Gute Nacht

Gestern bin ich ins Theater gegangen. Dafür brauchte ich dringend neue Garderobe. Also zu Marks & Spencer in die Herrenabteilung, wo es die weltbesten Pyjamas gibt, Stücker 15 Pfund. Gestreift? Kariert? Ich entschied mich für einfarbig (blau, klar).

Moment mal, im Pyjama ins Theater? Der absolut passende Dresscode für die Performance Lullaby der Südlondoner Theatertruppe Duckie, die nichts anderes versucht, als das Publikum so schnell wie möglich in den Schlaf zu singen. Man checkt um 10.30 Uhr im Barbican ein, zieht sich in der Umkleide Nachthemd und Plüschpuschen an, bekommt eine heiße Schokolade im Foyer serviert und wird dann zu seinem Platz gebracht. In diesem Fall: ins Bett. Im Barbican Pit stehen rund um eine kleine Bühne 50 Einzel-, Doppel- und Dreierbetten. In dem neben mir liegen drei kichernde Franzosen, ein Mann und zwei Frauen. Auf jedem Nachttisch eine Wasserkaraffe und ein Beutelchen mit Lavendelseife, Schlafmaske und Ohrenstöpseln.

Auch die anderen Besucher waren festlich gewandet: rot-grüne Pyjamahosen mit Aliens und Robotern, rosa Polyesterrüschen-Nachthemden, Band-T-Shirts aus den späten Achtzigern, Snoopy-Shorts, es war alles dabei. Eine Frau kuschelte mit ihrem Stoffhasen, ein Pärchen stritt leise.

Die Show selbst war zum Gähnen – genau das wollte sie ja auch sein. Somnambul tanzende Tintenfische, ein wandelndes Stoffhaus mit Watterauch aus dem Schornstein, eine zaubernde Ente, die vergeblich einen Luftballon mit dem Zylinder zu fangen versuchte – „Dream food“ nennen die Performer das, Bilder wie direkt aus dem Kinderfernsehprogramm, die hoffentlich später zu Träumen werden. Dazwischen Gute-Nacht-Geschichten mit Fragen, die man mit in den Schlaf nehmen konnte („Wenn du aus etwas anderem als Fleisch bestehen könntest, was wäre das? Wärst du lieber ein Jahr blind oder ein Jahr taub?“) und Musik, die nur auf den weißen Tasten des Klaviers komponiert ist. Angeblich besonders beruhigend, weil es dieselben Noten sind, die Spieldosen verwenden.

Was diese Idee so unwiderstehlich charmant macht, ist die Freundlichkeit, mit der man hier betüdelt wird. Für die meisten ist es ja schon ein paar Jahrzehnte her, dass sie zuletzt liebevoll in den Schlaf gesungen wurden, einige haben es vielleicht nie erlebt. Aber jeden trifft es an einem wohlig warmen Fleck mitten im Herzen. Ich war jedenfalls noch vor der Pause, in der Betthupferl und warmer Brandy serviert werden sollten, selig eingeschlafen. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, waren fliegende weiße Stoffquallen über unseren Köpfen. Oder habe ich das schon geträumt?

Aufgewacht bin ich davon, dass ein kleines Gehege mit tschilpenden Küken in die Mitte des Raums getragen wurde. Unglaublich, tatsächlich schon halb acht! Das Licht wurde langsam von magenta über orange auf gelb hochgefahren, die Bühnensonne ging auf, alle räkelten sich in den Betten. So ein gemeinsames Aufwachen unter Wildfremden ist ganz wunderbar. „Did you dream?“ fragt mich eine der Französinnen von nebenan, und der Mann auf meiner anderen Seite erzählt, dass er erst um halb vier eingeschlafen ist, weil er unter der Bettdecke Videogames auf dem Handy gespielt hat wie ein Zehnjähriger. Er rekapituliert, was ich gestern Nacht verpasst habe: Vorträge über das menschliche Nervensystem und seine Verbindung zum pythagoräischen Modell des Weltalls – eigentlich unmöglich, bei so was wach zu bleiben, aber er hat es geschafft.

In der Theaterkantine war schon das Frühstück aufgebaut: Toast und Croissants, weiche Eier und Orangensaft, Tee. Und überall nur das, was man sonst morgens selten sieht: lächelnde Gesichter.

Duckie’s Lullaby, Barbican Pit, bis 24. Juli. Der Eintritt beträgt 42 Pfund – damit ist dies der beste Bed & Breakfast-Deal von ganz London.

40 Antworten to “Gute Nacht”

  1. Christian Says:

    Wie schräg ist das denn? toll.
    Ja und, did you dream?

