Mein Koffer hat sich in den letzten sechs Monaten sechs Kilo Übergewicht angefressen, ebenso wie ich. Im Fall des Koffers kostet das richtig Geld: United Airlines (die auch ansonsten für ihren miesen Service in die Fluglinien-Hölle kommen) haben mir dafür 200 Dollar abgeknöpft.
Damit steht zumindest schon mal ein Ziel für London fest: Reduktion. Das gilt allerdings nicht für meine neue Umgebung. Die Wohnung gehört ebenfalls Carl Djerassi, der ja schon mein Vermieter in San Francisco war, und ist die ganz große Oper: eine viktorianische Maisonette mit Kamin. Sie liegt in Warrington Crescent in Maida Vale, ganz in der Nähe der Hausbootsiedlung Little Venice. Als ich zum ersten Mal in die Küche ging und von dort auf die Terrasse, habe ich mal wieder einen hysterischen Lachanfall bekommen. Erstens: überhaupt eine Terrasse dieser Größe mitten in London, schon mal eine Sensation. Zweitens: Sie geht auf einen Privatpark hinaus, zu dem nur die Bewohner der umliegenden Häuser den Schlüssel haben. Auf den Bänken hatten es sich ein paar Nachbarn mit Büchern und Thermoskanne gemütlich gemacht, und mir fiel gleich die Schlussszene von Notting Hill ein (ca. ab Minute 1:10). Wieder mal: was für ein Glück. Noch schöner: Hier kann ich auch meine Gartenlust austoben, denn ich bin diesen Monat für die Hortensien und den Rosmarin auf der Terrasse verantwortlich.
Ansonsten war die Landung heute in aller Herrgottsfrühe so ganz anders als die bisherigen Ankünfte. Nach sechs Monaten wieder in Europa, zudem in einer Stadt, die ich als bisher einzige von vielen, vielen Kurzbesuchen kenne – das hatte was von Nachhausekommen. Das war, als ob ich nach einem halbjährigen Traum wieder im Alltag aufwache. Die Wagen mit den Milchflaschen, die Zeitungsschürzen, die Jungs in den Schuluniformen – hello again. Doch das war erstaunlicherweise nicht nur schön, das war mir alles plötzlich fast zu nah. Ich will noch nicht zurück! Um so dringender werde ich vermutlich in den nächsten Wochen das Fremde im Vertrauten suchen gehen (auch das ein schönes Training für die endgültige Heimkehr)
Richtig gefreut aber habe ich mich über zwei vertraute Gesichter aus meinem Hamburger Rudel, die zufällig in der Stadt waren: Sabine und Frank, mit denen ich sofort frühstücken ging. Ich glaube, ich habe ein bisschen gefremdelt – herrje, wie ungewohnt, nach Monaten wieder mit Freunden zu reden, denen ich mich nicht erklären muss… Aber sie haben es mich nicht merken lassen, die Guten.
Es hat den ganzen Tag geregnet, wirklich gnadenlos, unaufhörlich, durchgehend geregnet. Der perfekte Tag also für Alcatraz. Es war ein Pflichttermin, der Auftrag einer SZ-Leserin, Lust hatte ich eigentlich keine – und wieder mal habe ich hinterher ein kleines Dankesgebet nach Deutschland geschickt dafür, dass ich gelegentlich zu meinem Glück gezwungen werde.
Denn selten habe ich einen Ort so intensiv erlebt wie diesen beklemmenden grauen Bau an diesem niederschmetternd grauen Tag. Das ist einzig der brillianten, fesselnden Audiotour zu verdanken, die einen durch das Gefängnis leitet. Erzählt wird die nämlich nicht von einem langweiligen Historiker, sondern von ehemaligen Gefängniswärtern und ehemaligen Insassen von Alcatraz: Leon „Whitey“ Thomson (Waffenhandel, in Alcatraz 1960-62), John Banner (Bankraub, 1954-58), James Quillen (Kidnapping, 1942-52), Darwin Coon (Bankraub, 1959-63). Man sitzt quasi mit ihnen in der Zelle, geht zum Essenfassen und zum Hofgang, sehnt sich nach draußen – besonders zu Silvester, wenn das Lachen und die Gesänge bei günstigem Wind von San Francisco herüberdringen. Auch in eine Isolationszelle wird man gebeten, und einer der Häftlinge erzählt, wie er sich hier in völliger Dunkelheit einen Knopf abgerissen hat, ihn in die Luft geworfen hat und ihn dann am Boden zu finden versuchte, wieder und wieder und wieder.
