Gute Nacht

Gestern bin ich ins Theater gegangen. Dafür brauchte ich dringend neue Garderobe. Also zu Marks & Spencer in die Herrenabteilung, wo es die weltbesten Pyjamas gibt, Stücker 15 Pfund. Gestreift? Kariert? Ich entschied mich für einfarbig (blau, klar).

Moment mal, im Pyjama ins Theater? Der absolut passende Dresscode für die Performance Lullaby der Südlondoner Theatertruppe Duckie, die nichts anderes versucht, als das Publikum so schnell wie möglich in den Schlaf zu singen. Man checkt um 10.30 Uhr im Barbican ein, zieht sich in der Umkleide Nachthemd und Plüschpuschen an, bekommt eine heiße Schokolade im Foyer serviert und wird dann zu seinem Platz gebracht. In diesem Fall: ins Bett. Im Barbican Pit stehen rund um eine kleine Bühne 50 Einzel-, Doppel- und Dreierbetten. In dem neben mir liegen drei kichernde Franzosen, ein Mann und zwei Frauen. Auf jedem Nachttisch eine Wasserkaraffe und ein Beutelchen mit Lavendelseife, Schlafmaske und Ohrenstöpseln.

Auch die anderen Besucher waren festlich gewandet: rot-grüne Pyjamahosen mit Aliens und Robotern, rosa Polyesterrüschen-Nachthemden, Band-T-Shirts aus den späten Achtzigern, Snoopy-Shorts, es war alles dabei. Eine Frau kuschelte mit ihrem Stoffhasen, ein Pärchen stritt leise.

Die Show selbst war zum Gähnen – genau das wollte sie ja auch sein. Somnambul tanzende Tintenfische, ein wandelndes Stoffhaus mit Watterauch aus dem Schornstein, eine zaubernde Ente, die vergeblich einen Luftballon mit dem Zylinder zu fangen versuchte – „Dream food“ nennen die Performer das, Bilder wie direkt aus dem Kinderfernsehprogramm, die hoffentlich später zu Träumen werden. Dazwischen Gute-Nacht-Geschichten mit Fragen, die man mit in den Schlaf nehmen konnte („Wenn du aus etwas anderem als Fleisch bestehen könntest, was wäre das? Wärst du lieber ein Jahr blind oder ein Jahr taub?“) und Musik, die nur auf den weißen Tasten des Klaviers komponiert ist. Angeblich besonders beruhigend, weil es dieselben Noten sind, die Spieldosen verwenden.

Was diese Idee so unwiderstehlich charmant macht, ist die Freundlichkeit, mit der man hier betüdelt wird. Für die meisten ist es ja schon ein paar Jahrzehnte her, dass sie zuletzt liebevoll in den Schlaf gesungen wurden, einige haben es vielleicht nie erlebt. Aber jeden trifft es an einem wohlig warmen Fleck mitten im Herzen. Ich war jedenfalls noch vor der Pause, in der Betthupferl und warmer Brandy serviert werden sollten, selig eingeschlafen. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, waren fliegende weiße Stoffquallen über unseren Köpfen. Oder habe ich das schon geträumt?

Aufgewacht bin ich davon, dass ein kleines Gehege mit tschilpenden Küken in die Mitte des Raums getragen wurde. Unglaublich, tatsächlich schon halb acht! Das Licht wurde langsam von magenta über orange auf gelb hochgefahren, die Bühnensonne ging auf, alle räkelten sich in den Betten. So ein gemeinsames Aufwachen unter Wildfremden ist ganz wunderbar. „Did you dream?“ fragt mich eine der Französinnen von nebenan, und der Mann auf meiner anderen Seite erzählt, dass er erst um halb vier eingeschlafen ist, weil er unter der Bettdecke Videogames auf dem Handy gespielt hat wie ein Zehnjähriger. Er rekapituliert, was ich gestern Nacht verpasst habe: Vorträge über das menschliche Nervensystem und seine Verbindung zum pythagoräischen Modell des Weltalls – eigentlich unmöglich, bei so was wach zu bleiben, aber er hat es geschafft.

In der Theaterkantine war schon das Frühstück aufgebaut: Toast und Croissants, weiche Eier und Orangensaft, Tee. Und überall nur das, was man sonst morgens selten sieht: lächelnde Gesichter.

Duckie’s Lullaby, Barbican Pit, bis 24. Juli. Der Eintritt beträgt 42 Pfund – damit ist dies der beste Bed & Breakfast-Deal von ganz London.

Was auf die Ohren

Konzerte für lau: Beim iTunes-Festival, das derzeit in London stattfindet, spielen tolle Leute. Wer kein Glück bei der Vergabe der kostenlosen Karten hatte (wie ich), guckt in den Tagen danach das Ganze im iTunes-Store. Gestern Adele, neulich Seasick Steve.

Willkommen im Club

Als ich vor ein paar Jahren mal eine Zeitlang in Brooklyn wohnte und mich meine New Yorker Freundin Sarah mit einem Mann verkuppeln wollte, pries sie ihn so an: Investmentbanker, superreich, frisch geschieden – und Mitglied des Knickerbocker Club. An all dem interessierte mich eigentlich nur letzteres: Ich habe eine Schwäche für alte Clubs, ich mag die getäfelten Räume, die knarrenden Dielen, das Ticken der Standuhren, das Rascheln der Zeitungen, das in der Regel fürchterliche Essen im Club-eigenen Restaurant. Die Idee eines third place, eines Ortes zwischen Arbeitsstätte und Zuhause, hat mir immer eingeleuchtet. Ich finde, man braucht solche Dekompressionskammern zwischen Nicht-mehr-da und Noch-nicht-hier, feste Orte für Gespräche, die sich um anderes drehen als die Banalität des Alltags oder die Banalität der Arbeit.

