Jineteros II

Verzeihung, wenn ich ein zweites (und ich verspreche: letztes) Mal auf das Thema jineteros zu sprechen komme, aber diese Form der Privatwirtschaft hier auf Kuba beginnt mich wirklich zu faszinieren. Gestern saß ich in einem kleinen Park gegenüber dem Floridita. Klar setzt sich jemand zu mir: ein alter Mann, der Parkwächter, zumindest weist ihn ein selbstproduziertes Schild so aus. Er nimmt meine Hand, fragt die üblichen Fragen, ich gebe die üblichen Antworten („Dinamarca“). Er habe heute Geburtstag (na sicher…) –  er malt die Zahl 76 vor uns in den Sand –, deshalb wolle er mir was schenken: einen Blechtaler mit dem Bild von Che Guevara. Ich lehne freundlich ab, denn Geschenke bedeuten hier Gegengeschenke in Form von Pesos Convertible, ich verabschiede mich, sage noch „Feliz cumpleaños“, er zieht einen Flunsch. Was ich interessant finde, ist die Geschicklichkeit, mit der auf dem Touristenklavier gespielt wird, die Geschwindigkeit, mit der hier emotionale Beziehungen simuliert werden. Noch schöner ist das Beispiel meines Zimmermädchen Yohana. Ich komme vorgestern aus dem Zimmer, sie begrüßt mich herzlich mit Namen. Schon mal sehr klug. Abends amüsiere ich mich über ihr kunstvolles Falt-Arrangement meiner Bettdecke. Gestern liegt auf dem Bett ein ebenso elaboriert gefaltetes Handtuch, darauf ein handgeschriebener Zettel: welche Freude es ihr war, „all diese Tage“ (es waren zwei) für mich arbeiten zu dürfen, dass sie morgen leider auf ein anderes Geschoss versetzt werde, dass sie mir einen schönen Aufenthalt und ein glückliches 2012 wünsche und dass sich all meine Träume erfüllen mögen. Kaum war ich im Zimmer, begann sie beiläufig, aber deutlich vernehmbar im Flur zu singen. Und natürlich habe ich ihr, wie beabsichtigt, ein Trinkgeld herausgereicht. Ich finde diesen Emotionalkapitalismus wahnsinnig elegant, er erwischt genau den wunden Punkt der Fremden. Man will ja nicht nur gut behandelt, sondern tunlichst auch noch gemocht werden von den Einheimischen. Gute Kellnerinnen überall auf der Welt wissen genau: Wenn sie dem Gast die Hand auf die Schulter legen und so eine persönliche Beziehung aufbauen, fließt das Trinkgeld gleich doppelt. Dass sich diese Erkenntnis so flott und flächendeckend in einem sozialistischen Staat breitgemacht hat: wie gesagt, faszinierend.

Das funktioniert natürlich auch: sich in malerische Kostüme hüllen und an touristischen Hotspots aufbauen, vor dem Hotel Ambos Mundos etwa oder wie hier auf der Plaza de la Catedral. Fotohonorare garantiert.

31 Antworten to “Jineteros II”

  1. a. Says:

    “Emotionalkapitalismus”
    - grandios

  2. Babsi Says:

    …und ich dachte schon, die Jineteros hätten Erfolg gehabt und Sie zeigen uns das zerwühlte Bett!

    :-) Keep on smiling and laughing!

  3. Ulrike Says:

    @ Babsi: :D :D

  4. Franka Says:

    :-)

    Herrlich.

    Bericht und Kommentare!

    ♥ Franka

  5. trudi Says:

    Es gibt halt sonst überhaupt keine Möglichkeit auf ein besseres Leben, Aufstiegschancen, Karriere und bescheidenem Wohlstand, was soll Mann/Frau machen?

  6. Kiri Says:

    Haha, so schön. Wir waren auch vor ein paar Wochen in Cuba und leider haben wir die selbern Erfahrungen gemacht. Wir durften aber auch andere Cubaner kennenlernen, die findet man zwar eher durch Zufall, aber ich empfehle gerne ein paar CP in Playa Larga und in Vinales, wo man auch solche Menschen stösst.

    Viel Spass aber weiterhin

    K.

  7. Nikkie Says:

    Haha, mir gings da wie Babsi. Selten so irritiert zum Text gescrollt :-)
    Ich hoffe allerdings, dass du trotz der Wegelagerer noch eine großartige Zeitauf Kuba
    haben wirst. Aber vermutlich würde ich wieder die Äthiopien-Regel anwenden: raus aus der Stadt!

