Jainismus. Nie gehört, aber das will bei Religionen ja nichts sagen. Es ist auch eine vergleichsweise kleine, gerade mal 4,5 Millionen Anhänger hat sie, fast alle in Indien. Jainisten sind sowas wie die Calvinisten von Indien, sie glauben, Erlösung müsse man sich selbst verschaffen, sonst tut’s keiner. Sie führen ein ungemein asketisches Leben, geprägt von drei Gesetzen: Gewaltlosigkeit gegenüber allen Lebewesen, Unabhängigkeit von unnötigem Besitz und Wahrhaftigkeit. Weder Tiere noch Pflanzen dürfen für sie sterben, deshalb kommen die meisten Berufe für sie nicht in Frage, nicht mal die Landwirtschaft (beim Pflügen könnten Würmer sterben). Sie sind strikte Vegetarier und essen kein Wurzelgemüse, auch keine Zwiebeln und keinen Knoblauch, weil deren Ernte den Tod der Pflanze bedeutet.
All das wusste ich vorher auch nicht, nur, dass es einen schönen Tempel in Malabar Hill geben soll, dem reichsten Stadtteil von Mumbai, ein paar Kilometer von meinem Hotel entfernt. Der kauert auch tatsächlich im Schatten von bewachten Apartmenthäusern, ein kleines Schatzkästchen von einem Tempel, alles andere als asketisch: eine Minaudiere in gut gelaunten Juwelentönen. Der Hauptraum ist gerade mal 60 Quadratmeter groß, mit schönem Kuppeldach. In den offenen Seitenflügeln kann man sich mit Wasser aus Messingeimern und –schalen die Füße waschen. Fotografieren? Aber gern, nur soll man bitte den Götterbildern dabei nicht den Rücken zukehren. Geht klar, ist nur fair.
Die taz berichtet heute über eine Millionenhochzeit in Delhi, und auch in meinem Hotel wird gefeiert. Heute morgen auf dem Gang vor meinem Zimmer: eine spontane Morning-after-Party. Alle Zimmertüren stehen offen, mehrere ältere Herren tanzen im Unterhemd mit einem Handtuch um den Bauch, Damen im Sari haben sich Stühle aus den Zimmern geholt. Hinreißend.
Eigentlich sollte ich jetzt auf einer rauschenden Party sein, etwa eineinhalb Taxistunden nördlich von hier am Juhu Beach. Der Anlass: der Kalender-Launch von Bollywood-Schauspielerin Kashmera Shah. Die lud mich vorgestern per Mail ein (sie ist die Freundin einer Schauspielagentin aus LA, die ich in Buenos Aires kennengelernt hatte, als ich… ach lassen wir das. Wie die Reisezufälle halt so spielen), versprach „glitz and glamour“ und einen Skandal, denn einige der Fotos seien Nacktaufnahmen.
Wie das ekstatische (und puppenlustige) Badezimmervideo oben zeigt, ist Fräulein Shah nicht zurückhaltend bei diesem Thema, und das allein ist schon ein Skandal in einem Land, in dem öffentliches Küssen, ob im Film oder im wahren Leben, der Gipfel an Obszönität ist – wir erinnern uns noch gern an den Haftbefehl, der vor ein paar Jahren gegen Richard Gere erlassen wurde, als er eine indische Kollegin bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung auf die Wange geküsst hatte. Der Austausch von Körperflüssigkeiten, selbst das Trinken aus demselben Glas, gilt als zutiefst eklig. Wie auch – da wären wir wieder bei Kashmera Shah – bereits schulterfreie Tops als indiskutabel nuttig gelten.
Wie gesagt: eigentlich hätte ich dabei sein sollen und natürlich auch wollen, aber leider… Vielleicht doch besser keine Wassermelone zum Frühstück essen?
