Vorn und hinten

Okay, also Endstation Churchgate ausgestiegen, in der Menge mitgeflossen, einfach losgegangen ohne Stadtplan. Gegenüber der Station liegt ein Cricketfeld, dahinter mehrere alte Gebäude: der dem Big Ben nachempfundene Rajabai Tower und der High Court, oben links, bewacht von Maschinengewehrsoldaten, die auf der Straße regelrechte Schützenstände aufgebaut haben. Fotografieren des Gebäudes: verboten, ich wurde mit freundlichem Gewehrwinken vertrieben. Weiter die Straße hinunter, irgendwo hier muss das Meer kommen. Kam aber nicht. Stattdessen: erst postapokalyptisches Geröll vor toten Häusern, dann der Slum von Colaba. Ich bin nicht durchgegangen, natürlich nicht, ich habe auch nicht fotografiert, denn ich finde, das gehört sich nicht. Ich hätt’s auch nicht gekonnt. Es ist ein derart trostloses Elend, gegen das man sich einfach nicht panzern kann.

Oder vielleicht doch. Denn genau gegenüber liegen Apartmenthäuser mit Namen wie „Lovely Home“, gut in Schuss, mit Mittelklassewagen vor der Tür. Auf meiner Straßenseite, der Slumseite, parkte ungerührt ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben hinter einem bestialisch stinkenden Müllcontainer ein, den ein Slumbewohner gerade nach ein paar Essensresten durchwühlte. Vorgestern dachte ich noch, es gäbe ein Oben und Unten. Heute sehe ich: Es gibt nur ein Nebeneinander.
Zurück ins Hotel nahm ich dann doch das Taxi. Nicht, weil ich es nicht mehr aushielt. Sondern weil ich dachte: Jede Rupie, die ich hier im Land lasse, hilft. Irgendwem.

17 Antworten to “Vorn und hinten”

  1. saxana Says:

    Wow, so viel zu sehen. Sehr mutig, das alles zu wagen.

  2. Neil Says:

    mich würde das Meer doch interessieren

  3. Ludin Says:

    Liebe Meike, wieso glaubst Du, dass Deine Hilfe nötig und wichtig wäre? Und dass man nicht neugierig hinschauen darf? Wahrscheinlich würden sich die Slumbewohner sogar über ein Foto freuen. Vielleicht empfinden sie ihr Leben keineswegs als elendig, sondern als würdig und gottgegeben. Jedenfalls nicht als trostlos, sondern als Teil eines natürlichen, insgesamt wunderbaren, akzeptierten Kreislaufs. Indien verstehen heißt erst mal: sich von unseren Maßstäben verabschieden! Viele Grüße, Ludin

  4. Barbara Says:

    Mir geht es genauso wie Meike, dass ich in diesen Situationen keine Menschen fotografiere – da ist eine innere Blockade drin. Ich schaue lieber, lächle und nehme die Fotos mit meinen Augen auf und mache mir meine Gedanken dazu.
    Ins Internet stellen würde ich solche Fotos mit so vielen Menschen drauf eh nicht.

  5. meike Says:

    @Ludin: Du hast Recht, dass man sich von seinen gewohnten Maßstäben verabschieden muss – oder sie zumindest um einiges erweitert. Tue ich auch, mir bleibt gar nichts anderes übrig. Das Land zu verstehen, das wird mir ohnehin nicht gelingen, schon gar nicht in der kurzen Zeit. Aber ich halte es wie Barbara: alles anschauen, alles in mich aufnehmen. Da ist es dann auch gut aufgehoben. Einen Slumbewohner per Foto zum Anschauungsobjekt zu machen, zumal in einem Weblog, das verletzt nach meinem Empfinden seine Würde (ich habe bereits länger darüber nachgedacht, ob ich das Mercedes-Foto oben veröffentlichen soll). Wie gesagt: mein Empfinden. Von dem ich mich dann halt doch nicht so einfach verabschieden kann.

    Andererseits akzeptiere ich auch die Ansicht, dass man das Elend gerade veröffentlichen und es damit in die Wahrnehmung anderer bringen soll. Die Journalistin in mir denkt das ohnehin. Aber sie denkt es eher als es zu fühlen. So richtig hilflos macht mich allerdings eine Meldung wie diese: Derselbe Slum wurde vor ein paar Jahren von Madonna aufgesucht. Nachdem sie eine Woche in Rajasthan verbracht hatte (so wie ich am Ende dieses Monats) und sich hier in Mumbai ein Stockwerk im teuersten Hotel der Stadt gemietet hat. Ich gehe davon aus, dass der Besuch echtem Interesse folgte, sie hat Zynismus nicht nötig. Aber wenn ich Fotos wie dieses sehe (in denen es immer nur um ihre Person geht, die mühsam mit Schlagstöcken vor den Slumbewohnern geschützt wird, nicht um die Menschen dort), fällt es mir schwer, einen Sinn in solchen Aktionen zu erkennen.

