Katzentisch
Ein kleiner Exkurs zum Thema Allein essen. Für viele ist es ein Horror: allein in ein Restaurant gehen, allein am Tisch sitzen, auf das Essen warten, niemanden zum Reden haben – grässlich. Dann lieber eine Tüte Chips auf dem Beifahrersitz, eine Cola von der Tanke, Käse und Brot im Hotelzimmer. Mir ging es auch lange so, aber wenn ich eines auf dieser Reise gelernt habe, dann: allein zu essen. Natürlich gehe ich immer lieber mit jemandem aus, aber oft ergibt es sich halt nicht, und der Magen knurrt trotzdem. Je nach Tagesform gehe ich dann entweder in Läden, die für Alleinesser wie geschaffen sind, Oyster Bars, Sushirestaurants und Läden wie Le Pain Quotidien mit ihren Community Tables oder in klassische Restaurants mit Zweier- und Vierertischen – nur um festzustellen, dass an den meisten Zweiertischen nicht viel mehr geredet wird als an meinem eigenen Tisch.
Die besten Esserlebnisse habe ich verlässlich dann, wenn ich gar nicht vorgehabt hatte zu essen. Heute zum Beispiel fuhr ich den Highway 1 von Carmel nach Big Sur, eigentlich nur, um die Landschaft anzugucken und NPR zu hören, einen der besten Radiosender der Welt. Talk of the Nation, Fresh Air mit Terry Gross, All Things Considered – ich bleibe manchmal, und das passiert mir in Deutschland eher selten, im Auto sitzen, um eine Sendung fertig zu hören. Kurz hinter Big Sur wies ein unscheinbares Schild zur Post Ranch Inn, an dem ich zuerst vorbei fuhr, schon weil ich gar nicht danach geschaut hatte. Aber irgendwas klingelte. Post Ranch Inn: war das nicht irgendein dolles Hotel oder so was? Also zurück, den Berg hoch. Eine Frau in einem Wachhäuschen: Wohin ich denn wolle? Na, einfach mal gucken, sagte ich. Es gebe aber gar nichts zu sehen, sagte sie milde, offenbar gewohnt, Leute abzuwimmeln. Ich würde gern ins Restaurant, was Kleines essen, sagte ich (ein Restaurant werden sie ja wohl haben). Sie winkte mich durch, ich fuhr weiter den Berg hoch, ließ mir von der Rezeption den Weg über einige geplankte Wege und Holztreppen zum Restaurant zeigen – und wurde an diesen Tisch gebracht.
Oh. Mein. Gott. Ich wollte eigentlich wirklich nichts essen, denn um 15 Uhr hatte ich mich zum Afternoon Tea im Cypress Inn angemeldet, aber wie, bitte, kann man hier nichts essen? Nur was Kleines. Roher Ahi Tuna in Sesam-Kruste mit Wasabi-Soja-Emulsion, dazu ein kleiner Salat mit Kresse, Koriander und knusprigen Wontonstreifen, ein Glas Vouvray dazu, passt schon. Und wieder mal die Erfahrung: Als Alleinesser wird man hier ungewöhnlich gut behandelt. Kein Katzentisch, sondern die Loge. Mein Kellner schenkt das Weinglas besonders voll („Die Flasche ist sowieso fast leer“) und stellt mir hinterher einen Teller mit Petit Fours hin, obwohl ich weder Kaffee noch Dessert wollte. Himmlisch. Ich habe mich keine Minute gelangweilt, und das ohne Buch.
Post Ranch Inn, 47900 Highway 1, Big Sur, CA 93920. Hier gibt es weitere Fotos zu sehen.
Dann schnell nach Hause, zu Doris. Doris’ Signature Tea. Reservations recommended. Husbands and pets welcome, stand auf der Karte. Und diese Mahlzeit war genau so bezaubernd. Ein Teetablett mit Gurken- und Lachssandwiches, scones und Früchtekuchen, das Geplauder von älteren Herrschaften mit Dackeln und Pudeln auf dem Schoß: „Wir haben so viele Eichhörnchen dieses Jahr, ihr auch?” Just lovely.
Und niemand, niemand hat mich von dem Vergnügen abgelenkt, diese beiden so unterschiedlichen Alleinesserfahrungen mit allen Sinnen zu genießen.
Juni 18th, 2011 at 06:19
Wie wunderbar! Ich bin auch oft alleine unterwegs und es stimmt, sich umgucken und Leute beobachten ist der beste Part am alleine essen. Gesellschaft lenkt da nur ab.
Juni 18th, 2011 at 06:54
Ja! Da will ich auch hin!
Nelly Fleckhaus
Juni 18th, 2011 at 06:59
Hinreißend! Alles mal wieder! – Die Erfahrung mit der Logenplatz-Plazierung als Einzelreisende in amerikanischen Restaurants habe ich auch gemacht. Man ist ganz gerührt, nachdem man in Deutschland ja gerne am fiesesten dunklen Tisch gleich an der Klotür deponiert wird.
Juni 18th, 2011 at 07:05
Jetzt habe ich Hunger, Lust auf alleine umherstreifen und muss in ein Seminar. Dieses Blog bringt mich noch um. Im Ernst: Selten habe ich mich für einen unbekannten Menschen so mitgefreut. Vor Ihnen liegt wahrhaftig die Welt.
Juni 18th, 2011 at 07:13
Tagsüber alleine essen zu gehen ist ein Vergnügen mit mir selbst. In Hamburger Arbeitsalltag eher auf die Schnelle, unterwegs auf meinen vielen Reisen umso lieber.
