Reasons to be cheerful, part 3
Tag 5 in Tel Aviv, und ich war noch immer nicht in der Innenstadt. Meine Monate folgen einem Muster, das mich anfangs etwas rasend gemacht hat: die erste Woche schreibe ich für meine diversen Auftraggeber über den vergangenen Monat. Ich sitze hier quasi mit scharrenden Hufen, muss aber erst mal Rückschau halten. Mittlerweile habe ich das zu schätzen gelernt. Es ist ein Abschied vom Alten, eine sanfte Landung im Neuen – und auch wenn man den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und nur kleine Ausflüge zum Strand oder Supermarkt macht, passiert eine Menge.
Kurzzusammenfassung: Nirgends habe ich bisher so viele schlecht gelaunte und ruppige, aber auch so viele charmante und flirtige Leute auf einem Haufen gesehen. Meine Supermarktkassiererin: ein Drachen, unlächelnd, bellend – aber gestern schob sie mir stumm eine Karte über den Tisch; ihre Kollegin erklärte: Die solle ich ab sofort immer mitbringen, das gebe Discount. Ich bedankte mich, sie lächelte immer noch nicht. Auf der Strandpromenade hält mich ein alter Mann am Arm fest, erzählt mir in bestem Englisch Geschichten von Andromeda und Perseus, hält am Ende meine Hand und baggert ganz entzückend und munter vor sich hin. Wie alt er sei, frage ich. 83. „Ach, wenn Sie nur drei Jahre jünger wären…“, sage ich. Er lacht und lässt mich ziehen.
Und ich bemerke eine Scheu an mir, die ich nirgendwo sonst auf der Welt habe. Wenn jemand versucht zu raten, woher ich komme („Dutch? Swedish?“), korrigiere ich nicht. Nirgendwo bin ich so ungern deutsch wie hier, ob zu Recht oder nicht, werde ich herausfinden.
Vorerst aber sitze ich noch ein wenig am Tisch, schreibe und schaue auf diesen Baum da oben. Was mich zu einem weiteren Rückschau-Ritual bringt: Jeden Abend schickt mir eine Website namens (dämlicher Name) Happy Rambles eine Mail mit der Frage, wofür ich an diesem Tag dankbar war. Ich antworte auf die Mail, fertig. Das Programm sammelt. Ich bin gespannt, am Ende des Jahres all meine Antworten zu lesen. Das Wissen, am Abend die Frage beantworten zu müssen, sorgt schon am Tag für größere Aufmerksamkeit für all die besonderen und gelungenen Momente (die es auch am Schreibtisch gibt: Heute wird eine der Antworten dieser blühende Baum sein). Als mich meine Freundin Rose im März in Indien besucht hat, hatten wir ein ähnliches Spiel. Jeden Abend haben wir uns gegenseitig gefragt: Was war heute das Schönste für Dich? In diesem Jahr ist so viel schön, dass etliches verloren geht. Auf diese Weise ein bisschen weniger.
Oktober 5th, 2011 at 08:31
Na dann: Grüße von Schreibtisch zu Schreibtisch. Mein mündliches Examen ist in drei Wochen und ich sitze daher auch nur am Schreibtisch. Ihr Blog ist seit August sozusagen mein “Baum” auf den ich schaue und der mir sagt: “Es gibt auch andere, wichtigere Dinge als Schiller, Sprachgeschichte und Artusepik”. Auch von mir daher mal ein Danke dafür!
Gestern waren übrigens Alexa, ihre Oma und Bella zu Gast bei Sabine Heinrichs auf eins-festival…
http://www.einsfestival.de/videos/1live_talk/1live_talk_videobox.jsp?video=/videos/1live_talk/video_xml/2011/111004_1live_talk.xml
Oktober 5th, 2011 at 09:13
liebe weltreisende, tel aviv, wie aufregend, steht auch auf meiner liste. habe mich gerade erst neulich mit freunden unterhalten, wie es wäre nach israel zu reisen, und wir alle hatten wohl ein ähnliches gefühl, wie das, was dich beschleicht, dieses land ist nicht irgendein reiseland, und wir wussten alle nicht genau, wie wir uns dann verhalten. können und dürfen wir uns in israel als normale touristen fühlen, nach so langer zeit, oder ist das ignorant und ist die frage an sich sinnvoll und richtig oder eher verklemmtes deutsches “immer alles richtig machen wollen”?
ich wünsche dir eine entspannte und spannende zeit
gabriele
Oktober 5th, 2011 at 09:17
Liebe Meike,
diese Scheu, “Deutsche” zu sein, erinnere ich von 1980. Ich dachte, da hätte sich etwas verändert… In der Oberstadt von Haifa sprechen viele deutsch, weil dort der Ankunftshafen war und viele dort blieben. Aber ob Deutsche dort “willkommener” sind?
Am 8. ist Jom Kippur, sehe ich gerade auf meinem Israel-Kalender. 2004 waren wir zu der Zeit in einem Kibbuz.
