Ausstellungstipp

Manchmal wünsche ich mir, die Welt mit besseren Mitteln einfangen zu können: Malen, anständig fotografieren… Die Familie Haase tut es seit 50 Jahren. Scheint eine schöne Ausstellung zu sein.

Stichhaltig

Ein Tag nach dem Unfall und noch immer ein bisschen neben der Spur. Und wie immer, wenn das System gestört ist, passieren viele kleine Mini-Unfälle. Ich verbrenne mir die Hand am Ofen, ich stolpere, ich lasse Dinge fallen, ich lösche versehentlich eine Seite hier im Blog… lauter Signale, dass das Leben gerade unrund läuft. Die größte Blödheit habe ich direkt nach dem Unfall begangen: Ich hatte mein Handy aufs Autodach gelegt, weil ich eine Nummer nachgeguckt hatte, und beim Weiterfahren… ja, genau. Darin steckt natürlich eine Lektion (wie in allem): dass ich vielleicht ein paar Tage Schonung brauche. Die ich mir sonst eher zähneknirschend gönne.

Der Tag heute war dafür schon mal genau richtig: Ich hatte einen Stickkurs in der Idler Academy gebucht. Oh, das braucht gleich mehrere Erläuterungen:

1. Doch, Sticken. Ich schätze, jeder hat eine bis mehrere peinliche oder zumindest erklärungsbedürftige Leidenschaften, und eine von meinen (ich fürchte, ich habe eine Menge) ist Sticken. Oder vielleicht besser: war Sticken. Denn wie das Leben nun mal ist: Ich habe bestimmt 15 Jahre lang nichts mehr gestickt. Dabei mochte ich immer die Langsamkeit, das Halbanwesende, das Wegdriften, die Möglichkeit, dabei Radio zu hören oder großartige Unterhaltungen zu führen. Auch dazu ist das Reisen ja wunderbar: wieder zu entdecken, was einem Freude macht. Und warum.

2. The Idler Academy. Auf die bin ich gestoßen, weil ich ein Fan von Tom Hodgkinson bin, dem Hohepriester des intelligenten Müßiggangs. How to be free ist eine schöne, wenn auch gelegentlich Cambridge-verquaste Anleitung, wie man aus seinem langweiligen Alltag ausbricht. Eine Art Räuberleiter zum stilvollen Ausstieg. Es ist nicht jedermanns Sache, aber zufällig meine: sich von unnötigem Zeugs und eingebildeten Verpflichtungen befreien, Ukulele spielen lernen, deutlich zu viel trinken und dabei verboten viel Spaß haben. Vereinfacht gesagt. Als ich beim müßigen Surfen darauf stieß, dass er jetzt ein Café mit angeschlossener Buchhandlung und Akademie für den vierten Bildungsweg betreibt, in der man unter anderem Kurse in Latein und Sockenstopfen belegen kann, war ich natürlich sofort entflammt.

Und wie so oft fand ich bestätigt: Merkwürdige Ideen ziehen interessante Leute an. Im Stickkurs von Sally Nencini saßen außer mir Allison, die Indie-Plattenproduzentin („Warum ich hier bin? Ich muss runterkommen von meinem Job“), Rebecca, Digital Manager bei einem Zeitungsverlag (an der Tatsache, dass es immer mehr Berufsbezeichnungen gibt, die man mir erst erklären muss, merke ich, wie alt ich bin), Isabel, Schauspiellehrerin, und Sally Nencini, die Lehrerin, die früher mal Designerin bei Levis war, dann einen Lehrgang im Möbelpolstern machte (das sie inzwischen selbst lehrt) und jetzt personalisierte Sesselbezüge bestickt. Es war, wie man sich vorstellen kann, ein ausgesprochen vergnügter Tag. Lauter Frauen, die irgendwann mal in der Schule gestickt haben, eigentlich überhaupt keine Zeit hätten für solchen Kram, aber um so lustvoller sich genau diese Zeit einfach nahmen, hier fünf Stunden auf altem Schulgestühl zu hocken und den Kettenstich neu zu lernen. Und sich Sachen zu erzählen, die man sonst einfach nicht erzählt.

The Idler Academy, 81 Westbourne Park Road, London. Di bis Sa 10 bis 18.30 Uhr, So 11 bis 17 Uhr, Mo geschlossen.