Aus dem Knickerbocker-Mann und mir wurde natürlich nichts (er fand sich spannender als mich, was in seinem Fall eine grobe Fehleinschätzung war), stattdessen suchte ich mir einen eigenen Club, den Montauk Club in Park Slope, und wieselte mich dort als Mitglied ein. Ich erzählte dem Auswahlkommittee, dass ich das Haus zum Schauplatz eines Romans machen wolle (aus dem dann auch nichts wurde – hm, fällt mir jetzt gerade wieder ein, könnte man ja eigentlich…) und dass ich mich deshalb ein bisschen umsehen müsse. Das genügte ihnen, und fortan stand ich ein paarmal in der Woche gegen sechs an der Bar neben anderen Clubmitgliedern, die mit Aktentaschen oder Einkaufstüten neben sich Gin Tonics tranken („easy on the tonic, please“) und den peruanischen Barmann Antonio zwangen, frisch gekaufte CDs abzuspielen, gern „The Mamas & the Papas“. Es waren die – zumindest vor diesem Jahr – glücklichsten zwei Monate meines Lebens.

Deshalb hatte ich mich auf gestern abend gleich doppelt gefreut: Nicht nur würde ich Michelle Witton wiedersehen (sie ist Punkt 5 meiner 10 Dinge, die ich in Sydney gelernt habe), wir würden uns auch im BAFTA Club treffen, in dem sie Mitglied ist. BAFTA ist die British Academy of Film and Television Arts, die jährlich ihre eigenen Oscar-ähnlichen Awards verleihen (gottlob gewinnt fast immer Colin Firth, der einfach die besten, nein: die allerbesten Dankesreden abliefert). Der BAFTA Club liegt in Piccadilly, ein paar Häuser von Fortnum & Mason und meinem Zweitlieblingsbuchladen Hatchards entfernt, ist überraschend, aber nicht enttäuschend unverstaubt und hat Sofas, die ich sofort auf dem Rücken nach Hause schleppen möchte.

Am schönsten fand ich einen Brief, den Gründungsmitglied David Lean auf Briefpapier vom Berkeley Hotel getippt hat. Darin geht es nicht nur um seine möglichen Einnahmen aus seinen Filmen „Die Brücke am Kwai“ und „Doktor Schiwago“ („they may amount to very little“) sowie „Lawrence von Arabien“ („hat noch keinen Gewinn gemacht und wird es vermutlich auch nicht“), sondern auch um eine der ersten Sitzungen des BAFTA Clubs, in der Alexander Korda, der Produzent von „Sein oder Nichtsein“ und „Der dritte Mann“, davon träumte, eines Tages die Royal Albert Hall für die Verleihung des Filmpreises anzumieten – „at which we chuckled politely“.

Michelle habe ich, wie gesagt, vor einem halben Jahr kennengelernt und auch zuletzt gesprochen; unsere Gespräche drehten sich folglich viel um das, was in diesen sechs Monaten mit uns jeweils passiert ist. Immer gut, gezwungen zu sein, Entwicklungen, die man hier im Blog ja fast auf Tagesbasis mitverfolgen kann, für jemanden aus der Vogelperspektive zusammenzufassen. Das Ergebnis ist wenig überraschend: Glück, Freiheit und Dankbarkeit für beides. Michelle wiederum, die ja wunderbarerweise sowohl als Rechtsanwältin wie auch als Schauspielerin arbeitet, hat es geschafft, ihre beiden scheinbar so widersprüchlichen Professionen zu einem Projekt zu vereinen: Schulungsvideos für britische Firmen zum Thema der neuen Antikorruptionsgesetze. Auch dies eine gute Lehre: Eines der besten Glücksrezepte ist ein entspanntes Sowohl-als auch.


Nicht verhandelbar

Das hier könnte Spaß machen, leider erst im nächsten Jahr: Meryl Streep als Maggie Thatcher.

Robbie. Fucking. Williams

Am Anfang der Schock. Nur Die Anderen Vier stehen auf der Bühne. Ist der Meister mal wieder umgekippt? Gary Barlow kündigt zur allgemeinen Erleichterung an, dass „später noch jemand dazustößt“, Die Anderen Vier singen ein bisschen was aus der Zeit-ohne-Robbie, anschließend wird die Nationalhymne vom ganzen Stadion angestimmt – „God save the queen“, 85.000 Leute, volle Brust. Ein Mann in Kaninchenkostüm hüpft durch die Gegend, und Mark Owen reitet auf einer rosa Raupe von der Bühne, gefolgt von den anderen. Kann man machen, muss man aber nicht. Ende Teil 1.

