Sesshaft

Vielleicht liegt es an den Straßen, dass ich kaum aus dem Born heraus komme. Oder heraus will. Diese engen Gassen, die das Viertel durchziehen und durch die kein Auto passt, haben eine seltsame Wirkung: Sie lassen die Stadt zusammenschnurren auf ein Dorf. Meine Zehner-Karte für die U-Bahn habe ich bisher zweimal benutzt und beide Male ist mir die Fahrt wie eine Expedition vorgekommen, irgendwie unnatürlich und mit einer Anstrengung verbunden, über die ich in jeder anderen Stadt gelacht hätte. Das Gehen dagegen scheint die richtige Fortbewegungsart in diesem Monat zu sein. Sofern ich mich überhaupt bewege: Zuerst habe ich mich über die überall in den Straßen herumstehenden Armlehnstühle gewundert, die um Längen bequemer und einladender sind als die deutschen Fußgängerzonenbänke; jetzt nutze ich sie selbst. Ich stelle meine Einkaufstasche daneben, setzte mich und gucke ein bisschen, höre den Frauen beim Plaudern zu und gehe dann nach zehn Minuten weiter.

Das Dorf-in-der-Stadt-Gefühl kenne ich von zuhause, von Hamburg-St. Georg; vielleicht fühle ich mich deshalb so wohl im Born. Vielleicht hatte ich auch nach all den Weltstädten Sehnsucht nach einem kleineren Kosmos, nach Vertrautheit und Überschaubarkeit. Jedenfalls ertappe ich mich dabei, immer wieder dieselben Orte, Bars, Obststände anzusteuern. Bisher ging es mir immer darum, so viel wie möglich mitzunehmen, hier: so wenig wie nötig. Schneller als in anderen Städten habe ich in Barcelona Routinen entwickelt: den Spaziergang im Park, den Feierabend-Cava im Vinya del Señor. Kann schon sein, dass es irgendwo am anderen Ende der Stadt eine bessere Bar gibt, es ist mir herzlich egal; die Jagd ist für diesen Monat eingestellt. Was ich habe, genügt mir völlig. Sicher kein Zufall, dass gerade in Europa die Kreise, die ich ziehe, wieder kleiner werden, die Wege kürzer und die Tage ruhiger. Vielleicht bin ich aber auch, je länger das Jahr dauert, immer weniger Tourist, immer mehr angekommen in der Fremde.


20 Antworten to “Sesshaft”

  1. Uschi aus Aachen Says:

    Vielleicht kann man auch nicht unendlich lange unentwegt neugierig sein, sondern braucht irgendwann auch mal eine Phase von mehr Muße… Ich glaube jedenfalls, daß es mir so ginge.

  2. Penelope Says:

    Das hört sich alles sehr gemütlich und heimelig an – vermittelt ein Gefühl des “Bei-sich-seins” und der Achtsamkeit für seine Umgebung. Wo ich bin, da bin ich. *-*

  3. susanne Says:

    eine wunderbare, sehr intensive Art eine Stadt kennenzulernen. Sich im “eigenen” Kiez zu bewegen, eine Stammcafe zu haben, wo der Ober schon weiß, dass man den Cafe con leche mit einem Croissant zu sich nimmt, den gleichen Obsthändler vertraut zu begrüßen, im gleichen Kiosk morgens seine Zeitung zu holen, Im mercato zu wissen, wo es den frischesten Fisch gibt, das ist das wirkliche Angekommensein auf einer Reise. Anders kann man diese große, ungetüme Stadt auch nicht begreifen und erLEBEN. Das Born ist ohnehin das Herz dieser Stadt. Pablo, Mies, Joan und Antoní kann man zwischendurch geniessen.

  4. Ulrike Says:

    Entschleunigung und Müßiggang sind wertvoll und lassen einen auftanken. Ich finde es fantastisch, sich so seine Akkus wieder aufzuladen und seinen Blick einfach schweifen zu lassen ohne ein Ziel anzuvisieren. Weiter so… ich finde es steht Dir gut.