Puh

Komischer Tag, dachte ich, als der Transporter in meine Beifahrerseite krachte und mich ein paar Meter mitschleifte. Ich trat hart auf die Bremse und spürte schon den Schlag von hinten, als ein weiterer Wagen auf mich auffuhr. Das Merkwürdige an Unfällen ist ja nicht nur diese zeitlupenartige Verlangsamung, dank derer man jede Nanosekunde kristallklar erlebt, sondern das angestrengt erwachsene Funktionieren hinterher, mit dem man Kontaktdaten austauscht und kleine Witze reißt, während man innerlich noch zittert. MIr ist nichts passiert, danke der Nachfrage, der Transporter-Fahrer hatte Schuld, er schoss aus seinem Parkplatz heraus, ohne mich auf der Straße zu sehen.

Es war das erste Mal auf dieser Reise, dass etwas wirklich Unangenehmes passiert ist – eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, was ich schon alles erlebt habe. Um so dankbarer bin ich, dass auch hier alles gut gegangen ist. Es hat mich einfach nur daran erinnert, dass alles auch ganz anders laufen könnte.

Der Unfall war eingebettet in einen Tag voller Lieblichkeit. Ein letztes Frühstück am Holztisch vor der Balancing Barn, im Pyjama in der Morgensonne. Ein letzter Besuch im Nachbarort Halesworth, einem unendlich charmanten Bilderbuchörtchen. Der Schlachter in blaugestreifter Schürze, das Sportgeschäft mit Cricket-, Angler- und Rugby-Ausrüstungen, die Besitzerin des Handarbeitsgeschäfts, die in der Sonne strickte – ich guckte lange in die Auslage des örtlichen Maklers.

Und am Abend, mit immer noch leicht flatternden Nerven, mein erstes Mal Ballett, Romeo und Julia mit den Bolschoi-Superstars Ivan Vasiliev und Natalia Osipova, auch im wahren Leben ein Paar. Ich verstehe ja nichts von der Sache, aber wie kann es sein, dass ein niedergeworfener Fehdehandschuh auf der Bühne mehr Lärm macht als die Landung von Vasiliev nach einem Sprung, bei dem er circa zehn Minuten in der Luft hängt? Den beiden zuzugucken macht etwas hysterisch. (Auch vor Lachen, denn… ich kann unmöglich die einzige gewesen sein, die ununterbrochen auf Vasilievs großzügig dimensioniertes Suspensorium gestarrt hat.) Am Ende des Abends saß ich da und dachte: Glück gehabt, wieder mal. Heute morgen, heute nachmittag und gerade eben.


Gegen den Strom

Morgen beginnt hier keine fünf Kilometer von hier das Latitude Festival, ein Open Air mit Musik, Tanz, Literatur, Kabarett, das im letzten Jahr ganz prima gewesen sein muss. Schon heute verstopften endlose Karawanen aus Campern und Bullys die A 12. Ich fahre morgen in die entgegengesetzte Richtung, zurück nach London, und höre heute schon den ganzen Tag Musik von denjenigen, die ich verpasse. Besonders Iron and Wine und Seasick Steve mit seiner selbstgebastelten Gitarre aus Besenstiel und Radkappen hätte ich gern gesehen.

Noch Fragen?

Einige haben es schon bemerkt: Das Blog hat eine neue Seite bekommen: Fragen – oben zwischen der Projektbeschreibung und den schmählich vernachlässigten Wasserbildern. Dies geschah auf Anregung einiger Kommentatoren, vielen Dank dafür. Der Question Time-Post von neulich war so beliebt, dass die Fragezeit jetzt einfach bis zum Ende der Reise verlängert wird. Hier können also gern weiterhin alle generellen oder off topic-Fragen gestellt werden.

Landleben II

Genau so ist es hier. Immer noch ungeschlagen.