Und dann erhöht sich die Temperatur an diesem schönen Sommerabend schlagartig um gefühlte 10 Grad. Erst flimmert er nur über die Videowand, dann über die Bühne, startet natürlich mit „Let me entertain you“ in einer fieberhaft wahnsinnigen Version und stellt sich höflich mit „My name is Robbie fucking Williams“ vor. Zwischen „Rock DJ“, „I come undone“ und „Feel“ die rituellen Beleidigungen („Die Rolling Stones haben zwei Tage hintereinander in Wembley gespielt, Oasis drei. Take That spielt acht Tage. Noel Gallagher kann mich am Arsch lecken“). Aber wie er abliefert! Ich kenne keinen anderen, der auf der Bühne so schamlos geliebt werden will wie Robbie Williams, keine größere Rampensau und keinen größeren Könner im Umgang mit dem Baumaterial eines Konzerts. Er spielt auf dem Publikum wie auf einer 85.000stimmigen Orgel, den Mikrofonständer nutzt er fließend als Penisverlängerung, Krückstock, Golfschläger, Dirigentenstab, Zepter und Schwert, mit dem er sich selbst zum Ritter schlägt; so possierlich in seinem Über-Ego, dass man nicht anders kann als, ja, ihn zu lieben. Wenn er das denn nun mal so will… Dann noch „Angels“, tränenreich, er habe gerade drei Freunde verloren, das Stadion liegt sich in den Armen, und jetzt könnte man eigentlich nach Hause gehen. Denn das war Teil 2. Und was soll jetzt noch groß kommen?

Ganz einfach: das, was diese Tour zum „größten Comeback seit Lazarus“ macht, wie die Times schrieb. Die fünf vereint, zum ersten Mal seit 16 Jahren auf der Bühne, vor 1,76 Millionen Zuschauern allein in Großbritannien. Und es funktioniert. Aus Robbie & Den Anderen Vier wird im Lauf des Abends wieder Take That, die Jungs haben Spaß, besonders in der Passage, wenn sie, mit inzwischen leicht ergrauten Bärten, ihre Dance Moves aus den frühen Neunzigern persiflieren und die Greatest Hits sehr intim, fast wie ein Ratpack-Probenraumgeplänkel singen. „Back for good“ natürlich aus sämtlichen Rohren gefeuert. Zum Schluss, bei „Never forget“, steht inzwischen auch die 20 Meter hohe hydraulisch bewegte Roboterfigur Om und umarmt die Massen wie der Jesus von Rio. Und alle Schleusen sind weit offen.

Wie war’s also? Och, ganz gut, fand ich.


Hinaus & hinein

Heute vor 170 Jahren, las ich gerade, am 5. Juli 1841 also, wurde der Massentourismus erfunden. Unter der Leitung von Thomas Cook fuhren 570 Reisende mit der Eisenbahn von Leicester ins 20 Kilometer entfernte Loughborough und zurück. Für den Preis von einem Schilling gab es einen Stehplatz 3. Klasse in offenen Waggons, ein Schinkenbrot und eine Tasse Tee. Diese Reiseveranstaltung kam so gut an, dass Cook ab da weitere Pauschalreisen organisierte: nach Schottland, London, Ägypten und bald um die ganze Welt. Den Hotelvoucher hat er auch gleich miterfunden.

Der Diana-Tourismus ist dagegen noch relativ neu: Zum Todestag oder jetzt zu ihrem 50. Geburtstag am 1. Juli reisen immer noch Menschen weitaus längere Strecken als nur 20 Kilometer, um ein paar Blumen niederzulegen. Fans aus aller Welt haben teils sehr rührende Glückwunschkarten an den Zaun vor dem Kensington Palace gehängt und anschließend ihre Füße in den Diana-Brunnen des benachbarten Hyde Park.

Aber ich war eigentlich aus einem anderen Grund in den Park gegangen. Einer meiner Lieblingsarchitekten, der Schweizer Peter Zumthor, hat in diesem Jahr den Pavillon vor der Serpentine Gallery gebaut. Ich bin mal drei Tage lang sehr, sehr glücklich in seiner magischen Therme in Vals herumgedümpelt, die übrigens auch jede Reise wert ist, egal wie weit. Sogar dritter Klasse mit Schinkenbrot.


Peter Zumthor: Therme Vals by vernissagetv

Für Kensington Gardens hat er einen Hortus Conclusus gebaut. Von außen ein abweisend schwarzer Kasten, innen ein zum Himmel geöffneter Garten von Piet Oudolf, der nun wiederum einer meiner Lieblingsgartenarchitekten ist. Er macht ganz unmanikürte, wunderbar atmosphärische Steppenlandschaften mit vielen Gräsern und Wildblumen. Als ich mal einen Dachgarten hatte, habe ich hemmungslos bei ihm geklaut. Hier bildet die Wildheit einen schönen Kontrast zum klösterlichen strengen Kreuzgang des Pavillons.

Wieder mal erstaunlich: wie sehr einen solche Orte sofort zur Ruhe bringen. Hinein geht man vielleicht mit Einkaufslisten im Kopf, Ärger im Herzen, Blei in den Füßen. Heraus kommt man geklärt und beruhigt, beschützt und beschenkt.

Serpentine Gallery Pavilion 2011, Kensington Gardens, noch bis 16. Oktober


Question Time

Im englischen Parlament gibt es die schöne Sitte der Question Time: Den Regierungsmitgliedern (inklusive Premierminister) können Fragen gestellt werden – und jede einzelne muss wahrheitsgemäß beantwortet werden. Das wird hier natürlich sofort übernommen, zumal ich noch Antworten auf einige Fragen in den Kommentaren schuldig bin. Ich fange also schon mal an, weitere Fragen aus allen Bereichen können gern nachgeliefert werden, dieser Post wird dann im Lauf der nächsten Tage aktualisiert.