Jetzt schon auf meiner To-do-Liste, wenn ich wieder zuhause bin: sämtliche Alcatraz-Filme angucken. Flucht von Alcatraz mit Clint Eastwood, Der Gefangene von Alcatraz mit Burt Lancaster, The Rock…
Das Thema ist unerschöpflich: Im Herbst startet hier in den USA eine neue Serie von J.J. Abrams, dem Mastermind hinter „Lost“. Kein Entkommen.
Und hier startet eine etwa 50minütige Dokumentation über den spektakulärsten Fluchtversuch auf Alcatraz.
Ein Geheimtipp, den jeder kennt, eine Touristenfalle, aber eine niedliche: die Golden Gate Fortune Cookie Factory in einer kleinen Gasse in Chinatown. Eines von diesen Dingen, an denen man einfach nicht vorbeigehen kann, ohne einmal die Nase reingesteckt zu haben. Glückskekse sind eine kalifornische Erfindung, bis in die Neunziger kannte man sie in China gar nicht. Die Damen falten hier mit sagenhafter Geschwindigkeit Weissagungen in die noch warmen Kekse, jede schafft pro Stunde 1000. Und wie es duftet!
Golden Gate Fortune Cookie Factory, 56 Ross Alley, San Francisco, CA 94108
Heute war Pride Parade auf der Market Street, quasi die Leistungsschau der hiesigen LGBT (Lesben/ Schwule/ Bisexuelle/ Transgender)-Gemeinde – und ich war verblüfft. Während beim CSD auf der Hamburger Langen Reihe alles in feinstem Sonntagsstaat aufläuft (Lederchaps, Transenfummel, Silbertangas, Hundehalsbänder), uniformiert sich die San Francisco-Gemeinde in identischen T-Shirts, lässt sich identische Ballons in die Hand drücken und läuft hinter Wagen her, die von Banken, Versicherungen, Google und Virgin gesponsort sind, oder reiht sich hinter Senats- und Kongressabgeordneten ein, die gleich einen Wahlkampf aus der Nummer machen. Das heißt einerseits, dass die Bewegung in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist (toll!), andererseits, dass das Schaulaufen zu einer relativ routiniert heruntergerissenen Angelegenheit geworden ist (schade). An Prominenz lediglich Olympia Dukakis und der Sohn (Ex-Tochter) von Cher, Chaz Bono (links). Skandalisieren kann man mit dem Thema ohnehin nicht mehr, vielleicht ist deshalb die Luft ein bisschen raus. Weniger dykes on bikes, mehr Lesbenpaare mit Kinderwagen – lustig war’s trotzdem.
Gestern ist vor meinen Augen eine Radfahrerin von einem Taxi angefahren worden. Sie stürzte auf die Straße, Leute eilten ihr sofort zu Hilfe, sie lag längere Zeit benommen da, irgendwann kam ein Krankenwagen. So Zeug passiert, niemand ist davor geschützt.
Neulich dachte ich plötzlich: Was, wenn mir unterwegs in irgendeiner Stadt so etwas passiert? Ich laufe vor einen Bus, ich stolpere blöd und falle die Treppe herunter, beim Spazierengehen im Wald fällt ein morscher Ast auf meinen Kopf. Und kein Mensch hätte die geringste Ahnung, wer ich bin. Oder wer jetzt benachrichtigt werden sollte. Irgendwann würde auffallen, dass ich hier nicht mehr blogge, meine Familie und Freunde würden sich Sorgen machen, derweil würde ich (im besten Fall) als Patient X bewusstlos in irgendeinem Hospital liegen, mit einem großen Fragezeichen in der Krankenakte.