  2. Birgit Says:

    Unglaublich, was man alles so erleben kann. Danke für die vielen tollen Eindrücke, an denen wir Daheimgebliebenen teilhaben dürfen!

  3. Birgit Says:

    Ein Traum!

  4. Tilda Says:

    Boaeeh! Wunderbar, einmal mehr bin ich froh und dankbar, dass Sie “uns” alle hier draussen teilhaben lassen an Ihren Reiseerlebnissen. Ich weiss nicht ob ich den Mut hätte diese Vorstellung zu besuchen … der Gatte behauptet nämlich ich tät des nächtens schnarchen und das wäre mir dann doch eher unangenehm in so großer Gesellschaft.

  5. Anne Says:

    Großartig. Ich hatte schon davon gelesen und wollte darauf hinweisen, aber das ist ja wohl jetzt nicht mehr nötig! Ansonsten fällt mir eigentlich nur ein, dass ich auch dringend noch mal nach London muss.

  6. sabina Says:

    das ist mit abstand das abgefahrenste, was ich je gehört habe. und trotzdem und deshalb und überhaupt absolut umwerfend fantastisch.

  7. jule Says:

    Herzig. Mal eine andere Art von Schlaflabor…
    Wobei ich so gespannt wäre, was da noch alles aufgeführt wird, dass ich das Schlafen gern aufschöbe, um nichts zu verpassen. ;-) Das Vortragsthema klingt jedenfalls auch interessant-skurril.

    Bestimmt nehmen die umsorgenden Künstler einen somnambulen Gast behutsam bei der Hand und bringen ihn liebevoll wieder ins Bett.

  8. Hasenkind Says:

    Sie sehen sehr glücklich aus.

  9. Lena Says:

    Wow, tolle Nachtveranstaltung!!!

  10. jule Says:

    Um die Frage der Französin aus dem Nachbarbett aufzugreifen: Hat sich der Nährstoffgehalt des Dream Food bemerkbar gemacht?

    Übrigens bist Du gerade in der Heimatstadt des Ukulele Orchestra of Great Britain, das schon oft im Barbican Centre aufgetreten ist (auch das Konzert der Live-DVD wurde dort mitgeschnitten).

    http://www.youtube.com/user/UkuleleOrchestra#p/u/22/nW0ACEOEq6w (Life on Mars)
    http://www.youtube.com/user/UkuleleOrchestra

    Ist die Ukulele noch im Gepäck oder schon an die Hamburger Basisadresse zurückgeschickt worden?
    Das UOGB macht leider keine eigenen Workshops mehr, es gibt auf der Webseite aber Hinweise zum Erlernen bzw. Verbessern der Ukulelenfertigkeiten:

    http://www.ukuleleorchestra.com/main/Workshops.aspx

  11. Nikkie Says:

    Wie geil ist das denn?! Vermutlich eine Initiative aller Thaterschreiberlinge, deren Stil in den Kritiken als einschläfernd diskriminiert wurde. Das nenn ich mal, aus allem das Beste rauszuholen. Aber in Reinform.
    Und Ihr Gesichtsausdruck ist großartig: vollkommene frühmorgendliche Glückseligkeit. Da muss man unbedingt mitgrinsen.

  12. Uschi aus Aachen Says:

    Herzerwärmend!

  13. eukalyptus Says:

    cool,

    da ist dann wohl eher das kollektive Schnarchen statt dem Applaus die Belohnung für die Künstler :)

  14. Kristiane Says:

    Ich würde unter so vielen fremden Menschen zwar kein Auge zu tun können – aber trotzdem, eine herrliche Idee. Für die man als Teilnehmer vielleicht ein gewisses Urvertrauen braucht? Aber das haben Sie, sonst wären Sie nicht auf dieser Reise.

  15. Daniela Says:

    Mist! Ich bin nächste Woche auch in London und habe SOFORT versucht, Karten zu bekommen als ich Deinen Bericht gelesen habe. Aber leider ausverkauft ;-(
    Dafür ist ja der Pavillon umsonst!

  16. Wortschaetzchen Says:

    Tolle Idee. Wie für mich gemacht. Ich schlafe fast überall ein. Nicht immer von Vorteil…

  17. Pia Says:

    Lese gerade: Cameras are not allowed.
    Danke, dass Du Dich nicht dran gehalten hast.

  18. meike Says:

    @Daniela: Wie lange sind Sie hier? Ich bin zwar auf dem Land, komme aber am Freitag zurück. Nehmen wir einen Tee?
    @Pia: Es hat sich keiner so richtig dran gehalten…

  19. Dievommond Says:

    hey, das ist ja toll! Passt irgendwie zu meinem Namen, nich? Sollte da wahrscheinlich auch mal uebernachten gehen…is ja so cool! Klasse!!

