Jerusalem I

Montag, 24. Oktober 2011

Links die Männer. Rechts, durch eine Wand getrennt, die Frauen. Über allem ein Gesang und eine merkwürdige Beklommenheit. Soldaten mit Maschinenpistolen stehen herum, amerikanische Touristengruppen. Als ob alle auf etwas warten.

Der Tempelberg mit dem Felsendom, ein paar dutzend Meter über der Klagemauer und doch wie auf einem anderen Planeten. Nicht-Moslems dürfen ihn nur durch einen hochgesicherten Eingang betreten, der von israelischer Polizei kontrolliert werden, und das auch nur außerhalb der Gebetszeiten. Die Wartezeit heute morgen: eineinhalb Stunden. Endlich oben angekommen, gehen die Massen, die sich unten drängten, auf dem weiten Plateau schnell verloren. Die Al-Aqsa-Moschee, der Felsendom selbst: ebenfalls nur Moslems geöffnet. Auch hier: eine seltsame Starre, ein Gefühl von Uneigentlichkeit.

Hier oben auf dem Tempelberg konzentriert sich das, was die Israelis trocken HaMatzav nennen: die Lage. Die Lage ist die: Für die Juden ist der Tempelberg das Allerheiligste. Der Fels, auf den die Welt gebaut ist, der Ort, an dem Gott die Erde für Adam entnahm und Abraham beinahe seinen Sohn Isaak opferte, der Ort des Salomonischen Tempels, in dessen Innerstem die Bundeslade mit den zehn Geboten im Tabernakel ruhte – das Allerallerallerheiligste. Für Moslems ist vom Tempelberg Mohammed in den Himmel aufgefahren, nach Mekka und Medina der drittwichtigste Ort im Islam. Und für alle ist es der Nabel sämtlicher Konflikte in der Region. Der Auslöser für HaMatzav.

Und dann hätten wir noch das hier, keine 500 Meter von Tempelberg und Klagemauer (der ehemaligen Westmauer unterhalb des zerstörten Salomonischen und Zweiten Tempels) entfernt: die christliche Grabeskirche. Erbaut an der Stelle, an der laut Überlieferung Jesus gekreuzigt und begraben wurde. Der Altar oben, unter den die Gläubigen sich bücken, birgt ein Loch im Steinboden, in dem angeblich das Kreuz gestanden hat – Golgatha. Diese Kapelle ist unter der Obhut der Griechisch-Orthodoxen, die Kapelle zwei Meter daneben (hier wurde Jesus ans Kreuz geschlagen) gehört den Franziskanern. Zwischen den diversen christlichen Fraktionen, die Besitzansprüche anmelden, ist der Dissens so groß, dass seit dem 12. Jahrhundert der Schlüssel zur Grabeskirche in der Hand derselben muslimischen Familie ist, die jeden Morgen um 4.30 Uhr aufsperrt und abends um 20 Uhr wieder zu.

Wenn es nicht alles so tragisch wäre, dann… Aber so ist nun mal ist die Lage.

Bauhausen

Samstag, 22. Oktober 2011

Die Weiße Stadt also. Den Namen verdankt Tel Aviv seinen geschätzt 3000 Bauhaus-Gebäuden aus den 30er bis 40er Jahren, aus einer Zeit, als sich die Bevölkerung binnen kurzem verdreifachte. Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Bauhaus-Häuser, 2003 hat die UNESCO das Ensemble zum Weltkulturerbe erklärt. Wenn man sich allerdings auf die Suche nach ihnen macht, findet man sich eher in einer Graubraungelblichen Stadt wieder. Die Feuchtigkeit, die Seeluft, die Hitze haben die meisten Fassaden ruiniert, den Rest besorgten unbekümmertes Umbauen, zugemauerte Balkons. Erst seit den Neunzigern besinnt sich Tel Aviv wieder auf seine Architekturgeschichte, doch bislang wurden nur einige hundert Bauten renoviert. Fördergelder bekommen die Besitzer nicht dafür, am Rothschild Boulevard allerdings, wo sich ein Haus an das andere reiht, gibt es die Auflage, dass für jeden Neubau eines verspiegelten Banken- oder Versicherungspalastes ein Bauhaus-Gebäude restauriert werden muss. Aber der Normalfall sieht so aus:

Die derzeitige Wiederentdeckung des Bauhaus-Erbes ist natürlich vor allem spekulationsgetrieben. Renovierte Wohnungen lassen sich für Millionenbeträge an ausländische Investoren, gern russische Oligarchen, verkaufen. Einerseits ist es zum Zähneknirschen, wenn man sieht, was aus der ehemals egalitären Idee des guten Designs für alle geworden ist. Andererseits werden auf diese Weise zumindest ein paar Häuser überleben, die ansonsten keine Chance gehabt hätten.

