Cojimar

Ein letztes Mal Hemingway: Im Fischerdorf Cojimar, sechs Kilometer außerhalb von Havanna, wohnte Gregorio Fuentes, Maat auf Hemingways Yacht Pilar, angeblich das Vorbild für die Hauptfigur von Der alte Mann und das Meer. Bis in die späten Neunziger saß er vor seinem Haus oder im Restaurant La Terraza und erzählte für zehn Dollar Geschichten aus seiner Zeit mit Hemingway. 2002 starb er mit 104 Jahren.

Im Restaurant hängen schöne Schwarz-Weiß-Fotos von ihm und Hemingway (der Fisch-Grillteller ist auch nicht übel und die Mojitos nicht so lasch wie in Havanna). Am kleinen Malecon des Dorfs steht ein rührend klassizistisches Denkmal inmitten des betonierten Parque Hemingway mit einer Büste des Meisters, zu dem die örtlichen Fischer Ankelhaken und andere Messingteile ihrer Boote zum Einschmelzen gestiftet haben.

Ein Werk des Hobbymalers gegenüber der Terraza: kleiner Schock, die hier zu sehen. Selbst mit einem Bier in der Hand.

Gastarbeiterin

Während ich in den letzten Tagen vorwiegend gearbeitet habe, ist Annette durch die Straßen gestreift und hat großartige Fotos mitgebracht, übrigens ebenfalls mit einer simplen Digitalknipse gemacht. Heute bekommt sie also einen Extra-Ausstellungsraum im Blog eingerichtet, es wäre schade drum, die Bilder nicht zu zeigen.

Und statt Selbstporträt: Unsere Frau in Havanna. Danke, Annette!

Sturm & Drang

Selbst bedeckte Tage sind in dieser Stadt ein Erlebnis, besonders dann, wenn der Sturm die Wellen an den Malecon treibt und die Straße überschwemmt. Ich hatte regelrechte Heimatgefühle. Wind! Wellen! Gischt im Gesicht! Algen und Sand im Gulli! Es war eine Pracht. Wer sich fragt, warum viele Häuser hier so aussehen, wie sie aussehen: Dieser Tag hat die Antwort geliefert.

Annette und ich haben beim Fotografieren von Oldtimern eine gewisse Nonchalance entwickelt. „Vor diesem roten Haus hätte ich gern einen in Komplementärfarbe. Lass uns noch zwei Minuten warten.“

Vorher waren wir im Museo de la Revolución, einer wunderbar erschöpfenden und erwartbar tendenziösen Sammlung von heroischen Revolutionsparaphernalia, inklusive Wachsfiguren von Che und Cienfuegos.

Im Büro des Präsidenten, wo vor Fidel auch schon Batista gesessen hat: meine Lieblingsrequisite. Wenn ich mal groß bin, dann…

Wie immer zum Gruseln: die Folterinstrumente, hier ein Gerät zum Ausreißen von Fingernägeln. Ich versuche mir immer vorzustellen: Ein Schmied oder ein Mechaniker konstruiert so ein Ding. Plant es, gießt es, feilt am Mechanismus, bis es tadellos funktioniert… wie gesagt, zum Gruseln.

Eher zum Lachen (aber auch zum Gruseln, ich finde alte Puppen ja prinzipiell furchteinflößend): eine Puppe, mit deren Hilfe Nachrichten an Che Guevara geschmuggelt wurden. Die Vorstellung, dass der Commandante dem Püppi die Kleider ausgezogen hat…

Apropos Che: Auch von dem gibt es tolle Bilder im Museum, hier mein liebstes: als 22jähriger auf 4500 Kilometer langer Fahrradtour durch Nordargentinien. Wie der junge Brad Pitt. Nur noch cooler.

Und draußen vor dem Museum geht bis heute die Geschichte weiter.

¡Vamos!