Okay, also Endstation Churchgate ausgestiegen, in der Menge mitgeflossen, einfach losgegangen ohne Stadtplan. Gegenüber der Station liegt ein Cricketfeld, dahinter mehrere alte Gebäude: der dem Big Ben nachempfundene Rajabai Tower und der High Court, oben links, bewacht von Maschinengewehrsoldaten, die auf der Straße regelrechte Schützenstände aufgebaut haben. Fotografieren des Gebäudes: verboten, ich wurde mit freundlichem Gewehrwinken vertrieben. Weiter die Straße hinunter, irgendwo hier muss das Meer kommen. Kam aber nicht. Stattdessen: erst postapokalyptisches Geröll vor toten Häusern, dann der Slum von Colaba. Ich bin nicht durchgegangen, natürlich nicht, ich habe auch nicht fotografiert, denn ich finde, das gehört sich nicht. Ich hätt’s auch nicht gekonnt. Es ist ein derart trostloses Elend, gegen das man sich einfach nicht panzern kann.
Oder vielleicht doch. Denn genau gegenüber liegen Apartmenthäuser mit Namen wie „Lovely Home“, gut in Schuss, mit Mittelklassewagen vor der Tür. Auf meiner Straßenseite, der Slumseite, parkte ungerührt ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben hinter einem bestialisch stinkenden Müllcontainer ein, den ein Slumbewohner gerade nach ein paar Essensresten durchwühlte. Vorgestern dachte ich noch, es gäbe ein Oben und Unten. Heute sehe ich: Es gibt nur ein Nebeneinander.
Zurück ins Hotel nahm ich dann doch das Taxi. Nicht, weil ich es nicht mehr aushielt. Sondern weil ich dachte: Jede Rupie, die ich hier im Land lasse, hilft. Irgendwem.
Taxis sind lächerlich billig hier, man kommt für 100 Rupien, 1,50 Euro, durch die halbe Stadt. Wie fast überall auf der Welt muss man dem Taxifahrer manchmal nett klarmachen, dass er den Taxameter einschalten soll, und im Mumbai gibt es oft noch die alten mechanischen Uhren, die ihre eigenen Umrechnungsgesetze haben. Noch billiger und deutlich spannender allerdings sind die S-Bahnen. Während der Rush-Hour unerträglich voll, heute am Samstag um die Mittagszeit kein Problem. Ich wollte schlau sein und habe gleich zehn Tickets gekauft – schön blöd, denn auf Vorrat geht hier in Indien schon mal nichts. Eine Fahrkarte ist eine Stunde gültig, und das war’s.
{Einschub an dieser Stelle: Im Hindi gibt es für gestern und morgen das gleiche Wort: कल, kal. Hier existiert nur der Unterschied zwischen jetzt und nicht-jetzt. Dieses Wissen wird möglicherweise noch nützlich werden.}
Der Schaden, neun Tickets zuviel zu haben, hält sich allerdings in Grenzen: Ein Fahrschein kostet 4 Rupien. 6 Cent. 6 Cent! Die erste Klasse (gepolsterte Bänke) kostet 20 Rupien. Es gibt eigene Wagen für Frauen, die man aber nicht nehmen muss, es ist nicht Verbannung, sondern Schutz. All das erklärte mir der nette Herr von gegenüber, als ich bemerkte, dass ich mal wieder die einzige Westlerin hier war. Offensichtlich wird erwartet, dass Europäer, zumal Frauen, 1. Klasse reisen. Okay, beim nächsten Mal. Vielleicht.