Halbzeit! Wie geht es Ihnen? Was war besonders eindrücklich in der ersten Häfte? Lust auf die 2. Hälfte? Freude auf/Angst vor dem Danach?
Ja, Halbzeit. Wirklich unglaublich, wie schnell das ging. Gerade in den letzten Monaten hat das Jahr bedenklich an Fahrt aufgenommen. Wie es mir geht? Gut, das merkt man, glaube ich. Sehr happy in der Fremde (mit einigen Ausnahmetagen, an denen mich die Sehnsucht packt, mal irgendwo bleiben zu können). Besonders eindrücklich? Indien, in all seiner Schrecklichkeit und Schönheit. Unvergesslich, und das, obwohl ich dort am unglücklichsten war. Große Lust auf die zweite Hälfte, natürlich – und keine Ahnung, was ich 2012 mache. Ich habe mir bis Oktober/November verboten, darüber nachzudenken.

Fühlt sich Europa ein wenig mehr heimatlich an? Will man das überhaupt, nach 6 Monaten Fremde und Exotik?
Es fühlt sich in der Tat so an, als ob ich nach einer Zeit im Weltall wieder in die Erdatmosphäre eingetreten wäre, aber das mag auch daran liegen, dass ich London schon einigermaßen kenne. Und daran, dass ich hier am Sonntag eine Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung kaufen kann, gleich bei mir um die Ecke: Instant-Zuhause, weil es ein heimatliches Ritual ist. Ich glaube, dass mir ein bisschen Vertrautheit nach einem halben Jahr Weitwegsein ganz gut tut.

Kribbelt es Ihnen eigentlichen den Fingern, von London aus mal schnell für ein Wochenende nach Hause zu fliegen? Oder würde das die Magie der Reise zerstören?
Nein. Kribbelt überhaupt nicht. Im nächsten Monat, von Kopenhagen aus, wäre es sogar noch leichter, aber ich bleibe hübsch hier draußen vor der Tür. Wenn ich wirklich das dringende Bedürfnis hätte, würde ich es vielleicht sogar machen – andererseits bin ich aber auch stur in solchen Dingen.

Wo ist die Silberkanne aus Buenos Aires?
Die hat diesen Monat Ausgang und vergnügt sich mit den anderen Teekannen hier in London. Ich will das gar nicht so genau wissen, was sie treibt. Allein wie sie inzwischen aussieht, das schmuddelige kleine Ding! Da muss dringend mal ein Silberputzmittel ran.

Wohin gehst du eigentlich zum Friseur?
In Buenos Aires war ich bei einem Kanadier, in Honolulu bei einer Schweizerin, beide waren Empfehlungen. Hier in London gehe ich einfach zum Friseur gegenüber, denke ich. Ich mache mir da keinen Kopf – im wahrsten Sinne des Wortes. Wie meine alte Kollegin Simone Buchholz mal gesagt hat: „Es gibt Frauen mit Frisuren und Frauen mit Haaren.” Ich habe Haare.

Wie machen Sie es mit den Schlüsselübergaben, wenn die Wohnungsbesitzer nicht selbst vor Ort sind? Und wie mit der Endreinigung?
Das war bisher immer problemlos. Mal war der Schlüssel bei einer Freundin hinterlegt, mal gab es eine Verwalterin, mal einen Doorman. Und bislang war mit Ausnahme von Sydney immer eine Putzfrau mit dabei – die ist gerade in diesem Jahr jeden Cent wert.

Haben Sie vor dem Blauen-Kleid-Projekt auch so viel blau getragen? Oder hängt das jetzt vor allem mit der einfach zu kombinierenden Reisegarderobe zusammen?
Das Kleine Blaue hat natürlich mächtig auf dieses Jahr abgefärbt, vor allem aus praktischen Gründen. Es hält die Reisegarderobe in Schach (nicht genug, wie ich an meinem Übergepäck merke) und gibt mir eine gewisse Kontinuität, die auch psychologisch nicht zu verachten ist. Einzige Ausnahme: das rote Oberteil an meinem Geburtstag. Es hat inzwischen die Heimreise nach Deutschland angetreten.

Take That? Du bist wohl nicht ganz bei Trost!
Doch, Mittwochabend. Nicht weil ich die so toll finde, sondern weil mich das Phänomen interessiert. Da musst Du durch, Hollow.

Hat das Personal Training was gebracht?
Absolut. Es war die Wiedereinstiegsdroge. Das Schwierige an jedem Sportprogramm ist ja die Phase, in der es zur Gewohnheit werden muss. Da ist jemand, der einen in den Hintern tritt, Gold wert. Ich gehe jetzt wieder regelmäßig laufen. Mein Trainer Rusty hat mir zum Abschied übrigens ein Theraband geschenkt, „Du musst deine Hüften stabilisieren, das ist gut fürs Laufen“. Das Band ist blau – ich schwöre, er hat nichts gewusst.

Wird es ein Buch geben?
Wie gesagt, noch verbiete ich mir alle Pläne für die Zeit danach, aber vermutlich: ja.

Hast du bei deiner Reiseplanung Wert darauf gelegt, in den jeweiligen Ländern besondere Feiertage mitzuerleben? Wenn du im Oktober in Israel bist, ist ja der Monat mit den höchsten und meisten Feiertagen.
Genau das ist der Grund, warum ich im Oktober in Tel Aviv bin. Ich wollte auch gern zur Kirschblüte in Tokyo sein, deshalb war der Besuch dort eigentlich für den April geplant. Ansonsten hat die Reiseplanung auch viel mit dem Wetter zu tun: Ich wollte den europäischen Winter auf der Südhalbkugel aussitzen, dafür den Sommer in Europa verbringen, wenn es hier am schönsten ist.