Wie groß Havanna ist, wird einem erst im Auto klar; wie schön es ist, wird einem besonders gut in einem 56er Chevrolet klar. Wir hatten uns für heute einen Führer mit Hammer-Auto angeheuert, Adalberto, der uns ein bisschen in die Außenbezirke fahren sollte. Wir? In der Tat, denn für die nächsten zehn Tage habe ich Besuch einer Münchner Kollegin, Annette Hohberg, die bei der Frauenzeitschrift Myself das Ressort mit dem schönen Titel „Denken & Fühlen“ betreut. Und außerdem gerade ihren dritten Roman schreibt. Und außerdem magischerweise völlig jetlagfrei ist, mindestens so flott Rum trinkt wie ich, und angenehm leicht zu revolutionären Gesten zu bewegen ist, wie hier auf der Plaza de la Revolucion vor der Che-Wandskulptur. Damen und Herren, heißen Sie also mit mir unsere neue Mitreisende willkommen. Hasta la victoria siempre!

Erstes Ziel, Ehrensache für zwei Schreiber: Ernest Hemingways Haus Finca Vigia, etwa 15 Kilometer außerhalb der Stadt. Er hat hier von 1939 bis 1960 gewohnt. Wir hatten einen Riesendusel, denn zufällig fanden dort heute Dreharbeiten mit seiner Enkelin Mariel Hemingway statt, die einem amerikanischen TV-Team gerade alles über ihren Opa erzählte, während wir vor dem Fenster luscherten. Eine bessere Führung durch das schöne Haus geht gar nicht.

Die Wand im Bad neben der Waage. Ernie hat hier jeden Morgen sein Gewicht notiert.

Der Pool, in dem Ava Gardner bei den legendären Partys nackt zu baden pflegte. Die Dienstboten mussten die Tabletts mit frischen Drinks außerhalb der Sichtweite abstellen.

Die Gräber der vier Hunde von Hemingway, gleich neben dem Pool. Von seinen 58 Katzen, die in einem eigenen Haus mit eigenem Diener lebten, keine Spur.

Der Club Habana im westlichen Vorort Flores. Ein Country Club für die Reichen von 1928, in den Fünfzigern berüchtigt geworden dadurch, dass er den damaligen Präsidenten Batista wegen seiner Hautfarbe abwies. Castro hatte 30 Jahre mehr Glück, und bis heute ist der Club Habana eines der wenigen Restaurants, in denen er öffentlich gegessen hat. Der Club hat einen Pool, Tennisplätze und einen wunderbaren eigenen Strand. Schuhe aus, ab in die Karibik, einen Daiquiri auf der Liege, hinterher Fisch vom Grill – ich würde sagen: die beste Mittagspause der Welt.

Und noch ein paar gemischte Fotos, aus dem Auto geschossen.

Die ehemalige russische Botschaft im Villenviertel Miramar, ein Beton- und Glasmonster aus den achtziger Jahren. Einst mächtige, zwanzigstöckige Festung voller Diplomaten, Wissenschaftler, Spione – in der Form eines ausgestreckten Mittelfingers in Richtung Amerika –, heute verwaist. Aber immer noch ein seltsam faszinierender Bau.

Ein Spielplatz.


Samstags in Havanna

Ich weiß nicht, warum Samstage selbst in diesem Jahr meine Lieblingstage sind, wo doch jeder Tag ein Sonntag ist. Irgendwas ist es an ihnen, dass das Tempo ein paar Umdrehungen drosselt, die Stadt weniger lärmen und die Leute mehr lächeln lässt. Samstage in Havanna bedeuten: Der Hafenrand ist zugeparkt mit Bussen aus der Provinz. Die Hauptstadt ist das Sehnsuchtsziel in einem Land mit Reiseverbot. Und ich habe meine erste wirklich gute Mahlzeit unter anderen glücklichen Inlandsreisenden in einem Imbiss direkt am Wasser: fritiertes Huhn mit fritierten Kochbananen, dazu ein Mojito, zusammen für 2,50 Euro. Gute Grundlage für einen weiteren Stadtbummel.

Die Kathedrale.

Casa Alejandro Humboldt (mit der Statue von jemand ganz anderem – hey, dies ist Kuba).

Eine Schule.

Eine Apotheke.