    LG Ulrike

  5. saxana Says:

    Ja so ist Reisen am angenehmsten. So könnte ich es eventuell auch noch angehen. Und, ich bräuchte mich dabei nicht zu schämen, da Sie es mir ja vormachen. Und Sie wissen ja mitlerweile, wie man reist, und wie man irgendwo ankommt.

  6. Nelly Fleckhaus Says:

    Liebe Meike,
    heute Abend steht St. Georg für mich auf dem Programm. Ich besuche einen alten Freund, der schon viele Jahre in der Böckmannstraße lebt. Ansonsten überlegen wir, ob wir uns in St. Georg eine kleine Wohnung – schwer zu finden, klar suchen sollen oder anderswo in Hamburg.

  7. jule Says:

    Barcelona, bummelig. ;-)

    Schön, dass Du diese Entspanntheit und Genügsamkeit so empfindest und genießt, statt unter Versäumnispanik oder Optionenparalyse zu leiden.

    Da kommt auch wieder Deine Hawaii-Erkenntnis ins Spiel: Du musst keine Erwartungen erfüllen – nicht einmal Deine eigenen. Am besten so leben, wie es Dir gut tut.
    Sich Städte bzw. Stadtviertel zu Fuß anzueignen, macht Spaß. Rituale auch, wenn sie nicht den faden Geschmack von Routine haben. Rituale – eine Art Heimat?

    Und falls irgendwer meint, unheilvoll mitteilen zu müssen, dass Du das später irgendwann bereuen werdest, weil doch Stadt X so viel zu bieten habe und Du die Zeit gar nicht “genutzt” habest – entspannt zurücklehnen. Maßstab sind die eigenen Kapazitäten.

    Es gibt jeden Tag an jedem Ort enorm viel, was man versäumt, verpasst, nicht hört, nicht sieht, nicht erlebt, nicht macht – auch in der Stadt, in der man seit Jahren lebt und zuhause ist. Diese Erkenntnis hat mir ungeduldigem Menschen zu Gelassenheit verholfen. Hauptsache, ich habe Freude an dem, WAS ich höre, sehe, erlebe, tue, koste Phasen der Entdeckungslust aus – und gönne mir dann auch wieder saumselige Freiheit.

    Da kann ein Kiez oder auch nur mein Zuhause auch mal einige Zeit zu einer angenehmen Insel werden.
    Für diesen Zustand schlage ich analog zu “Habseligkeiten” den Begriff “Inseligkeit” vor. ;-)

    Kommt Zeit, kommt Aufbruch.

  8. nico Says:

    wie gemütlich das alles aussieht… so klingt die reise doch total entspannt aus.. herrlich… und ich freue mich schon auf die kommenden monate…

    so kanns weiter gehen.. weiterhin viel viel freude, ruhe, entspannung und tolle momente…

    liebste grüße

  9. Sonja Says:

    Ich finde das toll. Du wolltest ja ausdrücklich nicht ein Jahr lang durch verschiedene Städte reisen, sondern in verschiedenen Städten leben – und genau das macht den Unterschied zwischen Reisen und Leben doch aus, oder? Dass man Routine hat und nicht von einem must-do zum anderen hetzt. Das würde man doch auch gar nicht ein Jahr am Stück durchhalten, man braucht auch ein bisschen Routine… und auch mal einen Pausenmonat wie Hawaii und auch mal ruhigere, routine-lastigere Monate wie eben Kopenhagen und Barcelona.
    Wir freuen uns trotzdem, ach was, genau deshalb, dass wir hier bei dir mitlesen, mitreisen und mitträumen dürfen!
    Alles Liebe!
    Sonja

  10. Peter Says:

    Ein wunderbares Bild, das mit dem Weißwein im Vordergrund und dem großen Kirchenportal! Dank für die vielen, so verschiedenen, aber immer guten Bilder!

