Ein Freitag in Tel Aviv

1. Frischgepressten Granatapfelsaft in der Dizengoff-Straße trinken. Mein Lieblingsstand ist der neben dem Bauhaus Center in Nummer 99. Dort ist nämlich ein Plattenspieler in Betrieb, der die Straße mit feinster Ware beschallt. Heute: Rick James. Besser kann ein Tag nicht anfangen. Mit dem Saft habe ich mich auf die Bank vor dem Stand gesetzt und bin, wie praktisch jedesmal, mit dem Banknachbarn ins Quatschen gekommen. Heute: eine etwa 60jährige Bildhauerin aus London, geboren und aufgewachsen in Israel, die zu einem Klassentreffen ihrer Kunsthochschule angereist war. Wir plauderten über nationale und individuelle Identitäten, und sie sagte: „Ich sage nie einem Fremden, dass ich aus Israel bin. Die Debatten sind mir einfach zu anstrengend. Stattdessen behaupte ich immer, ursprünglich aus Österreich zu sein, von daher sind nämlich meine Eltern eingewandert.“

2. Im Bauhaus Center stöbern. Dabei diese Glasuntersetzer mit Bildern israelischer Politiker entdeckt: Theodor Herzl, Moshe Dayan, Menachem Begin, David Ben-Gurion… Ich habe natürlich Golda Meir (in blau) gekauft, die Heldin meiner Kindheit. Darauf parke ich mein Whiskyglas, wenn ich im Januar wieder zuhause bin.

3. Weiter die King George Street hochgeschlendert. Vor dem Meir Garden lauter Hunde am Zaun festgebunden. Was ist hier los? Das örtliche Tierheim hat einen Streichelzoo organisiert. Gute Idee, die Tiere zu den Menschen zu bringen und nicht umgekehrt; so finden sich vielleicht eher ein paar Adoptierwillige.

4. Der Carmel-Markt. Immer ein sensorischer Overkill und am Freitag immer besonders irre, weil alle noch schnell ihre Wochenend-Einkäufe machen. Heute gucke ich nur. Der Kühlschrank ist voll genug, und am Sonntag fahre ich sowieso nach Jerusalem.

5. Die Haaretz kaufen und sich in ein Café setzen. Am Freitag immer zusammen mit der Herald Tribune und mit der Wochenendausgabe. Darin eine Geschichte über die Heimkehr eines der 1027 palästinensischen Gefangenen, die diese Woche gegen den israelischen Soldaten Gilad Shalit ausgetauscht wurden: eine Frau namens Irina Polishchuk-Sahrane. Geboren in der Ukraine, Mitte der Neunziger nach Israel eingewandert, wo sie als Prostituierte in einem Bordell in Tel Aviv arbeitete. Einer ihrer Kunden war der Palästinenser Ibrahim Sahrane. Sie verliebten sich, heirateten, zogen in sein Heimatdorf Deheisheh, nicht weit von Bethlehem. Die Statistik des Flüchtlingslagers: 18 Selbstmordattentäter starteten von hier, 35 sitzen mit zum Teil mehrfach lebenslänglichen Strafen in israelischen Gefängnissen. Irina Polishchuk-Sahrane, die als Ukrainerin immer die Außenseiterin im Camp war und Unmut auf sich zog, weil sie mit offenen Haaren durch die Straßen ging, wurde 2002 für die Vorbereitung von Terrorattacken zu 20 Jahren verurteilt, sie hatte zusammen mit ihrem Mann Selbstmordattentäter nach Jerusalem gefahren. Erst im Gefängnis konvertierte sie zum Islam. Vor zwei Jahren bot man ihr an, zusammen mit ihrer Tochter die Ukraine heimzukehren, sie lehnte ab, sie wollte ihre Tochter nicht aus der Familie reißen.

Eine von 1027 Geschichten.

5. Nach Hause fahren im Sherut, einem Sammeltaxi. Eine geniale Einrichtung: Es sind Kleinbusse mit 10 Sitzplätzen, die wie Busse bestimmte Routen abfahren, aber wie Taxis überall angehalten werden können und einen an jeder beliebigen Stelle – in meinem Fall direkt vor der Haustür – aussteigen lassen. Fahrpreis: sechs Schekel, etwa 1,10 Euro. Die Sherut-Etikette: einsteigen, hinsetzen. Den Fahrpreis nach vorne durchreichen lassen, Wechselgeld wird zurückgereicht. So hält man den Fahrer nicht lange auf, er kann das Finanzielle an der nächsten Ampel erledigen.