Regentag

Herrlich. Bei Regen aufgewacht, Tee gekocht, den Tropfen an den großen Fenstern zugeguckt. Und jetzt lungere ich im Marks & Spencer-Schlafanzug auf dem Sofa herum und bete, dass der Regen nicht nachlässt, so dass ich heute weder Schlafanzug noch Sofa verlassen muss. Das Haus hat eine bestens bestückte Bibliothek aus Design- und Reisebüchern, dazwischen stehen Klassiker wie Madame Bovary neben DVD-Boxen mit Godard-Filmen und, noch besser, Toy Story 1 bis 3. Aber auch andere Lieblinge von mir wie ein Buch der großartigen, großartigen, wunderbaren Maira Kalman finden sich hier. Und Ryszard Kapuscinskis Gespräche mit Hofschranzen des äthiopischen Königshauses nach dem Sturz von Haile Selassie – beste Vorbereitung für den November. Es gibt weder Fernseh- noch Handyempfang im Haus, es ist auch in dieser Hinsicht das Paradies.

Eines der Bücher hatte ich schon vorgestern mit in mein Schlafzimmer genommen: W.G. Sebald, Die Ringe des Saturn. Auch eines dieser „Wollte ich schon immer mal“-Bücher, das hier nun unbedingt gelesen werden wollte. Denn Sebald schildert darin seine Wanderung durch die spärlich besiedelte Landschaft von Suffolk (also durch genau die Gegend, in der das Haus steht), ähnlich mäandernd, wie Maira Kalman zeichnet, aber unendlich melancholischer. Erinnerungen, Assoziationen schlendern im Fußtempo in die Erzählung hinein und wieder hinaus. Ich habe mich sofort darin festgelesen, vielleicht, weil es meinem eigenen derzeitigen Wahrnehmungstempo so gut entspricht.

Als wir gestern morgen über die Dörfer nach Dunwich fuhren, im Mittelalter eine der wichtigsten Hafenstädte von Europa und sechstgrößte Stadt von England, doch über die Jahrhunderte vom Meer verschluckt und heute nur noch ein trostloser Ort aus zehn Häusern, einem Museum und einer Fish & Chips-Bude (im Führer steht: „Das Interessanteste an Dunwich ist das, was es nicht mehr gibt“), war die Sebaldsche Melancholie fast mit Händen zu greifen. Einst standen hier 400 Häuser, acht Kirchen, dutzende von Windmühlen, im Hafen lag eine Handelsflotte von 80 Schiffen – und alles ist untergegangen. Im 13. Jahrhundert schluckte ein Sturm fast ein Viertel der Stadt, der Hafen wurde unnutzbar, und ohne Einnahmen fehlte auch das Geld, sich gegen die gefräßige See anzustemmen. Ein Haus nach dem anderen stürzte die Klippen hinunter, die sich mehr und mehr ins Landesinnere vorarbeiteten. Schließlich stand nur noch die Ruine der All Saints-Kirche. „In 1919 it, too, slipped over the cliff edge, together with the bones of those buried in the churchyard“, schreibt Sebald, und „if you look out from the cliff-top across the sea towards where the town must once have been, you can sense the immense power of emptiness.“

Ein Dörfchen weiter landeinwärts, in Westleton, sieht es schon ganz anders aus. Ein heiterer Ententeich, Vorgärten mit Stockrosen und Kornblumen, ein nett rummeliger General Store und gegenüber, in einer ehemaligen Methodistenkirche, ein labyrinthisches Antiquariat. Überall stehen verschlissene Sessel; wer Bedienung will, soll mit einem Stock auf einen alten Ölkanister eindreschen, um die Buchhändler aus den hinteren Räumen zu locken. Ein Mädchen erscheint, fragt, ob wir gern Tee hätten, und bringt ein Tablett. Ich frage nach dem Sebald, ich würde ihn gern in London weiterlesen. „I have to ask Bob“, sagt sie. Bob erscheint aus den Katakomben, ein leichenblasser Mann mit schlohweißem Haar, gekleidet in eine blaugestreifte Pyjamahose, und nach einigem Hin und Her wird das Buch gefunden. „Es ist die Erstausgabe der englischen Übersetzung, deshalb ein bisschen teurer“, sagt Bob – ganze sechs Pfund.