Aus der Abteilung Ausgleichende Gerechtigkeit: Die frisch getünchten und teuer verkauften Häuser werden regelmäßig von den hier herumfliegenden Fledermäusen mit Kot bombardiert. Leider stehen die Tierchen unter Naturschutz… Karma.

Unabhängig davon ist die Avenue Rothschild eine der schönsten Straßen von Tel Aviv, mit einer prächtigen Fußgänger-Allee in der Mitte. Mein Lieblingshaus hier ist gar kein Bauhaus-Gebäude, sondern eine der mindestens ebenso typischen Promenadenmischungen in dieser Stadt. Von einem russischen Architekten namens Berlin für eine jemenitische Familie gebaut, beherbergte es lange im ersten Stock eine Armenküche für orthodoxe Juden, im Erdgeschoss ein chinesisches Restaurant für die Reichen, heute eine Szenebar. Only in Tel Aviv.

Ein Freitag in Tel Aviv

Samstag, 22. Oktober 2011

1. Frischgepressten Granatapfelsaft in der Dizengoff-Straße trinken. Mein Lieblingsstand ist der neben dem Bauhaus Center in Nummer 99. Dort ist nämlich ein Plattenspieler in Betrieb, der die Straße mit feinster Ware beschallt. Heute: Rick James. Besser kann ein Tag nicht anfangen. Mit dem Saft habe ich mich auf die Bank vor dem Stand gesetzt und bin, wie praktisch jedesmal, mit dem Banknachbarn ins Quatschen gekommen. Heute: eine etwa 60jährige Bildhauerin aus London, geboren und aufgewachsen in Israel, die zu einem Klassentreffen ihrer Kunsthochschule angereist war. Wir plauderten über nationale und individuelle Identitäten, und sie sagte: „Ich sage nie einem Fremden, dass ich aus Israel bin. Die Debatten sind mir einfach zu anstrengend. Stattdessen behaupte ich immer, ursprünglich aus Österreich zu sein, von daher sind nämlich meine Eltern eingewandert.“

2. Im Bauhaus Center stöbern. Dabei diese Glasuntersetzer mit Bildern israelischer Politiker entdeckt: Theodor Herzl, Moshe Dayan, Menachem Begin, David Ben-Gurion… Ich habe natürlich Golda Meir (in blau) gekauft, die Heldin meiner Kindheit. Darauf parke ich mein Whiskyglas, wenn ich im Januar wieder zuhause bin.

3. Weiter die King George Street hochgeschlendert. Vor dem Meir Garden lauter Hunde am Zaun festgebunden. Was ist hier los? Das örtliche Tierheim hat einen Streichelzoo organisiert. Gute Idee, die Tiere zu den Menschen zu bringen und nicht umgekehrt; so finden sich vielleicht eher ein paar Adoptierwillige.

4. Der Carmel-Markt. Immer ein sensorischer Overkill und am Freitag immer besonders irre, weil alle noch schnell ihre Wochenend-Einkäufe machen. Heute gucke ich nur. Der Kühlschrank ist voll genug, und am Sonntag fahre ich sowieso nach Jerusalem.