Könntest Du auch ohne Blog leben oder wäre der Entzug zu groß?
Sehr gute Frage, die ich mir auch oft stelle. Das Bloggen hängt ja aufs Engste mit meinen jeweiligen Projekten zusammen. Hätte ich also gerade nichts Besonderes in der Mache, würde ich nicht bloggen. Nach dem Ende des Kleinen Blauen hat mir nicht das Geringste gefehlt. Ein Reiseblog wiederum halte ich für beinahe lebenswichtig. Es hilft mir, die Eindrücke zu sortieren und zu verarbeiten, es ist Notizbuch und vor allem: Es verschafft mir jede Menge Reisebegleiter gegen aufkommende Einsamkeit.

Haben Sie Ihre Wohnung in Deutschland auch untervermietet wie Herr Djerassi? Mir würde es sehr schwer fallen…
Mir nicht. Im Gegenteil, mir würde es schwerfallen, sie sinnlos leerstehen zu lassen. Beide Wohnungen, die in Hamburg und das Mini-Apartment in München, sind untervermietet. In Hamburg wohnt meine beste Freundin, die gerade selbst was sucht (nur falls ein netter Vermieter mitliest), in München ein junger Medizinforscher, von dem ich mir immer vorstelle, dass er meine Wohnung täglich im Laborkittel desinfiziert.

Wenn Sie einen Notkoffer packen müssten, fürs Fremdeln-Wiederdaheim: Was wäre bis jetzt alles drin? [Und sind Sie gut versorgt für den 31.12.2011?]
Verstehe ich die Frage richtig: Was von meiner Reise müsste ich zuhause haben, um das Fremdeln zu überwinden? Ich reise ja inzwischen mit einem hausratsversicherungspflichtigen Koffer. Darin: Ukulele, Morgenmantel, Teekanne, Gobelin-Stickset (I’m not kidding, dazu kommen wir später noch). All das dient dem Home-away-from-home-Gefühl. Umgekehrt könnte es mir die Wiedereingewöhnung erleichtern.
Der 31.12.2011 ist noch mit einem großen Fragezeichen versehen, denn ich weiß nicht, wo ich dann bin. Mein derzeitiger Plan ist es, mit einem Schiff im Hamburger Hafen einzulaufen. Containerschiff, Bananendampfer, notfalls auch die Queen Mary II. Möglich also, dass ich zu Silvester noch auf hoher See bin.

„Unvergesslich, obwohl ich dort am unglücklichsten war…” – so ist es es auch mit manchen Männern, gell?
Ist das eine Frage? Dann: ja. Mit manchen.

Überlegen Sie manchmal, nach den 12 Stationen einfach weiter zu reisen? Vielleicht doch noch die ein oder andere Stadt mitzunehmen, die in den aktuellen Plan nicht mehr reingepasst hat?
Klar. Auf Anhieb: Tokyo. Riga. Reykjavik. Budapest. Hanoi. St. Petersburg. Dakar. Rio de Janeiro. Montreal. Wien. Da ginge schon noch was. Aber ich glaube: nicht noch mal ein ganzes Jahr, sonst würde es richtig schwierig werden, wieder Fuß zu fassen. Irgendwann ist auch mal Schluss mit lustig, ich möchte dann lieber wieder Zuständigkeit & Zugehörigkeit.

Welche drei Dinge/Menschen (oder was auch immer) aus Deutschland vermissen Sie auf Ihren Reisen am meisten und welche drei Dinge/Menschen/Begegnungen/Erfahrungen, die Sie auf den Reisen kennengelernt haben, möchten Sie nicht mehr missen?
Unmöglich zu beantworten, fürchte ich. Menschen: selbstverständlich sehr viele, es wäre fürchterlich, jetzt drei herauszupicken. Dinge vermisse ich gar keine, daran habe ich mein Herz noch nie gehängt, aber ich hatte ein wohliges Gefühl, als ich gestern die FAS kaufen konnte.
Was ich nicht mehr missen möchte: das berauschende Gefühl von Zuversicht, dass alles geht. Eine gewisse Vogelfreiheit. Eine gewisse Unerpressbarkeit.

Noch ne Frage, liebe Meike. Am Anfang dachte ich mir: Mit einer halben Million um die Welt, das heißt erster Klasse fliegen, Luxushotels und immer in den besten Restaurants zum Essen gehen. Aber wie wir jetzt wissen, ist dem nicht so und wahrscheinlich kosten die Monate nicht mehr als in Hamburg oder München. Führen Sie ein “Haushaltsbuch” auf Reisen und/oder können Sie beziffern, was das erste halbe Jahr so gekostet hat?
Das ist in der Tat die größte Überraschung: dass das Leben hier draußen nicht teurer ist als zu Hause, oft sogar billiger. Buenos Aires, Mumbai: beschämend billig. Sydney, San Francisco, London, Kopenhagen: schon teurer, klar. Ich habe mir für dieses Jahr 60.000 zur Seite gelegt, also pro Monat üppige 5.000 Euro budgetiert, inklusive Flüge und Miete. Plus noch mal ein Sicherheits- und Spielgeldpolster von 20.000, falls unterwegs etwas Unvorhergesehenes passiert (ich mir zum Beispiel dringend ein Couture-Kleid schneidern lassen möchte oder so was). Bislang habe ich 19.000 Euro ausgegeben – die Flüge sind bis einschließlich Tel Aviv bezahlt – und dabei wirklich nicht nur von Brot und Butter gelebt. Da ich ja zudem von unterwegs weiter arbeite, muss ich an das Geld weit weniger ran, als ich dachte. Ich hätte dieses Jahr niemals ohne den Jauch-Gewinn geplant – und jetzt stelle ich fest, dass ich ihn gar nicht gebraucht hätte.