Zuhause eine Mail von meinem alten Freund Andrew, Germanistik-Professor in Cambridge, derzeit aber leider in Berlin, sonst hätte ich ihn auf dem Heimweg nach London besucht: „Noch schöne Tage in Suffolk. ‘Die Ringe des Saturn’ von Sebald kennst Du wahrscheinlich? Ich habe neulich einen Aufsatz zum emigrierten Dichter und Übersetzer Michael Hamburger geschrieben, der in Suffolk lebte und auch bei Sebald vorkommt.“ Unsere alte Freundin, die Sychronizität, mal wieder.

Die ist übrigens auch optisch tätig. Ich habe es schon mal kurz angedeutet: Mein Übergepäck hat viel mit den Requisiten von Häuslichkeit zu tun, die ich trotzig durch die Welt schleppe. Teekanne, Morgenmantel, Ukulele – und ein Gobelinkissenstickset des britischen Herstellers Ehrman, eine meiner verschrobeneren Leidenschaften. Ich hatte es für lange Kaminabende mit ins Haus genommen, und hier traf das Kissen-Motiv auf eine mindestens genau so bunte Tassensammlung im Schrank, die problemlos die Vorlage hätte liefern können.


Landleben

In einem Haus wie diesem, so einsam es auch liegt, bleibt man nicht lange allein. Heute morgen hatten wir Besuch von zwei Radlern vom benachbarten Campingplatz und einem Paar aus der Gegend, das gerade in der Lokalzeitung etwas über das Projekt gelesen hat und neugierig war. Klar durften die mal gucken – und haben uns im Gegenzug gleich mit guten Ausflugstipps versorgt.

Wenn man wie ich ein halbes Jahr am Stück nur in Großstädten unterwegs war, sind ein paar Tage auf dem Land fast exotisch. Ich liebe besonders die kleinen Landkirchen wie die direkt bei uns vor der Tür, die mit Körben von Feldblumen geschmückt ist und am Eingang eine Tupperdose mit Keksen für die Besucher bereithält („bitte Dose geschlossen halten – wegen der Fledermäuse“). Oder die glücklichen freilaufenden Schweine. Oder die unbekümmert gestrichenen Häuser.

Im benachbarten Blythburgh steht die Holy Trinity Church, eine durch die unbemalten alten Glasfenster ungewöhnlich helle Kirche mit Backsteinboden und einer ebenso ungewöhnlichen Holzdecke mit Engelsfiguren.

Aber wir wollten ans Meer.

Southwold ist eine Art Großstädtertraum eines ostenglischen Küstenorts, viele Londoner haben hier Wochenendhäuser. Man merkt es an den Boutiquen und Ökoläden, aber es ist nicht unangenehm. Dazu ist das Städtchen zu eigenwillig. Es hat geschafft, dass sich keine der großen Supermarktketten hier ansiedeln konnte, und so hat man das Vergnügen, das Abendessen in lauter kleinen Lädchen zusammenkaufen zu müssen. Beim Schlachter gibt es Wurst von freilaufenden Schweinen, siehe oben, im Käseladen ebenfalls lokale Spezialitäten.

Mein Lieblingsort aber war sofort der Sailors’ Reading Room an der Promenade. 1864 gebaut, um die Seeleute und Fischer aus den Pubs herauszuhalten – die Damen des Ortes lasen denjenigen vor, die es nicht selbst konnten –, ist der Reading Room heute immer noch der Ort, an dem man sich für ein Stündchen aufwärmen kann. Auf dem Tisch liegt die Fishing News („The voice of the industry since 1913“) neben der East Anglian Daily Times, an den Wänden hängen Galionsfiguren, Schiffsmodelle, Fotos einiger Generationen von Fischerfamilien. Auf einer kleinen Schultafel stehen die heutigen Tiden. Ganz still ist es hier, nur von draußen dringt gelegentlich das Grollen der Brandung herein.

Sailors’ Reading Room, East Cliff, Southwold. Täglich von 9 bis 17.30 Uhr geöffnet, im Winter bis 15.30 Uhr.

Sprachlos

Neue Heimat 7 1/2

Aus der Serie „Dolle Häuser, die dringend noch von mir bewohnt werden wollen“ habe ich mir für die nächsten Tage dieses hier ausgesucht:

Es steht in Suffolk, innen ist es auch ganz nett – allerdings könnte das Internet ein bisschen shaky sein. Wenn ich also nichts von mir hören lasse, ist entweder das Netz abgestürzt oder das Haus.