Eine Frage bzw. Erinnerung: unter der Städte-Aufzählung befindet sich Tel Aviv noch nicht.
Herzliche Grüße !
Oktober 5th, 2011 at 09:32
Happy Rambles gefällt mir! Ich selbst stelle seit einiger Zeit immer eine Collage der vergangenen Woche in meinen privaten Blog, auch das macht schon aufmerksamer dem Leben gegenüber. Ich finde, das sind schöne Maßnahmen gegen die Vergeßlichkeit in unserer gefühlten Schnellebigkeit.
Oktober 5th, 2011 at 10:09
Schon vor gefühlten Ewigkeiten habe ich auf Anregung einer Freundin (als es “mal” mir nicht so gut ging) begonnen, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen. In zufriedenen Zeiten vergesse ich, es aufzufüllen. Läuft’s mal wieder unrund, krame ich es hervor: selbst kurzes Lesen entlässt mich dann fröhlich und kraftvoll.
Sehr empfehlenswert – ist (wie Lächeln) ganz kostenfrei und tut so wohl!
Oktober 5th, 2011 at 11:47
also dieser Monat in Israel interessiert mich auch ganz besonders!
Oktober 5th, 2011 at 11:49
Liebe Meike,
Unabhängig voneinander reisen mein Mann und ich, jeder an seinem PC, mit Ihnen um die Welt. Eine wunderbare Bereicherung, dafür ein sehr herzliches Dankeschön. “Hast du schon Meike Winnemuth gelesen?” gehört mit zu unserem täglichen Gedankenaustausch. Ihre Unterhaltung mit dem alten Mann veranlasste meinen Mann heute zu folgendem Kommentar: ” Man muss diese charmante Frau einfach lieben.”
So ist es.
Oktober 5th, 2011 at 12:05
Wir waren letztes Jahr in Tel Aviv und hatten eine ähnliche Scheu vor unserer Nationalität. Die erwies sich aber schnell als unbegründet, wir haben nach einigen Tagen offen zugegeben, Deutsche zu sein und wir hatten kein einziges negatives Erlebnis, Israelis und speziell die Tel Aviver sind super und offen und lassen einen nie fühlen, was die Großelterngeneration verbrochen hat, ich hab mich selten so wohl gefühlt wie in dieser Stadt.
Und unabhängig davon: Bei Tony Vespa auf der Rehov Dizengoff Pizza kaufen, dazu ne flasche Bier und dann den Sonnenuntergang am Strand genießen – ein Traum!
Oktober 5th, 2011 at 12:42
@Sandra: Tony Vespa? Was ist das denn bitte für ein genialer Name! Liegt außerdem 600 Meter von meiner Wohnung entfernt – danke, wird getestet.
@Annelie und Rebecca: danke!
Oktober 5th, 2011 at 13:34
Liebe Frau Winnemuth,
auch wir haben im Frühjahr die Erfahrung in Jerusalem und Tel Aviv gemacht, dass es keinerlei unangenehme Reaktionen o.ä. auf unser “Deutschsein” gab, im Gegenteil – häufig wurde dann die Sprache von Englisch auf Deutsch gewechselt.
Wir haben allerdings auch erfahren, dass viele Menschen – vor allem Hotelpersonal – so unfreundlich ist, wie ich das bisher kaum erfahren habe. Ich kam mir manchmal vor wie in der vielzitierten Servicewüste Deutschland.
Aber glücklicherweise haben wir auch viele positive Erlebnisse gehabt.
Zwei Tipps noch:
1.) Besuchen Sie das Weizmann-Institut in Rehovot und versuchen eine Führung zu bekommen. Ich wurde von Andrea betreut, sie hat viel interessantes über Chaim Weizmann und die Geschichte Israels zu erzählen gewusst. Vor allem das Privathaus von dem Ehepaar Weizmann wird Ihnen gefallen!
2.) Fahren Sie nach Abu Gosh (http://en.wikipedia.org/wiki/Abu_Ghosh) und besuchen das Restaurant von Jawat Ibrahim, der noch mehr Geld als Sie gewonnen hat und diesen Gewinn vor allem in sein Restaurant bzw. in die Infrastruktur seines Heimatdorfers gesteckt hat (http://www.sueddeutsche.de/politik/-facher-lottomillionaer-das-glueck-ist-mit-dem-friedvollen-1.849880-4). Eine wirklich anrührende Geschichte…
Das Dorf an sich ist auch interessant, da es im kleinen viel über die verzwickte Politik in diesem Land erzählt.
Weiterhin viele gute Begegnungen!
Claudia F.
Oktober 5th, 2011 at 15:32
Ach ich find es einfach nur genial hier mitzureisen und so nette Menschen zu treffen.
So schön!
♥ Franka
Oktober 5th, 2011 at 16:33
Also ich habe auch nur positive Erfahrungen gemacht wenn die Israelis erfahren haben, dass ich aus Deutschland komme. Häufig war es dann auch so, dass es hieß meine Großeltern kamen aus Frankfut/ Berlin etc. Außerdem versuchen mittlerweile sehr viele, vor allem junge Olisraelis die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Deutschland wird als zuverlässigster Partner Israels betrachtet. Also keine Scheu!