Setzen wir nach der Reisegarderoben-Parade eine weitere schöne VMDW-Tradition fort: das erste Essen im neuen Heim. In diesem Fall Murgh Angara (Huhn, mittelscharf mit Koriander und Minze), Paneer (der typisch indische ricottaeske Käse, hier mit Paprika und Kokosmilch), Naan (in Butter gebratenes Brot) mit extra Chili und ein Wassermelonen-Gurken-Saft (nicht im Bild) im hoteleigenen Restaurant, in dem ich die einzige Europäerin war und die einzige, die allein am Tisch saß. Sonst nur lustige indische Großfamilien. Das macht mir nichts, ich hatte viel zu gucken, vor allem: Cricket im Fernsehen. Derzeit wird die Cricket-WM in Indien, Bangladesh und Sri Lanka ausgetragen. Im Unterschied zu den üblichen Test Matches, also Länderspielen, die fünf Tage lang dauern (ganz recht: ein Spiel, jeweils sechs Stunden am Tag, unterbrochen von Mittags- und Teepause), sind World Cup-Spiele auf nur einen Tag beschränkt, das macht die Veranstaltung, die alle vier Jahre stattfindet, für Cricketverhältnisse zu so etwas wie Blitzschach. Ich verstehe nicht das Geringste von Cricket, aber das wird sich im Lauf der nächsten Wochen garantiert ändern, denn die Spiele laufen hier immer und überall, in allen Restaurants, die Zeitungen sind voll davon. Das Ganze wird mit ähnlich religiöser Hingabe zelebriert wie eine Fußball-Weltmeisterschaft im Westen. Wie gesagt: Ich habe keine Ahnung, aber bereits einen Helden: Hashim Amla, den Schlagmann der südafrikanischen Nationalmannschaft, oben rechts. Super Typ, anscheinend mit einem Puls wie ein Reptil. Noch niedlicher mit seiner kleinen Drahtbrille.
Das passt ganz gut. Meine neue Bleibe, Zimmer 1005 im Krishna Palace Hotel, liegt genau zwischen ganz oben und ganz unten, nämlich im 10. Stock. Neben dem Hotel: Geschäfte für Linoleum und Sperrholz, gegenüber kann man Kloschüsseln kaufen. Das Zimmer ist einfach, aber sauber, und hat eine anscheinend funktionierende, wenn auch rumpelnde Internetverbindung, für die man stundenweise zahlt. Die Fenster sind mit Klebeband fixiert, und auch das scheint zu halten. Whatever works, sage ich ja immer. Diesen Monat lohnt sich für mich kein Apartment, denn in zwei Wochen stößt meine Münchner Freundin Rose zu mir und wir machen uns zusammen auf nach Rajasthan. Das bricht gleich in mehrerer Hinsicht das Muster meiner Reise, aber ich bin wirklich froh, Indien nicht allein bewältigen zu müssen. Und Mumbai nur für einen halben Monat.
Auf der Fahrt hierher Stoßverkehr, obwohl es mitten am Tag war. Hupen, Hupen, Hupen. Stop and go. Für mich toll, denn so konnte ich mir endlich das Leben anschauen. Und so ist es, hier unten: Ein Mann schläft auf der Straße. Einem anderen wird direkt neben dem Verkehr ein Zahn gezogen. Eine Frau in einem neonpinken Glitzersari, Karren mit Zementsäcken, Kioske mit Junkfood, eine Nische mit einer kleinen Götterstatue, nicht genau zu erkennen. All das in zehn Sekunden – es ist unmöglich, all das aufzunehmen, abzuspeichern, in die entsprechenden Hirnregionen zu sortieren. Aber wie die vielen klugen Kommentare von gestern schon richtig sagten: Darum geht es hier auch nicht. Und auch darin hatten die Kommentare recht: Man gewöhnt sich daran. Schon am ersten Tag hier unten.
Um 16 Uhr aufgewacht. Frühstück geordert. Vorhänge aufgezogen. Ohne auch nur einen Fuß vor die Tür gesetzt zu haben, weiß ich jetzt schon: Mumbai wird eine Nagelprobe für mich. Aus dem wohlklimatisierten 28. Stock des Four Seasons blickt man durch den Smog auf das, was hier als Innenstadt gilt: Wellblechhüttensiedlungen, Bauruinen, Dreck. Das da unten ist die Wirklichkeit, ich hier oben sitze frisch geduscht in meiner luxuriösen kleinen Seifenblase – und habe schon jetzt Bauchschmerzen angesichts der gewaltigen Clashes, die mich erwarten. Denn auch wenn ich morgen raus aus dem Luxushotel in eine bescheidenere Bleibe ziehe, ich werde stinkreich und privilegiert leben. Keine Chance, anders als wie ein Alien durch diese Stadt zu gehen. Ich bin sehr gespannt, was das mit mir machen wird. Ab jetzt geht das Reisen los.
Noch ein Blick aus dem Fenster: Unten der Pool des Four Seasons, direkt daneben hinter hohen immergrünen Hecken: das Elend.