Leere Geschäfte – aber volle Parkbänke. Viele, wie diese Keksbäckerin, schlagen improvisierte Verkaufsstände irgendwo in der Stadt auf und sind im Nu ausverkauft.

Ein paar Häuser weiter: ein Schießstand – Teil der Kampagne „Erzieh dein Kind“.

Und wenn wir schon dabei sind: Zweitverwertung alter Kanonen als Poller.

Der Open Air-Buchmarkt an der Plaza de Armas. Viel Fidel, viel Che – und ein Glücksfund: ein gebundener Jahresband „National Geographic“ von 1958, dem Jahr vor der Revolution. Sofort gekauft natürlich, obwohl der Band mindestens zwei Kilo wiegt. Aber die alten Reisereportagen haben mich beim Durchblättern gleich gefesselt. Unter den Bäumen der Plaza habe ich die erste im Stück durchgelesen: William O. Douglas, Richter am Obersten Bundesgericht, schreibt von seiner Autotour durch Pakistan, Afghanistan, Iran und Irak, immer südlich der russischen Grenze. „Und was machen Sie, wenn Ihr Auto kaputt geht?“ wird er vor der Abfahrt gefragt. „Kein Problem, ich nehme meine Frau zum Reparieren mit.“ Und tatsächlich: jede Menge Fotos von seiner Frau Mercedes, einer kleinen kompakten Blondine vom Typ Miss Ellie, unterm Wagen liegend. Wie aufregend das damals gewesen sein muss, wie mutig man sein musste! Auch toll: eine Reportage vom Eisfischen in Minnesota – Fische, kaum zwei Minuten aus dem Wasser gezogen und schon als Vorgartenzaun einsetzbar. Es mag blöd klingen unter diesen Umständen, aber dieses Buch macht mir auf der Stelle Lust zu reisen.

Und zuhause im Hotel: das nächste Handtuchkunstwerk, die nächste Lachattacke.

Reisebegegnungen

I.
Heute morgen beim Frühstück: Drei Herren im besten Alter, Brüder, auf Kubatour. Einer aus Hamburg, einer aus Bremerhaven, einer aus Stockholm. Der älteste, 75, und der zweitälteste, 73, sind zur See gefahren, „die schönste Zeit meines Lebens“, sagt Sigi, der 73jährige, „aber dann habe ich meine Frau kennengelernt und dann… Tja.“ Er war zum ersten Mal 1951 als Schiffszimmerer auf Kuba, „da war vielleicht noch was los hier!“ Jetzt dagegen – er lacht ein bisschen traurig. Sie haben in den letzten Tagen nach ihren alten Kneipen gesucht. Alle dicht, bis auf eine, „Dos Hermanos“, unten am Hafen. Ich verspreche, dort heute Abend einen Rum auf sie zu trinken.

II.
Zwei Männer, jung genug, um mich zu siezen, lassen sich in die Sessel mir gegenüber fallen und klappen den Laptop auf. „Welchen Tag haben wir heute?“ – „Den 2.“, sage ich. „Und welchen Wochentag, Sonntag?“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Wir sind Amateurboxer, wir sind seit vier Tagen zum Trainieren hier“, kommt die Erklärung. „Und das geht so auf die Birne?“ frage ich. „Nee, ja, haha, wir stehen halt die ganze Zeit im Ring oder machen Ausdauertraining. Da vergisst man schon mal die Zeit.“ Der eine ist Flugbegleiter bei Air Berlin, die beiden fliegen seit Jahren um den Globus, um Kampfsportarten zu trainieren, zum Kickboxen nach Thailand und jetzt nach Kuba zum normalen Boxen. „Der beste Ort dafür.“ Gestern haben sie einen Weltmeister getroffen, der ist hier einer von vielen. Sie sind in einer casa particular untergekommen, einer Privatpension. Der Besitzer ist zufällig selbst Boxer, der hat sie sofort mitgenommen in seinen Club. „Wir waren keine zwei Stunden da und standen schon im Ring.“ Nachher kocht ihnen die Frau des Boxers das Abendessen, sie geben ihr Geld für den Einkauf, „so können die auch mal Fleisch essen.“ Richtig nette Jungs.