Deshalb trage ich jetzt dieses Armband, das eigentlich für Jogger entwickelt wurde. Wenn mir was passiert und mich jemand findet, kann man zumindest über eine Website mit Hilfe einer Seriennummer und einer PIN meine Kontaktpersonen und einige relevante medizinische Daten (Blutgruppe, die Tatsache, dass ich Organspenderin bin) ermitteln. Ich werde es hoffentlich nie brauchen, aber dasselbe sagt man sich von Sicherheitsgurten ja auch immer, wenn man sich anschnallt.
Nach den Erfahrungen der ersten sechs Monate würde ich behaupten: Fast alles, was man über eine Stadt wissen muss, kann man an ihrem Nahverkehrssystem ablesen. Sydney: Busfahrer, die Jazz-Radio hören und bei denen man sich beim Aussteigen verabschiedet. Buenos Aires: das blanke Chaos von Buslinien verschiedener Betreiber, bei denen man nie recht weiß, ob und wann und wohin sie fahren. Mumbai: qualvolle Enge in der Bahn und jede Menge achselzuckend hingenommene Todesfälle, weil die Leute notgedrungen außen am Wagen hängen. Shanghai: die Perfektion einer Bevormundungs-Organisation, mit der einem das U-Bahn-System das Mitdenken abnimmt. Honolulu: Lautsprecherdurchsage des anhaltenden Busses: „Aloha. Welcome to TheBus line number 2 going to…“
In San Francisco: Cable Cars, klar, kennt jeder. Aber auch Hybrid-Busse, die mit Bio-Diesel betrieben werden. Und der F-Train, die Straßenbahnlinie auf der Vorzeigestrecke von Fisherman’s Wharf über Embarcadero und Market Street bis ins Castro, auf der ausschließlich historische Straßenbahnwagen aus den 30er bis 50er Jahren fahren. Und zwar nicht nur aus allen möglichen Städten der USA, sondern auch aus Mailand (oben links), Hiroshima, Zürich und Porto. Liebenswert.
Vor 100 Jahren war die Welt noch voller Wunder und Weltausstellungen waren, anders als die inzwischen etwas achselzuckend zur Kenntnis genommenen Leistungsschauen namens Expo, wahre Sensationen. So auch die 1915 ausgerichtete Panama-Pacific International Exposition, mit der San Francisco den im Jahr zuvor eingeweihten Panamakanal feierte – und auch die Tatsache, dass sich die Stadt nach dem großen Erdbeben von 1906 so schnell wieder berappelt hatte. Es muss spektakulär gewesen sein: Mittendrin stand ein 140 Meter hoher strahlender Tower of Jewels aus 100.000 Glaskristallen, auf 20.000 Quadratmetern wurde der Panamakanal im Miniformat nachgebaut, und es wurde die erste transkontinentale Telefonleitung nach New York gelegt, damit die Menschen im Osten einmal den Pazifik hören konnten.
Von der Ausstellung steht heute nur noch der Palace of Fine Arts, ein mächtiges Säulenensemble, das eigentlich verfallen sollte, „weil jede große Stadt ihre Ruinen braucht“, das man dann aber doch lieber erhielt. Zum Glück, denn wenn man die Blicke der Besucher sieht, die mit den Nacken gelegten Köpfen hier durchwandern, ist klar: Auch heute ist die Welt noch voller Wunder.
Ein P.S. für Hitchcockphile: In Vertigo sieht man James Stewart und Kim Novak am Palace vorbeigehen, hier anmutig nachgespielt vom Dichter Scott Wannberg.
Den Pazifik kann man auch heute noch auf ungewöhnliche Weise hören: Einen kurzen Spaziergang vom Palace entfernt, am Ende einer kleinen Mole, haben die beiden Künstler Peter Richards und George Gonzales eine Wave Organ gebaut, eine Orgel aus PVC-Rohren, auf denen das Meer bei Hochwasser glucksend sein Lied spielt.