Blaue Stunde

Donnerstag, 22. September 2011

Es gelingt mir nicht in jeder Stadt, aber in den meisten: ein Hotel in der Nähe meiner Wohnung zu finden, das ich als Zweitwohnsitz nutze. Oder Zweitliegesitz, siehe oben. Gern sehr früh oder eher spät am Tag. In Barcelona ist es das recht defensiv getaufte Grand Hotel Central bei mir um die Ecke. Das Hotel hat einen kleinen Swimmingpool auf dem Dach im siebten Stock mit schönem Blick über den Born – Santa Maria del Mar drei Zentimeter links neben meinem großen Zeh (OPI „Big Apple Red“, Sandalen: Colaba Causeway/Mumbai; haben bis jetzt überlebt, Respekt), dahinter unsichtbar in der Ferne das Meer – und spielt abends zum Sonnenuntergang nettes chilliges Zeug.

Ich habe immer das Prinzip des third place sehr richtig gefunden: einen dritten Ort neben Zuhause und Arbeitsstelle zu haben, eine Art Druckausgleich zwischen dem Einen und dem Anderen (ich erwähnte es schon einmal anlässlich eines Londoner Clubs). Ich in meinem Home Office-Leben brauche also zumindest einen second place. Cafés sind gut, Eckkneipen sind besser, Hotels sind am besten; keine Ahnung, warum. Vielleicht weil man hier im Notfall sogar ein Bett finden würde. Dieser Notfall tritt natürlich nie ein, aber allein die Idee beruhigt.

Grand Hotel Central, Via Laietana, 30.

Mittwoch, 22.47 Uhr, Passeig de Born

Mittwoch, 21. September 2011

Round the bend

Mittwoch, 21. September 2011

An der Casa Batlló von Antoni Gaudí bin ich schon ein paarmal vorbeigekommen (zur Erinnerung: so sieht es von außen aus, rechts), ohne dass ich mich bislang dazu aufraffen konnte, mich in die Schlange zu stellen und 18 Euro zu zahlen für etwas, das ich vermutlich nicht mal mögen würde. Bunte Fassaden und organische Formen sind nicht so meins, ich denke dann immer gleich: Kindertagesstätten-Architektur. (Danke, ich weiß selbst, dass ich in dieser Hinsicht ein Banause bin.) Ein großer Jugendstil-Fan war ich auch nie. Deshalb habe ich mich heute eher seufzend aufgemacht: Wat mutt, dat mutt. Und stand dann mit offenem Mund in diesem Haus. Wahnsinn, sagt jeder. Ist auch Wahnsinn. Ist durchgeknallt, verrückt, genial, nie gesehen – und erstaunlicherweise sofort einleuchtend, wenn man erst mal durch die Räume geht. Natürlich! denkt man, genau so müssen Treppengeländer und Türgriffe sein, so müssen sie sich in die Hand schmiegen. Und logisch!, diese Bögen mit ihren kiemenartigen Belüftungsschlitzen: perfektes Klimamanagement. Und die blauen Kacheln des Innenhofs, die von oben nach unten immer heller werden, um möglichst viel Licht in die unteren Stockwerke zu leiten – klar! Die Teletubbieland-Schornsteine, das drachengeschuppte Dach – okay, da hatte der Mann einfach nur Spaß, aber die architektonischen Details im Inneren haben mich restlos überzeugt. Immer wieder schön, sich seine eigenen Vorurteile austreiben zu lassen. Auch das ist Reisen: ein Richtigrücken, ein Überprüfen alter Überzeugungen. Und die eine oder andere wird dann einfach achtkant über Bord geworfen.

Casa Batlló, Passeig de Gracià 43. Täglich von 9 bis 21 Uhr geöffnet. Nicht schnöde den unglaublichen Museumsshop verpassen!

Sesshaft

Sonntag, 18. September 2011

Vielleicht liegt es an den Straßen, dass ich kaum aus dem Born heraus komme. Oder heraus will. Diese engen Gassen, die das Viertel durchziehen und durch die kein Auto passt, haben eine seltsame Wirkung: Sie lassen die Stadt zusammenschnurren auf ein Dorf. Meine Zehner-Karte für die U-Bahn habe ich bisher zweimal benutzt und beide Male ist mir die Fahrt wie eine Expedition vorgekommen, irgendwie unnatürlich und mit einer Anstrengung verbunden, über die ich in jeder anderen Stadt gelacht hätte. Das Gehen dagegen scheint die richtige Fortbewegungsart in diesem Monat zu sein. Sofern ich mich überhaupt bewege: Zuerst habe ich mich über die überall in den Straßen herumstehenden Armlehnstühle gewundert, die um Längen bequemer und einladender sind als die deutschen Fußgängerzonenbänke; jetzt nutze ich sie selbst. Ich stelle meine Einkaufstasche daneben, setzte mich und gucke ein bisschen, höre den Frauen beim Plaudern zu und gehe dann nach zehn Minuten weiter.