  20. jule Says:

    Vielleicht gabs für die Journalistin ja auch eine Fotogenehmigung?

  21. Renata Says:

    Kicher, Kicher! Das ist ja verrückt!! Da würde ich gerne mal mit meinem 11-jährigen Sohn hingehen. Ob das nächstes Jahr auch wieder stattfindet???

    Alles Gute weiterhin!

  22. Renata Says:

    Ach, hab grad gelesen: “age restriction 16+” warum das denn??? Schade!

  23. jule Says:

    Renata, vielleicht befürchten die Veranstalter, dass Jüngere zu aufgedreht sind und Unfug machen und somit die Nachtruhe stören, weil sie eher eine Pyjamaparty daraus machen möchten als sich einlullen lassen wollen…

  24. Katja Says:

    Die Briten, die spinnen!

  25. Katja Says:

    Aber very cool :-)

  26. Tina aus OWL Says:

    PHANTASTISCH! Gibt es das auch in Deutschland???

    Und wie immer das passende Outfit bzw. “Sleepfit”… genial!

    Wünsche, wohl geruht zu haben!

  27. MonikaZH Says:

    Auf so schräge Ideen können wohl tatsächlich nur Briten kommen – wunderbar.

  28. Sabine Says:

    super – da wäre ich auch sofort dabei! wahrscheinlich könnte ich nicht einschlafen aus lauter Angst etwas zu verpassen.

  29. nico Says:

    total verrückt :-) ich lach mich schlapp….

    meike,
    wie bekommst du so kurzfristig karten, wenn das ausverkauft ist.. oder hattest du glück?

    “ich bin auf dem land” da kommt direkt ein rosamunde pilcher bild in mir hoch.. früher habe ich mir immer gewünscht “auf dem land” zu leben…und dabei lebe ich hier wirklich mitten auf dem platten land, ich wußte es als kind nur nicht :-)

    hört sich toll an…ich freue mich auf den land bericht

    lg
    nico

  30. Sonni Says:

    Hallo Meike, ich weiß es passt hier jetzt gerade nicht hin, aber ich wollte mich bedanken für den San Francisco Tipp mit den Aufzügen beim Union Square… wir sind ganze 4 Mal in den 32. Stock gefahren und hatten jedesmal Magenflattern! Vielen Dank für diesen tollen Tipp!
    weiterhin viel Spaß in London!
    Sonni

  31. Katarina Says:

    Ach, das war wieder einer von den Einträgen hier die mich breit lächelnd zurückliessen. Ich bin jetzt schon nostalgisch wenn ich denke dass das nur ein “Ein-Jahres-Blog” ist.

  32. ca Says:

    Gab’s keine NoW zum Frühstück?

  33. Ulla Says:

    verflixt, ich brauche unbedingt noch mehrere Leben. Immer schon hab ich es geahnt – jetzt, seit dem ich hier lese, weiß ich es ganz genau.

    Unbedingt fehlen mir solche schrägen Unternehmungen in meinem Leben …. lach mich schlapp :o ))) … und freue mich täglich auf den *Meike-Wennemuth-Klick*.

  34. bling.bling Says:

    haha das ist ja abolut crazy! :) auf so eine idee wäre ich nie gekommen und schon gar nicht bei sowas dabei zu sein. jetzt auch wollen. guten morgen!

  35. Linkschleuder vom 11.07.2011 — Konstantin Klein Says:

    [...] Vor mir die Welt… » Gute Nacht – Meike W., die weltreisende WWM-Gewinnerin, geht zum Schlafen ins Theater. [...]

  36. Susanne Says:

    Wie lustig! Und der Morgenmantel aus Mubai war auch mit von der Partie!

  37. stanko Says:

    Sehr schöne Idee und wohl toll umgesetzt – danke für die Zeilen – *mehr als schmunzelnd*

  38. Nicolino Says:

    wuuunderschöne sache, hab nen bissl verliebtseingefühl im bauch bekommen, lustig, made my day.
    lg NicoSoetjeNilaMalin

  39. Kiki Says:

    Hallo Meike,
    wie schade, dass ich Ihren/deinen fabelhaften Blog erst jetzt entdeckt habe!
    Ich war bis Dienstag in London und wäre auch zum Schlafen ins Theater gegangen :)
    Dafür durfte ich beim Kew Summer Concert dabei sein – auch ein tolles Erlebnis!
    Theater gab es auch, aber mehr für meinen Sohn als für mich, im Vaudeville Theater.
    Ich vermisse London schon jetzt!!!
    Liebe Grüße,
    Kiki

  40. Septembersonne Says:

    Lustig, auf was für Ideen manche so kommen.