  8. Gunda Says:

    Meike, ich wünsche Ihnen Begegnungen mit ehrlichen Menschen. Ehrlich, in Bezug auf Herzensbildung. So, wie Sie diese Begegnungen beschreiben, käme ich mir ziemlich ausgenommen vor. Hat nichts mit Grosszügigkeit zu tun. Einfach nur sein können, wie Sie möchten, ohne eine Spur von Berechnung.

  9. Anne Siegel Says:

    Zu gut! Mir ging es auch so- sind wir etwa schon so konditioniert?
    Ich SAH das zerwühlte Bett und stieß ob des Fotos -in Kombination mit dem Titel- ein lautes “Winnemuth, Du wildes Ding” aus.

    Aber natürlich ist man ja gerade ein wildes Ding, wenn man eben nicht zur Emotionskapitalistin wird. Du kannst stolz auf Dich sein Meike!
    Ein wenig erschüttert mich auch der Gedanke, dass die letzte Bastion des real existierenden Sozialismus doch etwas in den Herzen der Menschen verändert zu haben scheint, sie also zu Kapitalisten der Emotionen macht, wenn sie schon keine Dollares haben!
    Und Du hast ein herrliches Wort geprägt, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht.
    Bleib tapfer, Schwester.
    Anne

  10. Gunda Says:

    Nachtrag zu A.A. Sehr empfehlenswert das Buch ” Alles hat seine Zeit” von Ennio Flaiano. Der Autor hat die Drehbücher zu ” La Strada” und ” La dolce vita” geschrieben.
    Ein grossartiger Roman zum Krieg der Italiener in Äthiopien. Ein sehr brutaler Krieg, in dem mehr als 700 000 Äthiopier ums Leben kamen, mehr als 10 % der Gesamtbevölkerung und fast die gesamte Oberschicht. Ein Muss für jeden, der sich mit dem Land auseinander setzen will.

  11. MonikaZH Says:

    gnihihi. Gsnz grosses Kino, der Bericht und die Kommentare.

    (und elend nervig, denke ich. Aber wenn man drüber lachen kann mag’s ja nur halb so wild sein)

  12. Miriam Says:

    Trotz allem ein wirklich tolles Foto von der Kaimauer!

  13. Toni G. Says:

    Mir ging´s genauso! Wildes Ding, meine ich. So wahnsinnig kunstvoll war die Bettfaltung also wohl doch nicht, obwohl diese geraffte Seite schon was hat.

    Ich glaube, der Mangel hat die Kubaner zu einem wahnsinnig gewitzen und schlauen Volk reifen lassen. Neulich sah ich in einer Reportage wie jemand aus einer Zahnpastatube einen LIchtschalter baute, weil es eben keine LIchtschalter zu kaufen gab. Zahnpastatube = Lichtschalter, Tourist = Geldautomat. So ähnlich.
    Nervig, aber wohl irgendwie nachvollziehbar. Hoffentlich hindert es Sie nicht daran, das Land zu genießen, das kann ja schnell kippen. LG!

  14. Anajana Says:

    Nervig, aber auch irgendwie charmant. Und absolut nachvollziehbar. Not macht erfinderisch. Wo das Zimmermädchen um Längen besser verdient als der Lehrer oder Arzt ist einfach jeder scharf auf Peso convertible, Euro oder Dollar.

  15. Ina Says:

    Liebe Meike aus “Dinamarka”,
    (Finlandia ist auch toll, das können noch weniger Menschen und die Sprache ist schwieriger).
    Der Bericht hat mich nachdenklich gemacht…
    Für uns Touristen ist es ja einfach – wir können wieder fahren, wenn wir genug haben von einem Land und den Leuten, die uns auf den Geist gehen oder offensichtlich – vom Jinetero bis zum Stubenmädchen – nur an Dollars interessiert sind. Den Kubaner macht’s bestimmt auch nicht immer Spaß, auf diese Weise ihr Geld zu verdienen. Nur – haben sie eine Alternative? Als Akademikerin oder Ärztin verdient man weit weniger als im Tourismus, als Putzfrau oder Zimmermädchen, haben diverse Medien von der Situation im Land berichtet. Ganz zu schweigen vom Thema Politik. Ob das stimmt, können Sie sicher besser beurteilen als ich oder in den nächsten Wochen vorort und mit eigenen Augen erfahren. Mit einem Rückfahrticket lebt es sich leichter – und wir sind sehr privilegiert, dass wir in einem so reichen und sicheren Land wie Deutschland leben dürfen, in das wir immer wieder zurückkehren können, wenn es langt mit der rauen Welt da draußen.
    Wünsche trotz des Einstiegs noch ein paar wirklich warme, menschlich ehrliche Begegnungen in Havanna oder auf dem Land! Und uns wünsche ich weiterhin so tolle Bilder mit klugen Texten.