  11. Karin & Nick Says:

    Liebe Meike,

    das ist kein Kommentar sondern ein dickes DANKESCHÖN!!! Als wir letzte Woche aus dem Urlaub kamen, hat Nick einen Umschlag aus Dänemark vorgefunden und sich gewundert wer ihm da schreiben würde – die Überraschung was riesig und er hat sich sehr gefreut über den Ersatz seines Alcatraz-Infoblattes. Also vielen, vielen Dank! Alles Liebe und weiter viel Freude, Neugierde, Erfahrung und besonders Spaß. Karin & Nick

  12. Kristiane Says:

    Was Sie über Ihre Zeit in Barcelona schreiben, erlebe ich “generell”. Die Neugier lässt nach, der Tatendrang wird weniger, es wird mir immer egaler, ob es vielleicht irgendwo was Besseres oder Tolleres gibt als das, was ich gerade habe. Dafür lerne ich, genauer auf das zu sehen, was in meiner unmittelbaren Nähe ist. Da habe ich früher (erschreckend) viel Hochinteressantes verpasst. Viel Nachholbedarf also.

  13. Arne M. Says:

    Interessante Frage, ob es Zufall ist, dass die Kreise ausgerechnet in Europa kleiner werden. Wie hätte es ausgesehen, wenn Sie die Städte in umgekehrter Reihenfolge bereist hätten?
    Dass Sie weniger Tourist seien, kann ich mir nicht vorstellen. Sie sind für mich nicht auf Urlaubsreise, sondern legen arbeitstechnisch ein (neudeutsch) Home-Office-Jahr ein, bei dem Ihr Home ein wenig durch die Welt mäandert.

  14. Gisela Says:

    Liebe Meike,
    mit Barcelona hast Du uns wieder in einen interessanten Teil unserer schönen Welt entführt. Vielen lieben Dank für all die guten Gedanken und das Gefühl für mich, mitreisen zu können!
    Besonders freue ich mich auf Tel Aviv, das sogar schon auf der Reiseroute markiert ist…
    Viel Freude weiterhin!

  15. Gisela Says:

    Und noch etwas:
    Phantastisch, beeindruckend,
    dieser “Wasser”-Beitrag von heute: “Isang Litrong Liwanag, ein Liter Licht”.
    Vielen Dank !

  16. Sonja Says:

    @Arne: Ganz wunderbar ausgedrückt, “ein Home-Office-Jahr ein, bei dem Ihr Home ein wenig durch die Welt mäandert”. Ganz toll!

  17. Tina aus OWL Says:

    @ Frau Winnemuth: Irgendetwas ist bei “12 Städte in 12 Monaten” durcheinander geraten, zumindest bei mir, denn laut den roten Pfeilen sind Sie gerade in Barcelona UND Tel Aviv… Außerdem fehlen auch die Städte, in denen Sie bisher waren und die, in die Sie noch reisen. Vielleicht haben ja noch andere das Problem mit der Ansicht?!

  18. Alicia Says:

    Schön, dass es dir in Barcelona so gut geht, geniess die Zeit! Wir sind schon gespannt auf deine nächsten Abenteuer! Und generell sehr begeistert, dass du uns an allem teilhaben lässt. :) Hach ja, Barcelona, wirklich eine wunderschöne Stadt. Schön viel weiter essen und ausruhen und Seele auffüllen.

    P.S: Ja, die 12 Städte in 12 Monaten Ansicht ist bei mir auch durcheinander + es fehlt die Aufzählung der Städte, in die Meike noch reisen möchte bzw. schon gereist ist.

  19. Tina aus OWL Says:

    Jetzt klappt wieder alles bei “12 Städte in 12 Monaten” :-)

  20. HollyGolightly Says:

    @kristiane: sehr gut beschrieben. genau so geht es mir auch. man wird gelassener.
    aber natürlich auch in dem wissen, daß man doch bereits sehr viel rumgekommen ist. da weiß ich nicht, ob das sonst auch der fall wäre, oder man doch eine art nachholbedürfnis hätte.