5. Die Haaretz kaufen und sich in ein Café setzen. Am Freitag immer zusammen mit der Herald Tribune und mit der Wochenendausgabe. Darin eine Geschichte über die Heimkehr eines der 1027 palästinensischen Gefangenen, die diese Woche gegen den israelischen Soldaten Gilad Shalit ausgetauscht wurden: eine Frau namens Irina Polishchuk-Sahrane. Geboren in der Ukraine, Mitte der Neunziger nach Israel eingewandert, wo sie als Prostituierte in einem Bordell in Tel Aviv arbeitete. Einer ihrer Kunden war der Palästinenser Ibrahim Sahrane. Sie verliebten sich, heirateten, zogen in sein Heimatdorf Deheisheh, nicht weit von Bethlehem. Die Statistik des Flüchtlingslagers: 18 Selbstmordattentäter starteten von hier, 35 sitzen mit zum Teil mehrfach lebenslänglichen Strafen in israelischen Gefängnissen. Irina Polishchuk-Sahrane, die als Ukrainerin immer die Außenseiterin im Camp war und Unmut auf sich zog, weil sie mit offenen Haaren durch die Straßen ging, wurde 2002 für die Vorbereitung von Terrorattacken zu 20 Jahren verurteilt, sie hatte zusammen mit ihrem Mann Selbstmordattentäter nach Jerusalem gefahren. Erst im Gefängnis konvertierte sie zum Islam. Vor zwei Jahren bot man ihr an, zusammen mit ihrer Tochter die Ukraine heimzukehren, sie lehnte ab, sie wollte ihre Tochter nicht aus der Familie reißen.

Eine von 1027 Geschichten.

5. Nach Hause fahren im Sherut, einem Sammeltaxi. Eine geniale Einrichtung: Es sind Kleinbusse mit 10 Sitzplätzen, die wie Busse bestimmte Routen abfahren, aber wie Taxis überall angehalten werden können und einen an jeder beliebigen Stelle – in meinem Fall direkt vor der Haustür – aussteigen lassen. Fahrpreis: sechs Schekel, etwa 1,10 Euro. Die Sherut-Etikette: einsteigen, hinsetzen. Den Fahrpreis nach vorne durchreichen lassen, Wechselgeld wird zurückgereicht. So hält man den Fahrer nicht lange auf, er kann das Finanzielle an der nächsten Ampel erledigen.

Ja, wo sind wir denn hier?

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Mir ist zu meinem Schrecken aufgefallen, dass ich schon über alles mögliche geschrieben habe – aber noch nicht richtig über Tel Aviv. Höchste Zeit also für einen kleinen Stadtbummel. Obwohl dieser, streng genommen, schon fast wieder aus der Stadt herausführt, nämlich nach Jaffa, einen der ältesten Häfen der Welt. Dessen Geschichte ist, wie bei allem, was 4000 Jahre alt ist, komplex. Mal sehen, ob ich das noch zusammenkriege, was uns die nette Führerin der Stadtverwaltung gestern erzählte. Gegründet – der Legende nach – von Japheth, dem Sohn Noahs (der Noah). 1468 v. Chr. an die Ägypter gefallen. Dann babylonisch, persisch, phönizisch bis zu Alexander dem Großen, der einfach in die Stadt geritten kam und sie ohne Gegenwehr übernahm. Kein Wunder, zu diesem Zeitpunkt war es auch schon egal, wem sie gehörte. Dann byzantinisch, im 11. Jahrhundert kurzes Kreuzfahrer-Intermezzo, dann wieder ägyptisch. 1515 Teil des osmanischen Reichs unter Sultan Salim I. 1799 Napoleon. Dann wieder Ägypter, dann Türken. Seit 1917 unter britischer Besatzung. Seit 1948 israelisch. Seit 1950 vereint mit Tel Aviv, das 1909 aus Jaffa heraus gegründet wurde. Heute ist ein Drittel der Bevölkerung arabisch.

Die Altstadt Jaffa ist in den letzten Jahren sehr liebevoll restauriert worden. Vor ihren Toren gibt es ein Flohmarkt-Viertel, in der Altstadt selbst sind Künstler angesiedelt worden, der Hafen wird derzeit nach dem Vorbild des Tel Aviv Port zu einer Gastro- und Kulturzone ausgebaut. Kleiner Rundgang? Los geht’s:

Die Bäckerei Said Abu Elafia, gegründet 1879, seit vier Generationen in der Hand derselben arabischen Familie. Fantastische Pita und andere Köstlichkeiten, die bis heute in großen offenen Steinöfen gebacken werden. Yefet, 7, Jaffa. 24 Stunden täglich geöffnet

Klassisch israelisches Recycling: Es gibt keinen Marmor im Land, also bediente man sich für diesen ottomanischen Brunnen gebrauchter Steine aus der Römer-Hochburg Caesarea, weiter nördlich an der Küste.