III. Dazwischen: für zwei Dollar Zimmer 511 im Ambos Mundos angeschaut. Hier wohnte Ernest Hemingway sieben Jahre lang ab 1932. Seine Schreibmaschine steht hier – sagen wir: eine Schreibmaschine steht hier – , ein paar Angelruten, ein paar afrikanische Speere, im Schrank hängt eine Lederweste mit auffällig dicken E.H.-Lederinitialen, dass es auch ja jeder mitkriegt, was für ein Kerl da vor einem steht. An der Wand: Fotos seiner Eroberungen, Marlene Dietrich ist auch dabei.

Kuba ist ein Männermuseum. Die Jungs, die Männer hängen hier ihren Träumen nach. Nach der guten alten Zeit, die ja auch tatsächlich noch als Oldtimer durch die Straßen klappert, nach einem Phantasieleben als Großwildjäger oder Hochseeangler oder Boxer oder Revolutionär. Hier ging das alles mal. Und hier geht es noch.


Jineteros II

Verzeihung, wenn ich ein zweites (und ich verspreche: letztes) Mal auf das Thema jineteros zu sprechen komme, aber diese Form der Privatwirtschaft hier auf Kuba beginnt mich wirklich zu faszinieren. Gestern saß ich in einem kleinen Park gegenüber dem Floridita. Klar setzt sich jemand zu mir: ein alter Mann, der Parkwächter, zumindest weist ihn ein selbstproduziertes Schild so aus. Er nimmt meine Hand, fragt die üblichen Fragen, ich gebe die üblichen Antworten („Dinamarca“). Er habe heute Geburtstag (na sicher…) –  er malt die Zahl 76 vor uns in den Sand –, deshalb wolle er mir was schenken: einen Blechtaler mit dem Bild von Che Guevara. Ich lehne freundlich ab, denn Geschenke bedeuten hier Gegengeschenke in Form von Pesos Convertible, ich verabschiede mich, sage noch „Feliz cumpleaños“, er zieht einen Flunsch. Was ich interessant finde, ist die Geschicklichkeit, mit der auf dem Touristenklavier gespielt wird, die Geschwindigkeit, mit der hier emotionale Beziehungen simuliert werden. Noch schöner ist das Beispiel meines Zimmermädchen Yohana. Ich komme vorgestern aus dem Zimmer, sie begrüßt mich herzlich mit Namen. Schon mal sehr klug. Abends amüsiere ich mich über ihr kunstvolles Falt-Arrangement meiner Bettdecke. Gestern liegt auf dem Bett ein ebenso elaboriert gefaltetes Handtuch, darauf ein handgeschriebener Zettel: welche Freude es ihr war, „all diese Tage“ (es waren zwei) für mich arbeiten zu dürfen, dass sie morgen leider auf ein anderes Geschoss versetzt werde, dass sie mir einen schönen Aufenthalt und ein glückliches 2012 wünsche und dass sich all meine Träume erfüllen mögen. Kaum war ich im Zimmer, begann sie beiläufig, aber deutlich vernehmbar im Flur zu singen. Und natürlich habe ich ihr, wie beabsichtigt, ein Trinkgeld herausgereicht. Ich finde diesen Emotionalkapitalismus wahnsinnig elegant, er erwischt genau den wunden Punkt der Fremden. Man will ja nicht nur gut behandelt, sondern tunlichst auch noch gemocht werden von den Einheimischen. Gute Kellnerinnen überall auf der Welt wissen genau: Wenn sie dem Gast die Hand auf die Schulter legen und so eine persönliche Beziehung aufbauen, fließt das Trinkgeld gleich doppelt. Dass sich diese Erkenntnis so flott und flächendeckend in einem sozialistischen Staat breitgemacht hat: wie gesagt, faszinierend.

Das funktioniert natürlich auch: sich in malerische Kostüme hüllen und an touristischen Hotspots aufbauen, vor dem Hotel Ambos Mundos etwa oder wie hier auf der Plaza de la Catedral. Fotohonorare garantiert.

