Strand bohrte.

2. Nachdem wir zuvor entzückt durch Sitges gestreift sind. 30 Minuten mit dem Zug von Barcelona entfernt, wunderschöne Promenade, hübsche Häuser, leere Strände. Das Museum hatte gnädigerweise zu.

3. Und nachts durch die Stadt gebummelt und Eis gegessen und einen späten Zug heim nach Barcelona genommen.

4. Der Pedrera aufs Dach gestiegen. Wieder Gaudí, klar. Wer sonst baut so ein Delirium?

5. Vom Dach aus über die Stadt geschaut. Und festgestellt: Die anderen Architekten hatten auch ein paar Tricks drauf.

6. Gerührt eines der Apartments besichtigt, hier das Kinderzimmer.

7. Sonntags im Parc Güell gewesen. Selten dämliche Idee. (Natürlich von mir.) Nichts wie weg.

8. Vier Törtchen bei Bubo gekauft. Drei davon für mich. Also ich finde das geradezu übermenschlich bescheiden.

9. Ein Konzert von Musikstudenten im Palau de la Música Catalana gehört. Der Bau ist ein weiteres Modernisme-Meisterwerk, diesmal von Lluís Domènech i Montaner. Eine wunderschöne Zumutung, genau wie das tolle Konzert, das mit Zeitgenössischem von einem serbischen Akkordeon-Duo endete. Noch nie gehört, so was. Ebenso wenig, wie ich je so einen Saal gesehen habe.

10. Geredet. Gegessen. Getrunken. Noch mehr geredet. Folgende Sätze könnten dabei gefallen sein:
a. „Den muss man angezogen sehen.“
b. „Mach ruhig voll.“
c. „So viel Pracht und dann kein Platz zum Staunen.“
d. „Gehört das so?“
e. „Desigual kann man doch nicht anziehen. Desigual ist wie üble Nachrede.“