Auch klassisch Israel: ein koscheres Restaurant, gebaut in die Mauer der Moschee.

Der sehr beschauliche Kidar Kedumin, der zentrale Platz der Altstadt im Schatten der franziskanischen Sankt-Peter-Kirche.

Eine der interessantesten Galerien im Künstlerviertel ist das Ilana Goor Museum, ein traumhaftes Haus aus dem 18. Jahrhundert, das einst Herberge für jüdische Pilger auf dem Weg nach Jerusalem war. Ilana Goor, eine Bildhauerin, hat es mit ungeheurem Aufwand restauriert und lebt auch hier. Mich faszinierten vor allem ihre selbst entworfenen Möbel.

Ilana Goor Museum, Maza Dagim, 4, So – Sa 10 bis 16 Uhr

Tel Aviv/München

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Kleine Beobachtung am Rand, ein Eindruck nach dem Navigieren durch mittlerweile zehn Städte: Ich kenne das Gehen durch die Stadt normalerweise als eine Art Choreographie des Sich-aus-dem-Weg-Gehens. Man achtet aufeinander, berechnet die Laufwege von Entgegenkommenden, vermeidet Kollisionen. Hier nicht. Die Leute gehen, wohin sie gehen, stehen, wo sie stehen, und rücken auch dann nicht zur Seite, wenn man genau vor ihnen steht. Zuerst habe ich das mit meiner Hausfrauenpsychologie für eine banal-alltägliche Variante einer nationalen „Ihr kriegt uns hier nicht weg“-Mentalität gehalten – also komplett nachvollziehbar –, aber dann fiel mir ein: München. Genau dieselbe „Mir san mir“-Attitüde. Immer zweimal mehr wie du.

Einzigartig

Mittwoch, 19. Oktober 2011

In der Menge der Kommentare neulich ging möglicherweise die Lektüreempfehlung von Anja und isabo unter: David Grossman, Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Das Buch ist leider noch nicht für den Kindle verfügbar, so dass ich erst im nächsten Jahr darauf Zugriff habe, aber ich möchte die Empfehlung ungesehen unterstützen, nachdem ich dieses großartige und sehr bewegende Grossman-Porträt im New Yorker gelesen habe. Wer nicht so gern (oder so lang) englisch liest: Die Zeit hatte ebenfalls eine gute Geschichte zu Buch und Autor. Und zuguterletzt Grossman selbst in der Eröffnungsrede des Berliner Literaturfestivals vor ein paar Jahren.

Das gute Buch macht den Leser einzigartig und befreit ihn aus der Menge. Es gibt ihm die Möglichkeit zu spüren, wie aus unbekannten Regionen Seeleninhalte, Erinnerungen und Existenzmöglichkeiten in ihm auftauchen und an die Oberfläche steigen, die ihm allein gehören und nur ihm.

Bei dieser Gelegenheit: Ich glaube, ich würde diese Reise weniger genießen ohne die technischen Möglichkeiten, die es inzwischen gibt. Auf der New Yorker-Website Artikel finden, sie mit Readability von überflüssigem Schlock befreien, sie mit einem Mausklick auf den Kindle schicken lassen, jederzeit fast alles sofort in angenehmster Umgebung lesen zu können – unbezahlbar.

Basics

Dienstag, 18. Oktober 2011

Einmal in Größe 40, bitte. Nein, den Karton brauche ich nicht.
(Mit Dank an Anna von Saldern.)

Nachtrag: Diesen und andere unmögliche Schuhe hat die Belgierin Liza Snook in ihrem Virtual Shoe Museum gesammelt. Vor dessen Betreten ich ausdrücklich warne – es sei denn, Sie hätten gerade ein paar Stunden nichts zu tun. Wenn Sie nur eine Minute haben: Diese russische Seite gibt einen ersten Überblick.