    (und es kann wirklich nerven, von renitenten Jungs verfolgt zu werden. Wer es in Europa mal ausprobieren mag, dem rate ich zu einem Solotrip nach Süditalien. Ein Traum, besonders als Blondine…

  16. binewin Says:

    “emotionale beziehungen simulieren” – tolle – und scheinbar sehr treffende – formulierung!

  17. Ulrike Says:

    Liebe Meike,
    seit dem 1. Januar sitze ich mit im blauen Bus und genieße diese abwechslungsreiche, aber auch anstrengende Reise. Nun sind wir endlich in Havana angekommen und ich frage mich, ob Sie den Film “Suite Habana” (http://www.youtube.com/watch?v=qLwi_3lH-co&feature=player_embedded) kennen und sich bereits vorgenommen, John Lennon auf seiner Parkbank zu besuchen. Es soll wahr sein, daß er einen eigenen Wächter hat, der auf seine Brille aufpassen muß.
    In meiner Fantasie sehe ich schon ein Foto mit Ihnen und John! ;-)

    Halten Sie bitte durch!

  18. Kristiane Says:

    Die schicke Plumeau-Raffung probiere ich morgen beim Bettenmachen auch aus.
    Dachte übrigens auch erst, es handle sich um ein Lotterbett nach leidenschaftlicher Jinetero-Eroberungsattacke.

  19. Christer Says:

    Meike,

    wenn du dich etwas weiter vom Floridita bewegst, triffst du auch Leute, meistens ältere, die etwas direkter sind. “Ich habe Hunger” sagen sie einfach. Kommt aber aufs Gleiche aus.

    Jetzt ist Monatsanfang und gibt es neue Lebensmittelkarten. Vielleicht hilft das. Vorübergehend zumindest. Gibt es jetzt Zucker in den Geschäften?

  20. jule Says:

    Als ich allein in Moshi unterwegs war, hat sich mir früh ein junger Mann als Begleiter angedient – und bei meiner Auskunft, ich bräuchte keinen Guide, auch direkt erklärt, dass ich dann viel Geduld haben müsse, weil ich immer wieder Leute werde abweisen müssen, die mir ihre Dienste oder Produkte anbieten. Ob ich nicht einfach gleich jetzt ihn als Begleiter anheuern wolle, dann erspar ich mir das und wir hätten beide was davon, ich meine Ruhe und er ein bisschen Geld. Diese direkte Art fand ich gut, ich habe trotzdem erst einmal abgelehnt und wollte es so probieren. Er ist mir noch einige Zeit mit gewisser Distanz gefolgt und hat sich später dann verabschiedet – nicht ohne mir noch einige Ratschläge zu geben und viel Spaß am Berg zu wünschen. Ich fand das gelegentliche Angesprochenwerden ganz okay und fühlte mich in Moshi nie wirklich bedrängt oder unwohl.

    Allerdings ist Havanna da anscheinend ein ganz anderes Kaliber.

    Wichtig ist vermutlich, es nicht persönlich zu nehmen, dass man ständig als Geldautomat betrachtet und auf diese Funktion reduziert wird. Ausgesucht haben die Kubaner es sich nicht, so zu leben – und ich vermute, es gibt auch viele, die auf diese Art Geschäft selbst gar keine Lust, aber nicht unbedingt die Wahl haben…
    Inas Kommentar stimme ich zu.

    Ich bin gespannt, von welchen anderen kubanischen Begegnungen Meike in den nächsten Wochen berichten wird, manchmal schien es ja, als habe sie eine Art Magnet für besondere Begegnungen mit spannenden Menschen implantiert. ;-)

  21. Frau S. Says:

    Liebe Maike,

    ich bin beeindruckt von der großzügigen Sichtweise, dem Ganzen sogar etwas abzugewinnen. Es ist wahrscheinlich die einzige Art, damit umzugehen. Ich wäre wahrscheinlich genervt und könnte nicht so souverän reagieren. Denn auf dieser Schuldebene bin ich sehr sensibel. Allerdings: Vielleicht wäre es eine gute Schule?!

    “Emotionalkapitalismus” ist wirklich ein passender Begriff. Wunderbar!
    Und das Bett-Ensemble gefällt mir ausschließlich farblich sehr gut.