Hätten Sie diese Reise auch gemacht, wenn Sie liiert wären?
Das ist schwer zu beantworten, denn das hinge von der Beziehung ab. In dieser Form vermutlich nicht. Denn es gäbe ja nur zwei Varianten: Wir würden es zu zweit machen, dann wäre es eine ganz andere Reise. Oder ich würde es allein machen, er bliebe zuhause (und würde höchstens gelegentlich mal dazustoßen), dann wäre es auch eine ganz andere Reise. Denn sie würde weitaus mehr mit Sehnsucht und Heimweh zu kämpfen haben. Die Ungebundenheit, die ich derzeit habe, hilft also ganz ungemein. Und wie ich schon mal schrieb: Allein reisen lässt aufmerksamer reisen. Ich sehe mehr, ich mache mehr, ich lerne mehr Leute kennen.

Wenn ich verreise, habe ich meist große Schwierigkeiten mit den Betten… zu weich, zu hart, zu durchgelegen usw. Hattest Du bisher a) Glück b) eh keine Schwierigkeiten oder c) was wäre Dein Tipp für einen erholsamen Schlaf?
Ich bin die Tochter eines der größten Schlaftalente unter der Sonne. Das habe ich anscheinend geerbt. Ich schlafe im Flugzeug, auf harten Matratzen, auf weichen Matratzen – keine Probleme. Ich komme auch mit dem angelsächsischen Laken-und-Wolldecken-Bettzeug klar, obwohl ich natürlich lieber eine Daunendecke in Überlänge habe. Jetlag: habe ich, stört mich aber nicht. Schließlich ist es ziemlich egal, wann ich wach bin. Und ich lege mir nie Termine in die ersten zwei, drei Tage. Ansonsten hilft Melatonin und viel Bewegung bei Tageslicht.

Hätte auch noch zwei Fragen… Bist Du die ganze Zeit gesund gewesen bzw. wie hast Du Dir geholfen/helfen lassen/Schamanen-Doc?? Und – völlig albern, aber ich bin so ein Nasenmensch – hast Du EIN Duschgel, das Du überall kaufen kannst, oder riechst Du malsomalso?
Ich hatte den handelsüblichen Indien-Durchfall für einen Tag, sonst nur mal eine Erkältung. Kein Hexendoktor nötig bis jetzt. Duschgel: nein, ich kaufe, was es halt jeweils im Land gibt. Ich finde es überhaupt ganz prima, argentinische Sonnenlotion, chinesische Zahnpasta und hawaiianisches Shampoo im Gepäck zu haben. So ziehen die Städte eine Duftspur hinter sich her. Die einzige Konstante: mein Parfum, Hermès Voyage. (Natürlich.)

Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag? Vielleicht ein doofe Frage, aber man kann ja auch nicht die ganze Zeit und jeden Tag Sightseeing machen. Sie arbeiten ja auch noch. Teilen Sie das strikt auf, 2 Tage Arbeit, drei Tage Erkundungen und das Wochenende faulenzen oder geht das eher fließend ineinander über?
Ich bin nicht sehr systematisch in der Trennung von Arbeit und Freizeit, das bringt mein Job mit sich. Ich bin leider noch nicht mal sehr systematisch in der Arbeit und surfe manchmal hart an der Deadline, wie meine Redakteure in Hamburg und München seufzend bestätigen werden. Schöne Tage nutze ich lieber zum Rumstromern, zum Schreiben warte ich auf Regentage. Und wenn die einfach nicht kommen wollen…
Auch sonst unterscheidet sich mein Leben hier draußen gar nicht so sehr von dem zuhause. Morgens rumdaddeln, Mails und Zeitung lesen, laufen gehen. Nachmittags meist am Schreibtisch (der gern auch mal in einem Café stehen darf) – oder halt nicht. Ich bin auch beim Entdecken der Städte nicht sehr systematisch, ich gehe los, gehe verloren, entdecke, gucke, laufe viel weiter, als ich geplant hatte. Gestern wollte ich eigentlich nur mal kurz um die Ecke zum Westbourne Grove und fand mich plötzlich im Hyde Park und in der Fressabteilung von Harvey Nichols wieder. Abends treffe ich Leute, gehe ins Kino oder Theater oder Konzert oder liege auch einfach mal faul auf dem Sofa und lese. Oder gucke fern. Nichts ist entspannender als britisches Fernsehen, in dem Leute eigentlich ständig ihre Häuser renovieren.