Der Morgen danach

Montag, 17. Oktober 2011

Heute morgen gleich noch mal. Ich bin kurz entschlossen über Nacht im Hod Hamidbar in Ein Bokek geblieben, einer relativ lieblosen Spa-Maschine wie anscheinend alle Hotels hier, aber eines der wenigen mit direktem Strandzugang. Man kann direkt aus dem Bett im Bademantel in das andere Bett da draußen.

Es war halb acht, es dümpelten schon ein russisches und ein israelisches Herrenkränzchen in angeregter Unterhaltung mit Morgenzigarre (übrigens: die Leute da oben stehen nicht auf dem Meeresgrund, die stehen senkrecht im Wasser ohne Bodenberührung. Auch das ein sensationelles Gefühl), aber wenn man ein paar Meter weiter hinaustreibt, ist es so, als ob sie nicht da wären. Jeder existiert hier in seiner eigenen kleinen Welt.

Und wieder eine Stunde, in der ich wirklich weg war. Ganz schnell übernimmt das Amphibiengehirn, die Atmung wird tiefer, der Puls langsamer. Man kann quasi zuhören, wie das Metronom immer gelassenere, ruhigere Ausschläge macht.

Alles ist hier wie abgefedert. Das Wasser trägt wie ein Gentleman, der Wind weht mild, durch den hohen Brom- und Magnesiumgehalt der Luft knallt die Sonne nicht so, UVB-Strahlen werden herausgefiltert. Das Tote Meer ist der tiefste Punkt der Erde, 420 Meter unter dem Meeresspiegel, und genau so fühlt es sich hier an: Man lässt sich sinken und wird gehalten, sicher aufgefangen im tiefen Schoß der Erde.

Bei der nächsten Lebenskrise würde ich ab sofort die Koffer packen und eine Woche Totes Meer buchen. Sie sollen mich mit Schlamm einreiben, mit Salz massieren und dreimal am Tag eine Stunde ins Meer schmeißen – und ich bin so gut wie neu.


Im toten Meer

Montag, 17. Oktober 2011

Zuerst muss man einfach nur hell lachen. Unglaublich! Das ist ja… So fühlt sich das also an! Wie ein Korken, so leicht. Man kann auf der Seite liegen, die Knie anziehen, unsinkbaren Blödsinn machen, herrlich! Schnell jemandem mit trockenen Händen die Kamera in die Hand drücken, Beweisfoto machen. Und dann: einfach nur treiben lassen.

Irgendwann verändert sich das Gefühl. Von der juchzenden Kinderfreude zu etwas tief in die Eingeweide, nein: zu Herzen Gehendem. Auf dem Wasser liegen wie auf einem Bett, gewärmt, getragen, geborgen. Nach einiger Zeit den Kopf ablegen und merken: auch der ist getragen. In den Nachmittagshimmel schauen und zusehen, wie er immer dunkelblauer wird. Und zuhören, wie die anderen Badenden immer stiller werden.

In der Dämmerung treiben wir, die wir noch geblieben sind, einfach nur stumm und glücklich in der warmen Lake, die Haut schon jetzt so zart wie nie, das Hirn so leer, das Herz so weit.

Ich war eine Stunde im Toten Meer, wie mir allerdings erst später klar geworden ist. Unter den zehn schönsten Stunden dieses Jahres ist die ganz weit oben.

Lever dood as Slaav

Montag, 17. Oktober 2011

„Willst du wirklich da hoch?“ – „Es ist unfassbar anstrengend.“ – „Noch kannst du zurück.“ Jeder, wirklich jeder, der mir auf den ersten hundert Metern des Schlangenpfads entgegenkam, hatte so einen Spruch auf Lager, und bei jeder Mahnung war ich entschlossener: Klar will ich da hoch. Zu Fuß. Um 12 Uhr mittags, bei knochentrockenen, totmeergesalzenen 34 Grad. Seilbahn! Pff! Was bin ich, ein Tourist? Ich bin so dämlich leicht zu manipulieren: Man muss mir nur sagen, „Lass es besser“, und schon wächst mir ein norddeutscher Sturkopp in XL, in den nur noch ein Gedanke passt: „Das wäre ja gelacht.“