Das Dorf-in-der-Stadt-Gefühl kenne ich von zuhause, von Hamburg-St. Georg; vielleicht fühle ich mich deshalb so wohl im Born. Vielleicht hatte ich auch nach all den Weltstädten Sehnsucht nach einem kleineren Kosmos, nach Vertrautheit und Überschaubarkeit. Jedenfalls ertappe ich mich dabei, immer wieder dieselben Orte, Bars, Obststände anzusteuern. Bisher ging es mir immer darum, so viel wie möglich mitzunehmen, hier: so wenig wie nötig. Schneller als in anderen Städten habe ich in Barcelona Routinen entwickelt: den Spaziergang im Park, den Feierabend-Cava im Vinya del Señor. Kann schon sein, dass es irgendwo am anderen Ende der Stadt eine bessere Bar gibt, es ist mir herzlich egal; die Jagd ist für diesen Monat eingestellt. Was ich habe, genügt mir völlig. Sicher kein Zufall, dass gerade in Europa die Kreise, die ich ziehe, wieder kleiner werden, die Wege kürzer und die Tage ruhiger. Vielleicht bin ich aber auch, je länger das Jahr dauert, immer weniger Tourist, immer mehr angekommen in der Fremde.


Um die Wurst

Samstag, 17. September 2011

Bratwurst. Man möchte meinen: deutsch. Von wegen: katalanisch, zumindest wenn es um den Einfallsreichtum geht, mit dem hierzulande Würste gemacht werden. Die botifarra – vorausgesetzt, man kauft sie hier – gibt es mit Feigen und Zwiebelconfit, mit Spinat und Pinienkernen, mit Foie Gras, mit Whisky und grünem Pfeffer, mit Oregano, mit Cidre und Ziegenkäse, mit Curry-Apfel, mit Schnittlauch und Minze, mit… Ich habe, überwältigt, erst mal mit den Klassikern angefangen: einmal natur, einmal scharf, beide super. Eine tolle gekräuterte Paté mit Mango ham se auch. Und Käse. Und Seligkeit.

La Botifarreria, carrer Santa Maria 4

Leib & Magen

Samstag, 17. September 2011

Die Kamera hat auch mal Siesta (der Akku war alle), deshalb heute ein paar iPhone-Bilder, mit Hipstamatic aufgenommen. Wahnsinnig passend, denn diese Tapasbar ist very hipstamatic: Cova Fumada ist einer dieser Läden, an denen man vorbeigeht, wenn man nicht weiß, dass sie da sind. Kein Schild, keine Speisekarte, nichts. Man findet ihn höchstens anhand der Leute, die um die Mittagszeit vor der Tür lungern, um einen Platz an der Bar oder gar an einem Tisch zu ergattern. Wer eine realistische Chance haben möchte, kommt um 12.30 Uhr oder früher, sie machen um 9 Uhr morgens auf.

In der offenen Küche (die schon offen war, bevor man offene Küchen hatte), schnippelt und brutzelt die Familie, hin und wieder trägt eine der Töchter einen Teller mit gambas oder frischer botifarra (das kriegen wir später) aus dem Kühlschrank im Nebengebäude durch das Restaurant. Die Gäste: eine Mischung aus Straßenkehrern in hellgrünen Westen, Verkäufern vom gegenüberliegenden Markt von Barceloneta und Damen mit Goldtäschchen. Irgendwann tauchten ein Gitarrero und ein Sänger auf, ohne sonderlich zu stören. Zwei fetzige Lieder, Abgang. Zu essen bestellt haben wir: dickes geröstetes Brot mit Aioli, gebratene Artischocken, Miesmuscheln in Tomate, Sardinen, bacalao (Stockfisch. Hasse ich normalerweise, hier nicht), Kichererbsen mit Blutwurst, Zimt und Pinienkernen. Und eine bomba, die Erfindung des jüngst verstorbenen Altvorderen: eine Kartoffelkrokette mit Aioli und scharfer Sauce. Alles köstlich. Dazu Wein in kleinen Gläsern. Vielen kleinen Gläsern. Sehr vielen kleinen Gläsern.

La Cova Fumada, carrer Baluard 56, Montag bis Freitag 9 bis 15 Uhr, Donnerstag und Freitag auch 18 bis 20 Uhr. Ab 14.20 Uhr ist vorn geschlossen, dann kann man immer noch durch den Hintereingang rein und was zu essen kriegen. Wenn man nett fragt.