Weitere Tips wären auch noch das Künstlerdorf Ein Hod, welches bei dem Brand 2008 fast zerstört wurde. Sehr spannend und außerdem im Carmelgebirge und damit ein wenig kühler als vor allem Tel Aviv. Weiterhin kann ich nur wärmstens eine Besichtigung des Kibbuz im Jordantal empfehlen. Habe grad den Namen vergessen, aber einfach im Internet unter “Bio-Bees” gucken. Sie sind eines der wenigen religiösen Kibbuzim (sehr liberal) und haben sich auf biologische Landwirtschaft spezialisiert und auf die Produktion von z.B. Bienen zum Bestäuben von Pflanzen. Super nette Leute und einfach spannend! Außerdem lebt dort ein junger Deutscher aus Berlin (Jonas) der Aliya gemacht hat und grad seinen Militärdienst ableistet. Er hat dort seine Gastfamilie gefunden und kann sehr interessant darüber erzählen warum er nach Israel gegangen ist. Und wenn Sie hinfahren sollten, grüßen Sie ihn bitte schön von Leoni von der DIG Berlin!
Weiterhin viel Spaß und danke für die Berichte und Fotos. Ich Genosse sie sehr, auch wenn ich furchtbare gerne wieder zurück möchte!
Ach ja, das Jizaak Rabin-Museum kann ich auch sehr empfehlen. Ein guter Einblick in die israelische Geschichte!
Nini-Meta
Oktober 5th, 2011 at 18:07
Das Abendritual mit meinen Töchtern beinhaltet immer die Frage nach dem blödsten und schönsten Moment(en) des Tages. Vielleicht sollte ich die auch festhalten – ob nun bei Rambles oder im Blog oder in einem traditionellen Tagebuch. Danke für den Tipp!
Oktober 5th, 2011 at 19:04
Hallo Meike,
ich habe vor einiger Zeit für mich die Routine eingeführt, mich jeden Abend zu fragen wofür ich danke sagen kann und das bereichert mein Leben, weil es mir vor Augen führt wie gut es mir geht und das es selbst an einem als schlecht oder nervig empfundenen Tag immer noch viel gibt was gut war.
Es gibt zur Zeit etliche Berichte darüber, dass Deutschland und insbesondere Berlin ein Top-Urlaubsziel der Israelis ist und ich glaube nicht, dass sie die deutsche Landschaft und Architektur lieben und die Menschen hassen. Also: Sie sind deutsch, sie sind Meike – stehen Sie dazu
Ich liebe Ihre Blog!
Oktober 5th, 2011 at 19:24
Dieses “ich bin leider deutsch” kenne ich von einem längeren Aufenthalt in Paris, als irgendwie alle meine neuen Bekannten Juden waren. Aus der ganzen Welt. Aber mit französischer Verwandtschaft. Manchen Abend wäre ich gerne Griechin oder Argentinierin gewesen. Schwedin oder Holländerin glaubt mir keiner. Ich bin gespannt, wie es so wird in Tel Aviv.
Oktober 5th, 2011 at 19:42
Hallo Meike
nachdem ich Deine Passage mit Happy Rambles gelesen hatte, habe ich mir gleich ein kleines Büchlein genommen und begonnen meine Dankbarkeitsdinge für den heutigen Tag aufzuschreiben.
Den Tip zu Deiner Seite gab mir der Blog einer Bekannten (dies ist heute der zweite Punkt auf meiner Liste).
Es kommt alles zur rechten Zeit! Wie schön das zu wissen.
Danke
Petra
Oktober 5th, 2011 at 19:47
Aha – Dein Limit bei Männern ist 80….Köstlich, Dein Humor. Habe schallend gelacht!
Oktober 5th, 2011 at 20:05
Ich hatte mal zwei Jahre lang nervenzerfetzende Rückenschmerzen, gegen die kein Medikament half. Seitdem erfüllt mich jeder schmerzfreie Tag mit einer gigantischen Dankbarkeit.
Oktober 5th, 2011 at 22:55
Toll diese Seite, ich hab mich direkt angmeldet. Wir sind viel zu selten dankbar für die Kleinen Dinge im Leben und streben ständig nach mehr.
Oktober 7th, 2011 at 10:25
In Israel bin ich immer mein besseres Ich. Keiner nimmt’s dir übel, wenn du deine Meinung sagst! Und nirgendwo auf der Welt sind die Menschen meiner Meinung nach herzlicher! Und sie selbst! Wie gern würde ich jetzt mit dir tauschen und bei der ruppigen Kassiererin anstehen…
Als halb Deutsche und halb Israelin (geht das überhaupt? Ganze Deutsche und ganze Israelin trifft es wohl eher) konnte ich auch von klein auf ohne Hemmungen mit meinem deutschen Vater LAUT in Israel deutsch sprechen. Nur zu, sei auch du du selbst.