Wait a minute, Mr. Postman
Was für ein Tag. Auf dem Friedhof (für einen SZ-Job), bei meiner ersten Rolfing-Session (für einen anderen SZ-Job), beim Treffen eines Mail Art Clubs (noch ein SZ-Job). So sehr ich Tage genieße, an denen ich meiner eigenen Nase folge, so sehr mag ich es auch, irgendwohin geschickt zu werden, wo ich alleine nie hingegangen wäre. Es ist ein bisschen wie Radiohören: Im besten Fall bekommt man etwas erzählt, mit dem man nicht gerechnet hat, das einen aber augenblicklich entzückt und entflammt. Das ist einer der Gründe, warum ich den bereits erwähnten Sender NPR so mag (und zuhause Deutschlandradio und Deutschlandfunk): Für eine Stunde oder eine halbe gilt meine ungeteilte Aufmerksamkeit Dingen, von denen ich vorher noch nie gehört habe und mit denen ich mich freiwillig nie beschäftigt hätte. Stammzellentherapie, Hackerangriffe, ein bis dahin unbekannter Autor – hinterher bin ich immer schlauer und oft inspiriert, selber weiterzuforschen. Das ist um so schöner, als ich ansonsten, wie wahrscheinlich die meisten, zu oft damit beschäftigt bin, mir die Ohren zuzuhalten, um nicht verrückt zu werden angesichts all der Informationen, die auf einen niederprasseln.
Dasselbe gilt für die kleine Aktion, die ich für das SZ Magazin mache: Leseraufträge in den jeweiligen Städten zu erfüllen. Was für tolle Leute ich dadurch schon kennengelernt habe! In was für Ecken ich geraten bin! Es hat mir auch meinen Beruf neu beigebracht: Es geht darum, ein wenig die selektive Wahrnehmung abzulegen und sich allem wieder unvoreingenommen zu nähern. Und die ganz einfachen Fragen zu stellen: Was ist das? Wie geht das? Warum macht ihr das?
Heute also traf ich die Brieffreundin einer SZ-Leserin, Pamela Gerard. Der Auftrag: Mach ein Foto von ihr, ich habe sie noch nie gesehen. Pamela ist eigentlich Fotografin und uneigentlich Mail Artist: Sie schickt die wunderbarsten Kunstwerke durch die Welt, selbstgemachte Postkarten (eine Auswahl unten), liebevoll gestaltete Briefumschläge. Sie brachte drei Briefe mit, die sie heute wegschicken will, unter anderem an ihren Künstlerfreund Super Hero, der gerade französisch lernt, weshalb sie ihm eine Box mit französischen Süßigkeiten schickt und einen Brief, den sie aus einer Seite eines französischen Schulbuchs gebastelt hat. Auch die Briefmarken, die Aufkleber: alles sorgsam ausgesucht und fein komponiert.
Pamela schreibt sich mit etwa 100 Brieffreunden weltweit, viel Zeit und einiges Geld geht dafür drauf, aber die Befriedigung, sagt sie, sei unbezahlbar. Auf ihrem Weblog sieht man, was täglich so in ihrem Briefkasten landet.
Netterweise nahm sie mich zu einem Treffen von weiteren Mail Artists aus San Francisco mit, ins Leben gerufen von der Buchbinderin Jennie Hinchcliff (unten rechts), die über ihre Mail Art-Obsession ein ebenso hübsches wie nützliches Buch geschrieben hat. Beim Treffen wurden Ideen und Materialien ausgetauscht, viele Mailer trafen sich erstmals im wahren Leben, und Maureen erzählte, wie sie die Leute vom Postamt Berkeley gerade zu überreden versucht, dem Club alte Postlager-Briefkästen zu überlassen, die hinter dem Postamt verrosten. Es ist eine so warme, eigensinnige, liebenswerte Gruppe von Leuten. Und großzügig, alle. Denn sie wissen um die richtige Reihenfolge: Man muss erst mal selber was senden, um etwas zu empfangen. Und das ganz ohne Erwartungen. „Weißt du“, sagte Sally, „es ist mir eigentlich egal, ob ich selber Post bekomme. Es macht einfach so einen riesigen Spaß, sich Dinge auszudenken und sie zu verschicken.“