Jineteros

Man hatte mich bereits schonend darauf vorbereitet, aber es am eigenen Leib zu erleben, ist noch mal was anderes: Nirgendwo ist es nerviger, alleinreisende Frau zu sein und auch bleiben zu wollen, als in Havanna. Es fing schon vor der Passkontrolle an: Ein älterer Herr in der Schlange vor mir starrte mich die ganze Zeit an und sagte schließlich: „You are very beautiful. I will wait for you on the other side.“ Danke, vielen Dank, wirklich, aber: nein danke. Bei meinem ersten Spaziergang durch die Altstadt gestern an jeder Ecke „You are beautiful! I love you! Where are you from?“ Ich konnte mich auf keine Kaimauer am Maleçon (oben), keine Bank setzen, ohne angequatscht zu werden oder ohne dass sich jemand ungebeten neben mich setzt. Freundliches „no gracias, chao“ nützt nichts, es hilft nur ein überhasteter Aufbruch. Die Standardfrage, woher ich komme, beantworte ich inzwischen mit „Dinamarca“, Dänemark, weil mir so zumindest das übliche radebrechende „Wie geht’s, alles klar?“ erspart bleibt, mit dem Deutsche beglückt werden. Dänisch hat hier keiner im Programm. Richtig die Schnauze voll hatte ich, als ein Kerl mich auf der Uferpromenade minutenlang verfolgte und irgendwann von hinten meine Hand ergriff. „Hola, guapa.“ Ich: „No.“ – „Hola.“ – „¡Adios!“ – „Hola.“ – „¡Déjame!“ – „Hola, querida.“ – „¡¡¡FUCK OFF, goddammit!!!“ – Verletzt: „Hola.“
All das hat natürlich nicht das Geringste mit meiner plötzlichen überirdischen Schönheit zu tun, sondern ausschließlich mit dem Versuch, durch Beflirten Alleinreisender zu ein paar Kröten zu kommen, zu ein paar Einladungen in Bars oder mehr. Oft sind die Kerle jineteros, Koberer, die Touristen für Prozente in Restaurants oder casas particulares schleppen, oft aber auch Hobby-Gigolos, die sich auf die Bespaßung einsamer älterer Damen spezialisiert haben. Wie auch immer: supernervig, denn es zwingt mich als zu einer muffigen Abwehrhaltung, auf die ich überhaupt keine Lust habe.

Also ab in die nächste Bar, in diesem Fall El Floridita, eine von Hemingways Lieblingsbars. Die Daiquiris sind überteuert, der Laden ist voll mit blitzlichternden Touristen, die sich gegenseitig vor der Bronzestatue von Papa fotografieren, aber sonst: himmlischer Frieden. Bis sich ein Spanier neben mich setzt und fragt: „So – where are you from?“ Seufz. „Dinamarca.“