Haben dich schon ein paar Freunde auf Deinen Reisen besucht? Welche Blogs liest Du?
Bislang nur eine Münchner Freundin, mit der ich zehn Tage durch Rajasthan gereist bin. Aber ab diesem Monat kommen durch die Nähe zur Heimat immer mal wieder ein paar Leute vorbei. Ich freue mich sehr, aber ich ahne auch, dass ich erst mal fremdeln werde.
Blogs: Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich kein Blog regelmäßig lese. Dafür fehlt oft die Zeit, in der ich lieber die örtlichen Zeitungen lese, um die Städte auch auf diese Weise kennenzulernen.

Was ist eigentlich aus dem transportablen balance board aus SF geworden? Gibt es das?
Mein Trainer schlug mir das TRX-System vor, mit dem wir auch teilweise gearbeitet haben. Großartig, aber ich habe es trotzdem nicht mitgenommen. Ich kenne mich, es läge jetzt in der Ecke.

Wie machst Du das auf Deiner Reise denn mit dem Lesestoff? Zurücklassen? Nur elektronisch lesen? Per Paket heimschicken?
Alles drei. Ich habe extra für die Reise aus Vernunftsgründen einen Kindle gekauft, aber ich kann nun mal an keinem Buchladen vorbeigehen. Und einige Bücher gibt es schlicht nicht für den Kindle. Herrliche Ausrede! Bei gekauften Büchern unterscheide ich zwischen Ex-und-hopp, die lasse ich meistens in irgendeinem Café liegen, und solchen, die was zum Klingen bringen und mich später an die Reise erinnern werden. Die werden (für absurdes Geld) heimgeschickt.

Liebe Meike, darf ich nochmal nachfragen, weil ich es einfach nicht glauben kann: 19.000 Euro in sechs Monaten? Alle Kosten? Auch Altersvorsorge, Lebens-, Unfall-, Haftpflicht-, Krankenversicherung? Oder sind das nur die Kosten, die Du zusätzlich hattest? Für Flüge, Miete, Essen, Eintritt und was da sonst noch so alles zusammenkommt. Sind die Mietkosten für die Wohnungen, die Du unterwegs mietest, nicht höher als die Einnahmen, die Du für Deine Wohnungen in HH und M hast?
Die 19.000 sind für die Lebenshaltungkosten unterwegs draufgegangen, inklusive Flüge und Unterkünfte. Was an laufenden Kosten zuhause weiterläuft (in der Tat Altersvorsorge, Künstlersozialkasse, Versicherungen, aber auch die Hypothek für meine Wohnung, Wohngeld etc.) wird von meinen Einnahmen mehr als gedeckt.

Liebe Meike, was tun Sie, wenn Sie sich einsam fühlen? Wie schaffen Sie es, immer wieder Leute zu treffen, mit denen Sie reden und die Zeit angenehm verbringen können? Ich bewundere das, weil ich beim Alleinreisen dazu neige, mich sehr in mich selbst zurückzuziehen…
Oh, solche Phasen habe ich natürlich auch. Gelegentliche Einsamkeit ist die Kehrseite des glücklichen Alleinreisens, und es stimmt, der Instinkt sagt, dass man sich dann zusammenrollt und unsichtbar macht. Finde ich auch völlig in Ordnung so, das muss hin und wieder einfach mal sein. Leute treffe ich meist per Schnellballprinzip: Freunde von Freunden, „wenn Du in X bist, musst Du unbedingt Y treffen“, so geht das ständig. Ansonsten liegt es vermutlich an meinem sehr öffentlichen Reisen, dass ich mich nur äußerst selten einsam fühle. Ich stehe ja quasi unter Beobachtung und werde virtuell begleitet, das macht schon viel aus.

Was mir immer wieder (v.a. seit Hawaii – irgendwie fand ich gefühlsmäßig, daß Sie dort einfach hingehören) durch den Kopf geht: Können Sie sich vorstellen, nach dem Jahr auszuwandern? An einen Ort, der Ihnen besonders gut gefallen hat? Oder steht eindeutig fest, daß Sie danach wieder nach Deutschland gehen und dort auch bleiben?
Derzeit steht nichts fest und ich könnte mir das durchaus vorstellen. Aber eher langfristig. Es müsste ein englischsprachiges Land sein, denn in der Sprache fühle ich mich zuhause – essentiell für eine zweite Heimat. Mittelfristig könnte ich mir vorstellen, meine Zeit zwischen Deutschland und X zu teilen. Vielleicht drei Monate im Jahr woanders leben, das wäre problemlos machbar. Denn was ich in diesem Jahr auch gelernt habe: Wir denken viel zu oft in „Entweder-oder“, zu selten in „sowohl-als auch. Man muss nicht alles Alte aufgeben, um etwas Neues in sein Leben zu lassen.