    Viele Grüße aus dem Land des trüben emotionslosen Kapitalismus
    (… eigentlich auch nicht besser…)

    Schönes Wochenende! Anke

  22. Sonja Says:

    Hehehe, ich bin doch sehr froh zu lesen, dass nicht nur ich in meiner persönlichen schmutzigen Phantasie das Bett als “nicht gemacht” wahrgenommen habe ;-) )
    Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Gelassenheit, um Kuba trotz der Widrigkeiten zu genießen!

  23. Annelie Says:

    Der geschliffene Text und die geübte Schrift Yohanas (ich verabscheue den Begriff Zimmer”mädchen”) scheinen mir darauf hinzudeuten, dass ihr in einer anderen Gesellschaft andere Möglichkeiten gegeben wären, ihr Geld zu verdienen. Wir wissen ja nichts von ihrem Hintergrund, vorstellen kann ich mir einiges. Grundsätzlich halte ich es auch nicht für verwerflich, mit einer gewissen Geschicklichkeit die gebotenen Möglichkeiten zu nutzen, den kapitalkräftigen Touristen ein wenig von ihrem Überfluss abzuluchsen.

  24. shaunthesheep Says:

    oder eine frau trägt ein kleinkind auf den arm und bittet darum, für sie im laden gegenüber milchpulver zu kaufen. wenn man das tut, geht sie sofort in den laden zurück und lässt sich das geld für das milchpulver wiedergeben..

    ja man spielt ein bisschen mit, um das schlechte gewissen zu beruhigen, das sich unweigerlich einstellt, wenn man als reicher tourist in ein armes land kommt.

  25. Marie Says:

    Und uns tun die ein, zwei oder drei Euro nun wirklich nicht weh, wenn wir eine solche Überseereise machen können, und die Einheimischen freuen sich. Trinkgelder sehe ich da als Spende, die direkt ankommt und nicht von Wegelagerern auf dem Weg zur Zielperson in großen Teilen abgegriffen wird.
    Dieser Gedanke betrifft das Zimmermädchen oder Straßenverkäufer, und nicht die Loverboys.

  26. Uta Says:

    Die Sache mit dem Bett erinnert mich an die Postbotin, die letztes Jahr am 23. Dezember die Post einwarf, wartete – und dann klingelte. Als ich aufmachte, sagte sie, ihr gefiele der Ton unserer Klingel so gut, den wolle sie nur einfach noch einmal gehört haben.
    Natürlich wollte sie nicht die Klingel hören, sondern ein Weihnachtstrinkgeld bekommen, das sie dann auch bekam. Ich bin eher großzügig und schenke gerne. Irritiert hat mich dieses Vorgehen trotzdem.
    Ich glaube, auf Dauer könnte ich so ein Verhalten nicht gut aushalten. Ich fühlte mich zu sehr auf den Geldbeutel reduziert.

  27. Croco Says:

    Anscheindend war das Verhalten der Jineteros bisher so erfolgreich, dass es auf die paar Fälle des Nichtklappens nicht ankommt.
    Vermutlich sind auch die Motive anderer Touristen anders als Ihre, Meike
    Viele fahren extra dahin, um etwas zu erleben, was sie Abenteuer nennen.
    Und das was wir als Romantik definieren, ist bei genauer Betrachtung nur Armut.
    Und dass man da raus will, egal wie, kann ich schon nachvollziehen.

  28. Marie Says:

    Frau Winnemuth, schon Tangotänzern zugeschaut?

  29. Kerstin Lapka Says:

    Ich bekam kürzlich handgeschriebene, persönliche Briefe von meiner Kosmetikerin und Dental Hygienist (lebe in den USA). Gefreut habe ich mich nicht so wirklich darüber, weil die Dienstleistung besser sein hätte können. Ihr Begriff “Emotionalkapitalismus” trifft mein Erlebnis auf den Punkt.

  30. meike Says:

    @Marie: Die sind hier eher die Ausnahme, Salsa ist das Ding. Und: nein, noch nicht. Bin wegen Jetlag derzeit noch viel zu früh im Bett.

  31. Daniela (Le-Sabra) Says:

    Nur mal so zum nachdenken.

    Für alle die sich evt. belästigt fühlen wenn sie in einem armen Land nach Trinkgeld gefragt werden:

    http://dontyoubelievethehype.com/2011/12/fussabdruck-der-sklaverei/

    http://www.youtube.com/watch?v=5k5LbtS4SXM&feature=player_embedded