Pflasterstrand

Freitag, 16. September 2011

Ich war – ich trau mich kaum, es zuzugeben – bislang erst zweimal am Strand, so richtig mit Braten & Wenden, jeweils für drei Stunden. Länger halte ich es inzwischen selten aus, dazu ist es mir dann doch zu öde. Auch wenn die Barceloneser Jungs (oben bei der Arbeit) alles tun, um eine hübsche Aussicht herzustellen. Beim Strand von Barceloneta stellt sich außerdem die Frage, die ich gleich mal an einen Geologen weiterreichen möchte: Bis wann ist es Sand, ab wann ist es Dreck? Hängt sicher von der Körnergröße ab. Hier hat sich jedenfalls eine hinreichende Menge von Großstadtstaub in den künstlich aufgeschütteten Strand gemischt – kein ungetrübtes Vergnügen also, und aus gutem Grund steht alle hundert Meter eine Duschanlage.

Mies

Donnerstag, 15. September 2011

Nur damit ich das richtig verstehe: Du hast zehn Tage am Schreibtisch gesessen und an deinem ersten freien Nachmittag tust du was? Noch nicht die Sagrada Familia gesehen, auch nicht Parc Güell, überhaupt: gar nichts, aber diese… diese Kiste guckst du dir an? Man muss Prioritäten setzen. Und deine Priorität ist ein – es ist ja noch nicht mal ein Haus, es sind ja nur ein paar Wände… Aber was für Wände! Travertino, grüner Marmor, Onyx doré! Die schönsten Wände der Welt, die in genau den richtigen Winkeln zueinander stehen. Aber die sind noch nicht mal original! Den Original-Pavillon haben sie 1930 abgerissen und erst 1986 wieder aufgebaut! Nur für Idioten wie dich. Und dann dieser Sessel… Ja, ist der nicht einfach wunderschön? Eine Designikone! Ein Sessel, den man mit zwei Strichen zeichnen könnte, jeder erkennt ihn sofort. Aber unbequem! Überhaupt nicht! Du hast dich doch nicht etwa reingesetzt, obwohl das streng verboten ist? Ähm… Na toll. Recherche! Klar. Und ich habe natürlich auch die sensationellen Glas-Schwingtüren geschlossen, muss man doch mal ausprobieren, ob die funktionieren. Du hast was? Wo sind eigentlich immer diese Wachen, wenn man sie mal braucht? Keine Wache. Nur ein Junge mit einem Handy, der einem Geld abknöpft. Ich bin nicht mal sicher, ob der überhaupt amtlich war. Aha. Und sonst so? Wunderschöner Bau. Irrsinnige Ruhe. Großartige Raumgestaltung. Ein Haus wie gezeichnet, paar simple Linien, fertig. Schwerelos, trotz der Tonnen an Stein. Die Wasserbecken! Wie Spiegel. Aber vor allem: der grüne Marmor! Diese Struktur! Adern wie Hochgebirgszüge. Ganz glatt, aber trotzdem mit diesem irren 3D-Effekt. Als ob der Stein atmet. Könnte ich stundenlang vor sitzen. Könnte ich heute eigentlich schon wieder angucken. Seufz. Du bist wirklich nicht zu retten.

Ludwig Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon, Av. Francesc Ferrer i Guàrdia 7

Draußen

Dienstag, 13. September 2011

Ich werde langsam selbst zum Schattengewächs: immer noch Schreibtischmarathon, nur kurz zum Markt für frisches Obst. Aber zumindest das hier: El Born, meine kleine, nervige, wunderbare Heimat auf Zeit.

Schattengewächse

Montag, 12. September 2011

Seltsam, wie man sich gelegentlich in Bauten verguckt, die gar nicht (oder höchstens in einem Nebensatz) im Reiseführer stehen. In meinem Fall ist es das Umbracle, das Schattengewächshaus im Parc de la Ciutadella, 1888 zur Weltausstellung gebaut. Ich bin bislang noch jeden Tag dort vorbeigegangen in der Hoffnung, dass jetzt endlich mal die Kette und das Schloss vom Tor entfernt wurde und man reinkönnte. Nein, heute wieder nicht. Aber ich gucke trotzdem jedes Mal durch die Holzlatten und staune den Dschungel im Inneren an. Das Umbracle ist eine Art verschatteter Wintergarten für Pflanzen, denen die katalanische Sonne einfach zu viel ist. Darunter sind erstaunlicherweise viele Palmen und Bananen, denen man mehr zugetraut hätte. Der Bau besteht aus zwei Backsteinfassaden und einer wogenden Holzlattenkonstruktion, die heute ziemlich verwittert ist. Ich kann nicht sagen, warum, aber er rührt mich einfach.

Hier kann man einen 360-Grad-Rundgang im Inneren machen.