10 Dinge, die ich in San Francisco gelernt habe

1. Zeit nicht immer nur unter dem Aspekt des Mangels zu sehen. Jede Minute genießen, die kann nämlich ganz schön lang sein (erst recht zwei). Der Juni ist zwar schnell vergangen, weil mir die Stadt so gut gefiel, aber ich habe ihn bewusster erlebt als viele Monate zuvor.
2. Wieder mal: wie sehr meine Befindlichkeit von meiner Umgebung beeinflusst wird. Eben noch in Honolulu gliederschwere Faulheit, jetzt in San Francisco kribblige Neugier. Das Gefühl, dass ein guter Strom durch mich fließt.
3. Immer fein: die Dinge mal anders zu sehen. Das Knoblauch-Restaurant The Stinking Rose wirbt mit „Wir würzen unseren Knoblauch mit Essen.“ Die Hash House Harriers, die eines Abends in Laufschuhen und roten Kleidern (auch die Männer) im Vesuvio einfielen, stellten sich als „drinking club with a running problem“ vor.
4. Manchmal sind die Erinnerungen an Bücher toller als die Bücher selbst. Dachte ich mir so beim Wiederlesen von Armistead Maupins Stadtgeschichten. Und erst recht beim Ansehen der Musical-Version.
5. Rolfing. Interessante Sache. Danach geht man wie über einen sehr, sehr dicken Teppich.
6. Rosmarin-Focaccia von der Liguria Bakery, kurz im Ofen warmgemacht + Ziegenkäse von der Cowgirl Creamery + 1 Tropfen Honig = Quadratur des Kreises.
7. Überhaupt: Salz und Zucker. Zucker und Salz. Funktioniert. In Eis, in Keksen, überhaupt.
8. Louis CK. Laut lachen, sich dafür schämen und deshalb gleich noch mehr lachen.
9. Man ist nie zu alt, um alles über den Haufen zu schmeißen. Ich habe eine Frau kennengelernt, die mit 60 beschloss, nicht mehr Psychotherapeutin sein zu wollen („in einem Alter, wo ich unglaublich von meiner Erfahrung hätte profitieren können“), und Kunst studierte. Und eine 48jährige Ex-Bankerin, die sich gerade zur Masseurin und Pilates-Trainerin ausbilden lässt.
10. Hotels, in denen das Hundekuchen-Glas größer ist als der Menschenbonbon-Topf, sind nette Hotels.


Im Jetlag-Himmel

4 Uhr. Die erste Kanne Tee im Bett, mit der aktuellen Ausgabe von Time Out. Hm, zu Take That ins Wembley Stadium gehen? Sie spielen diese ganze Woche, acht Konzerte, ein neuer Rekord (Michael Jackson hat es 1988 nur auf sieben gebracht).
5 Uhr. Ich stehe mit meiner Teetasse im Morgenmantel auf der Terrasse. Auf meiner Terrasse. Und gucke in meinen Park mit meinen Platanen. Aus Carls Küchenradio dringt leise Haydn nach draußen. Langsam wachen auch die Vögel auf.
6 Uhr. Laufsachen angezogen. Losgelaufen. Das erste Lied im Zufallsgenerator des iPod: Robbie Williams, Let Me Entertain You. Damit ist es entschieden: Take That, Wembley. Misstraue niemals dem iPod-Orakel.
An der Bushaltestelle: müde Nachtschichtgesichter, Mädchen, die sich aneinander festhalten, ein Typ mit Sonnenbrille und einem Red Bull in der zittrigen Hand. Vorbei an Lord’s, dem Allerheiligsten des Cricket. Mitte Juli wird es ein Testmatch zwischen England und Indien geben, wie üblich fünf Tage lang. Hingehen? Der iPod sagt nur „Do It (‘Til You’re Satisfied)“, was ja immer ein guter Rat ist, in diesem Fall aber nicht weiterhilft. Weiter in Richtung Regent’s Park. Ich weiß nicht genau, wo er liegt, aber es sind schon ein paar andere Läufer und Hundehalter unterwegs, man muss ihnen nur folgen.
Kreuz und quer durch den Park. Rund um volle Abfalleimer diszipliniert sortierte Haufen von Bierdosen und leeren Flaschen von einer nächtlichen Party. Die Engländer müllen sehr zierlich. An mir vorbei rumpelt ein Trecker mit sechs Fussballtoren auf einem Anhänger. Es wird langsam warm, der Beginn eines fabelhaften britischen Sommersamstags. Vorbei an The Honest Sausage („free range sausages, organic ice cream“). Plötzlich der Geruch von Meer und Fisch. Mitten im Park? Ah, das Seehundgehege des London Zoo.
Zurück entlang des Regent Canal. Keine Menschenseele unterwegs, nur zwei Hausboote tuckern mir langsam entgegen, die Besitzer hinterm Steuer winken herüber. Der Duft von Wicken und Rosen in den Blumentöpfen auf den ankernden Hausbooten.
7 Uhr. Im kleinen Laden in der Formosa Street ein Pfund Kirschen gekauft (könnte man es eigentlich schaffen, so um die Welt zu reisen, dass man immer Kirschsaison hat?) und die Wochenendausgaben von Süddeutscher (yay!) und Guardian. Der Zwanziger, den ich eingesteckt hatte, ist etwas feucht geworden. „Frisch gedruckt?“ fragt der indische Ladenbesitzer grinsend. Zuhause gleich wieder das Küchenradio angestellt. Dvorak. Tee gekocht, die Terrassentür aufgeschlossen. Auf der Balustrade, meiner Balustrade, läuft ein Eichhörnchen.
Jetzt frühstücken. Aber erst müssen die Pflanzen gewässert werden. Der Nachbar brät Speck.
Es ist das perfekte Glück. Und der Tag hat noch nicht mal angefangen.

Stammkneipe, auf der Stelle

Von hier könnte ich notfalls sogar nach Hause kriechen: The Prince Alfred, mein neuer Pub gleich um die Ecke. Heute nachmittag mit klassischem Maida Vale-Fuhrpark davor: Kinderwagen und Klapprad mit Tesco-Tüte. Und nur britische Männer tragen ihre Hemden und Pullis so… so halt.

The Prince Alfred & Formosa Dining Room, 5A Formosa St, Westminster, London W9 1EE