10 Dinge, die ich in Äthiopien gelernt habe

1. Kaffee trinken. 51 Jahre lang war ich fest davon überzeugt, keinen Kaffee zu mögen. Dabei mochte ich nur den deutschen Filterkaffee nicht. Buna hingegen, dieses starke, milde, völlig unbeißende äthiopische Teufelszeug…
2. In Konsequenz daraus: mein altes Mantra, alles mindestens einmal zu probieren, überarbeiten in: allem eine zweite oder dritte Chance zu geben. Vielleicht habe ich es es nur vor Jahren nicht gemocht, jetzt aber schon. Oder ich habe nur eine bestimmte Variante von etwas nicht gemocht. Ich verändere mich, die Dinge verändern sich – mit anderen Worten: revidieren, revidieren, revidieren.
3. Das gilt auch für mein ursprüngliches Reisekonzept, nur Städte zu besuchen. Was wäre mir entgangen, wenn ich die ganze Zeit in Addis geblieben wäre! Also: Pläne über den Haufen werfen, wenn sie sich im Lauf der Zeit als ungenügend entpuppen, Gelegenheiten nutzen, nicht starrsinnig sein. Ideen sind oft nur Initialzündungen, um den Karren in Bewegung zu setzen. Wenn er aber erst mal rollt, darf man sich auch wieder von ihnen verabschieden. Um Platz für neue Ideen zu machen.
4. Nur weil ich noch nie davon gehört habe, bedeutet es nicht, dass es nicht existiert. Meine Ignoranz in Sache äthiopischer Kultur und Geschichte und meine Überraschung, all diesen Reichtum im Norden zu finden, war eines der größten Aha-Erlebnisse dieses Jahres.
5. Die feinen Unterschiede erkennen lernen. Bestes Beispiel in Äthiopien: Injera, das schwammige Fladenbrot, das Basis jeder Mahlzeit ist, Teller und Esswerkzeug zugleich. Fand ich am Anfang schrecklich. Dann nicht mehr so. Dann habe ich gemerkt, dass es gutes und nicht so gutes gibt, feines, fast flauschiges, dann wieder zu säuerliches, zu zähes. Dann habe ich mir erklären lassen, dass gutes Injera ganz regelmäßige „Augen“ hat, Poren, mit denen man die Sauce besonders gut aufnimmt. Am Ende habe ich verstanden: Selbst ein so banales Allerweltsgericht aus einem der ärmsten Länder der Welt hat seine eigene Würde.
6. Mich nicht für etwas Besonderes halten. Jeder denkt immer über sich: Das, was anderen passiert, passiert mir bestimmt nicht. Zehn Monate lang war mir nichts gestohlen worden, nicht mal in der Klau-Metropole Barcelona. Also begann ich unvorsichtig zu werden und mich für die Ausnahme von der Regel zu halten. Und prompt…
7. Nicht scheu sein. Als bekennende Norddeutsche bin ich – vorsichtig gesagt – nicht sehr ranschmeißerisch. Einfach so mitsingen und mittanzen, wenn andere das tun – schwierig. Aber machbar, wie ich seit dem letzten Abend in Lalibela weiß.
8. Freundlichkeit annehmen. Mir ist eingebimst worden, anderen nichts schuldig zu sein und ihnen nicht zur Last zu fallen. Dass Menschen gern etwas für mich tun, dass es ihnen eine Freude ist, musste ich im Lauf des Jahres erst mühsam lernen. In Addis haben mir die Beckers einen Fortgeschrittenenkurs verpasst.
9. Hardcore-Anekdote in Sachen Annehmen am Rande: Auf der Fahrt durch den Norden haben wir mittags Rast gemacht, uns wie immer vor dem Essen die Hände gewaschen (Injera!). Fließend Wasser gab es nicht, so hat Dereje uns Frauen mit einem Schöpfgefäß die Hände gewaschen. Nach dem Essen ging ich auf die Toilette, hatte das mit dem fehlenden fließenden Wasser längst vergessen und merkte, als es zu spät war: Verdammt, die Spülung funktioniert nicht. Verdammtverdammtverdammt. Doch als ich die Klotür aufmachte, stand dort eine strahlend lächelnde alte Frau mit einem Eimer Wasser bereit, den sie sich auch nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. Sie ging an mir vorbei und goss ihn mit Schwung in die Schüssel. Dankbarkeit hat ja viele Gesichter, meines war an diesem Tag schamrot.
10. Ich will einen Hund und ein Hund will mich. Die Erkenntnis habe ich Finn, dem irrsinnig charmanten äthiopischen Straßenköter der Beckers, zu verdanken. Mal sehen, ob das Konsequenzen hat.

Zwischenlandung

Beim Anflug auf Frankfurt dachte ich kurz: Was, wenn du jetzt einfach aufhörst? Den durchgecheckten Koffer irgendwie rettest, dich in den Zug nach Hamburg setzt und drei Tage aufs Sofa legst, ohne irgendwem zu verraten, dass du wieder zuhause bist? Denn gesättigt bin ich, genug gesehen habe ich. Es könnte jetzt auch einfach vorbei sein, ohne dass ich das Gefühl hätte, etwas versäumt zu haben. Aber dann sah ich die Abflugtafeln im Flughafen und dachte: Einer geht noch rein. Schneekugelland Deutschland hat noch etwas Zeit.