17 Antworten to “Ein Freitag in Tel Aviv”

  1. Saskia Says:

    was sind das für knuspernester?

  2. Uschi aus Aachen Says:

    Und das Wetter scheint ja auch schön zu sein… Was für Temperaturen herrschen denn ungefähr?

  3. meike Says:

    @Saskia: übersüße Baklava.
    @Uschi: endlich runtergesackt auf angenehme 26 Grad.

  4. Penelope Says:

    Gute Idee, das mit dem “Streichelhaustier” *-*! Und das mit dem Sammeltaxi auch!

  5. Regina Says:

    Ein typischer Freitag in Tel Aviv :) Danke für den Artikel, nun ist meine Vorfreude auf meine Reise nach Jerusalem und Tel Aviv nächste Woche perfekt!

  6. Franka Says:

    Tel Aviv kommt, so wie Sie es schildern, total lebendig rüber. Eine junge Stadt.

    Interressant, dass die Bildhauerin aus London auch ein *deutsches* Problem hat.

    Schönen Jerusalemaufenthalt!

    ♥lichst Franka

  7. Gisela Says:

    Herrliche Früchtevielfalt, gutes bis sehr gutes Wetter und entsprechend ansteckende Laune – was will “man” mehr. Nette Menschen, nette Tiere, gute Begegnungen und manches Schicksal – ein bewegender Monat. Für morgen wünsche ich Dir ebenso schöne Eindrücke in und um Jerusalem !

  8. Sandra Says:

    Falls du heute abend noch nichts vorhast – Roxette spielt heute in Tel Aviv! Diesen Mittwoch in Oberhausen war es super!

  9. Tina aus OWL Says:

    Oh ja, Roxette live sind genial, habe den Auftakt in Berlin miterlebt! Frau Winnemuth, es lohnt sich!

  10. Nane Says:

    Ui…Roxette…90erJahre, Berlin, Waldbühne, verliebt in die erste große Liebe…!

  11. Rubi Says:

    War auch auf dem Markt heute Vormittag mit Handschuhen und Schal.
    Die Tomaten schmecken nach Wasser, ebenso die Avocado.
    Eine Frau hat sich mit Ellenbogen vor ein Kind gedrängelt.
    Es dampft wenn ich ausatme.
    Wo wär ich wohl lieber gewesen?

  12. Marie Says:

    Und wir hatten heute ein “Bauwochenende” in der Schule, im Schweiße meines Angesichts Erde geschaufelt, geratscht, all you can eat vom Elternbeirat, Sonne geschienen, gutes Gefühl gehabt, weil ich mich mal körperlich betätigt habe. Zuhause Fried Rice mit viel Paprika, Karotten, Chili und Petersilie, Knoblauch gekocht, noch mal kurz wegfahren, für den Lütten Pizza kaufen, dann Wallander zu Ende lesen, auch ein guter Tag.

  13. bling.bling Says:

    ein gläschen granatapfelsaft please und die idee mit dem sammeltaxi ist ja wohl granate. ; )

  14. pummi Says:

    …haben die Hunde auch gesehen, bin aber des Hebräischen nicht weiter mächtig, daher: ACH DAS WAR`S! Die Welpen waren ja süß…. Kleines olfaktorisches Halloween gefällig? Geh´n Sie doch mal die rechte Parallelstraße d. HaCarmel runter, da wo die Armenier ihr Fleisch verkaufen….Oder gegen 19 Uhr die HaCarmel selbst (bitte Gummistiefel anziehen!)…und immer das Riechfläschen mitnehmen!!
    Am Freitag war li d. HaCarmel ein richtig toller Markt mit Schmuck, lustigen Rabbi-Pendel-Uhren und allerlei Selbstgemachtem. So eine Auswahl hab ich in Deutschland noch nicht gesehen.

  15. Bernd Says:

    @Marie…das freut mich ja wirklich, dass Dein Tag so nett war…aber wo ist der Zusammenhang mit Tel Aviv, Reisen, Empfehlungen geben etc.? Ich freue mich auf weitere interessante, Kommentare mit einer gewissen Qualität.

  16. romy Says:

    Schöne Bilder und Beiträge wie ja schon zuvor, die die Stimmung spürbar rüberbingen. Romy

  17. romy Says:

    Und diese kurze Zusammenfassung der einen aus den 1027 Geschichten fand ich sehr gelungen. Die Entscheidung dieser Frau beschäftigt mich immer noch. Romy