“Ich lade mich selber ein” hat so einen Geschmack von für-mich-sorgen.
Anders ist es mit dem Abendessen. Das ist mir ein Gräuel. Es mir schönreden misslang, so verzichte ich (meistens) weise.
Guten Appetit weiterhin wünscht
Tally
Juni 18th, 2011 at 07:28
Du wirst es nicht glauben, aber vor drei Wochen war ich ganz feierlich alleine beim Mittagessen im Hau Tree Restaurant ♥ ♥ ♥
Juni 18th, 2011 at 07:42
Unverschämt schön der Katzentisch!
(Und mit ein wenig Beharrlichkeit kommt man dorthin. Ich hätte mich vielleicht von der Dame an der Pforte abwimmeln lassen?!)
Herzlicher Gruß!
Franka
Juni 18th, 2011 at 08:09
Was für ein erlebnisreicher Tag! Das ist für mich ein Beispiel für den Satz “Mit allen Sinnen genießen”. Ich habe auch gleich auf die Internetseite des “Post Ranch Inn” geschaut, auch diese ist toll gemacht!
Ich habe auch kein Problem damit, alleine irgendwo zum Essen zu gehen. Aber bei mir ist es dann so, dass ich am liebsten die Begeisterung über das gerade Erlebte sofort jemanden mitteilen möchte … Aber dieser Blog lässt uns ja alle teilhaben!
Juni 18th, 2011 at 08:10
A great German woman is travelling the world since january and shares her lovely packed thoughts with interested people on BLANK!
Hihi – erkannt?
Juni 18th, 2011 at 08:28
@Katharina: nee – werwowas?
Juni 18th, 2011 at 08:44
Das Mitreisen hier ist einfach wunderbar. Danke für den herrlichen Ausblick!
Juni 18th, 2011 at 08:49
Liebe Meike, ich ließ es bei dem Brückenfoto neulich schon mal anklingen, aber jetzt noch mal deutlicher: Ich fürchte, ich beneide Sie förmlich um Ihre Allein-Zeit in Kalifornien! Ich war mit einem Mitreisenden (okay: dummerweise frisch Angetrauten) da und es war ALLES falsch, nicht nur die Mahlzeiten. Carmel-by-the-Sea Richtung Big Sur… haben wir auch gemacht. Klar. Und sogar sich paarende See-Elefanten im Sonnenuntergang gesehen. (Die anderen Menschen-Paare, die dort waren, standen dicht umschlungen und sahen einfach verzückt zu, mein Mitreisender hingegen schoss 270 Fotos und ließ mich alleine stehen – aber das ist nicht dasselbe!)
Also wieder mal die alte Erkenntnis: Lieber aus den richtigen Gründen allein als aus den falschen… Sie wissen es ja offenbar. Alles richtig gemacht, liebe Meike, wie so oft.
Gute Fahrt noch und viele Grüße aus der Heimat.
(PS. Hoffentlich haben Sie noch nicht das Badesalz an der Fisherman’s Wharf gekauft, das riecht nach einer Weile sehr, sehr merkwürdig…)
Juni 18th, 2011 at 10:41
Wunderbar, liebe Meike, einfach wun-der-bar. Ich hab jetzt auch Hunger
.
, was für ein Ausblick!!
Und an diesem Katzentisch hätte ich sicherlich die Karte rauf und runter gegessen
Juni 18th, 2011 at 11:15
Welch schöner Katzentisch! Wortschätzchen hats schon gesagt. Selten freut man sich so für eine eigentlich unbekannte Person.
Juni 18th, 2011 at 11:30
Musste gerade feststellen, dass ich die letzten einträge irgendwie nicht angezeigt bekommen habe.. was war da los. hab jetzt aber alles nachgelesen
Auch schön an einem verregneten samstag! Sie machen mir immer mehr Vorfreude!!!
Juni 18th, 2011 at 11:38
Oh.Mein.Gott! Wunderschön!
Juni 18th, 2011 at 12:55
bei der aussicht braucht es kein buch. wunderbar.
big sur – esalen. warme quellen, mit blick aufs meer.
weiterhin alles besondere für sie!
Juni 18th, 2011 at 15:18
Habe den heutigen Regen-Samstag auch genossen und von der Ankunft in Mumbai komplett nachgelesen. Yep! und jetzt endlich up to date!!!
Juni 18th, 2011 at 15:32
Schön das Pst Inn!! Sehr schön…
Liebe Meike, wärest Du den hawaianischen Müßiggang überwindend nach Maui geflogen, dann hättest Du das hawaiianische Pendant dazu besuchen können… in Hotel Hana_Maui, die beiden gehören demselben Eigentümer. Schön, sehr schön….
Next time
Juni 18th, 2011 at 16:22
It’s so lovely…dankedankedanke für diesen Blog, so ein Genuss!!! Ich gehe jetzt sofort los und kaufe mir so ein Teeservice und scones. Dazu werden Gurkensandwiches gebastelt, geht ja wieder mit der Gurke. Dann spiel ich das nach mit Doris signature tea. Great!
Juni 18th, 2011 at 17:07
Vielen Dank für das Teilen der schönen Erfahrung.
Und tausend Dank für die Tipps, da ich im Oktober auch genau da sein werde.
Juni 18th, 2011 at 19:57
Haha, das ist auch eine Sendung auf NPR. Heißt “Wait, wait don’t tell me”. Die Kandidaten müssen BLANK mit einem Wort füllen. Meist sind es aktuelle Geschehnisse aus der Welt.
Ich höre hier oft NPR Berlin – und auch alle von Ihnen aufgezählten Sendungen
Viele Grüße!