Vielleicht ist es aber auch dieser Ort. Masada ist der jüdische Schicksalsberg. Der Nationalmythos. Ein 350 Meter hohes Felsplateau nicht weit vom Toten Meer, auf die Herodes 43 v. Chr. eine luxuriöse Festung bauen ließ. Allein die Überreste seines auf drei Ebenen gebauten Palastes an der Nordspitze des Plateaus, das wie ein Schiffsbug ins Land ragt und einen weiten Blick über die Wüste und das Tote Meer bietet: spektakulär. Eine geniale Wasserversorgung, Vorratsspeicher, die monatelanges Überleben hier oben möglich machten, ein feudales Badehaus mit doppeltem Fußboden zur Wärmespeicherung: brillant. 110 Jahre später wurde die Festung von jüdischen Rebellen erobert, einer der großen symbolischen Erfolge im ersten Aufstand gegen die römischen Besatzer. Im Jahr 73/74 holten die Römer zum Gegenschlag aus. 8000 Soldaten belagerten Masada über mehrere Monate und bauten einen 100 Meter hohen Erdwall, über den hölzerne Belagerungstürme mit Rammböcken geschoben wurden. Der Durchbruch gelang, die Eroberung war unvermeidlich, die römische Übermacht erdrückend. Was dann geschah, basiert auf den Schilderungen des jüdischen Historikers Flavius Josephus, der sich eine gute Geschichte nie von der Wahrheit kaputtmachen ließ. Die 967 Eingeschlossenen – Männer, Frauen, Kinder – bestimmten per Los 10 Männer, die alle anderen umbringen sollten – lieber tot als Sklave der Römer. Unter den verbliebenen 10 wurde einer ausgelost, die anderen neun zu töten und sich dann selbst ins Schwert zu stürzen. Als die Römer am Morgen Masada stürmten, empfing sie Totenstille; nur zwei Frauen und fünf Kinder hatten den Massenselbstmord überlebt.

Masada ist seitdem ein Symbol. Die offizielle Lesart: ein jüdischer Heldenmythos. Unkorrumpierbarer Freiheitswillen, und sei es um den Preis des Todes. Andere diagnostizieren einen Masada-Komplex: die pathologische Neigung zur Selbstzerstörung. Für dritte ist Masada ein klassischer Fall von Geschichtsklitterung aus politischen Zwecken. Denn die archäologischen Funde sind alles andere als eindeutig. Die Tonscherben mit den Namen der zehn Auserwählten, die im Masada-Museum wie Reliquien ausgestellt sind? Die sind echt – ebenso wie die 700 anderen gefundenen Scherben mit Namen von Frauen und von Nahrungsmitteln. Möglicherweise waren die Scherben Teil eines Rationierungssystems. Und waren die Eingeschlossenen wirklich die noblen Freiheitskämpfer, als die sie in Filmen, israelischen Schulbücher und sogar einer Rockoper gefeiert werden? Selbst die ursprüngliche Quelle, Flavius Josephus, identifiziert sie als Sicarier, religiöse Fanatiker, die einen Bruderkrieg gegen moderatere jüdische Gruppen führten. Josephus schildert einen Überfall zur Vorratsbeschaffung auf die nahegelegene Oase Ein Gedi, bei dem sie 700 Frauen und Kinder töteten – ein Detail, das im Besucherzentrum von Masada nicht erwähnt wird. Es ist ein Minenfeld, wie so oft im Nahen Osten. Was wahr ist und was nicht, ist längst egal. Mythen werden zu Identitäten, Religionen zu Rechtsansprüchen. Lieber tot als nachgeben. Am allerliebsten natürlich: die anderen tot – das gilt für jede Seite.

Oben auf dem Plateau, das ich nach 50 Minuten keuchend erreichte (mein privater Massada-Komplex: lieber tot als Seilbahn) lärmen Schulklassen auf Pflichtbesuch, wallfahrten Orthodoxe, galoppieren amerikanische Kreuzfahrttouristen ihrem Führer hinterher. Handy-Klingeltöne spielen die aktuellen Charts, Teeniemädchen kreischen, ein spanischer Fremdenführer wandelt im Jesus-Look durch die Ruinen. Es ist ein Zirkus.

Runter nehme ich die Seilbahn.