  6. Annette B. Says:

    Und vor allem, wenn der Artikel über Madonnas Besuch mit einer Werbung für “all you can eat-Hamburger” garniert ist… Wie geschmacklos ist das denn???

  7. meike Says:

    Noch ein Nachtrag zum Thema: Der Großbrand gestern in einem anderen Slum von Mumbai. Dem Spiegel Online möglicherweise auch nur deshalb ein Beitrag wert, weil eine der Kinder-Darstellerinnen von „Slumdog Millionaire“ betroffen war. Die Fotos zum Beitrag entsprechen ziemlich dem, was ich heute gesehen habe. Und das ohne Brand.

  8. nico Says:

    liebe meike

    nach welchen gesichtspunkten hast du deine reise zusammengestellt? du verfolgst doch ein ziel… mach es dir in mumbai nicht so schwer.. mir ist klar, dass du diesen monat einen teil deiner leichtigkeit verloren hast.. oder verlieren wirst…
    aber du wirst sicher tolle erfahrungen machen.. und wieder ein stück dazu lernen..

    viel mut und abenteuerlust…du machst das schon:o)
    lieben gruß
    nico

  9. meike Says:

    @nico: Ich verfolge kein Ziel bis auf dieses: in Städten zu leben, die ich noch nicht kenne, aber gern kennenlernen möchte. Und das aus ganz unterschiedlichen Gründen. Es sind einige dabei, in denen ich etwas erfahren möchte über einen Teil der Welt, der mir bislang völlig unbekannt ist, Mumbai gehört dazu, Tokyo, Shanghai, Addis Abeba. Von anderen Städten vermute ich, dass sie meinem Lebensgefühl ganz gut entsprechen könnten, San Francisco zum Beispiel oder Kopenhagen. Wie gesagt: Vermutungen. Ich war verblüfft, wie wohl ich mich in Buenos Aires gefühlt habe, das hätte ich überhaupt nicht erwartet. Mit solchen Überraschungen rechne ich eigentlich das ganze Jahr.
    Ansonsten: Danke für die Aufmunterung! Ich werde viel lernen, keine Frage. Am meisten über mich.

  10. christiane Says:

    das mit den billigen preisen ist der übliche trugschluß: man muß sie am durchschnittlichen einkommen messen und das dürfte in indien niedriger sein … dazu kommt, daß die umtauschkurse auch nicht unbedingt realistisch sind, d.h. immer für das land günstiger, das wirtschaftlich vorne ist, deshalb ist japan für uns ‘teuer’ …

  11. christiane Says:

    mit einer taxifahrt helfen? interessant wäre da auch, wem das hotel gehört, d.h. ob der (weitaus größere) betrag in indischen händen bleibt … mir gefallen die projekte, die mit kleinstkrediten arbeiten und es – vorwiegend frauen – ermöglichen, sich eine selbstständige existenz aufzubauen …
    fotografieren? warum einen unterschied machen zwischen z.b. den leuten in sydney und denen in den slums? vielleicht schämen die sich gar nicht ihrer anmut? man kann den einzelnen doch fragen, ob er einverstanden ist, und wenn manche dann geld dafür möchten, auch okay, das wollen viele promis ja auch …

  12. christiane Says:

    die armut zeigt sich an vielen stellen in indien:
    wenn große lastenkarren in mumbai von menschen und zu fuß gezogen werden, also nicht mal it einem fahrrad oder esel …
    wenn der frischgewaschene sari von zwei leuten in die sonne gehalten wird, bis er trocken ist, damit man ihn gleich wieder anziehen kann, weil er der einzige ist …
    wenn die marktstände in den nicht-touri-märkten aus alten säcken am boden und nur wenigen früchten bestehen …

  13. nelly fleckhaus Says:

    Liebe Meike,

    ich würde auch nicht in ganzen Monat in Mumbai bleiben. Interessiert werde ich deinen Berichten aus Radjastan folgen.

    Falls du eine Gegend entdeckst, in der es nette Häuschen zum günstigen Preis gibt, wäre es schön, wenn du das auch posten würdest.

    Aber zunächst mal: viel Gelassenheit im Moloch.

    Nelly Fleckhaus

  14. KatjaW Says:

    @christiane: das mit den kleinstkrediten hat ja leider doch auch wieder nicht so funktioniert, wie gedacht bzw. wurde fies ausgenutzt. Siehe hier: http://www.zeit.de/2010/47/Mikrokredite-Indien

  15. christiane Says:

    @katjaW: das ist bitter. wieder um eine illusion ärmer. geld korrumpiert anscheinend alles.

  16. Kristine Says:

    Liebe Meike,

    Ihre Fotos und Schilderungen erinnern mich an das, was eine Bekannte kürzlich bei einem Vortrag über ihre Erfahrungen im Indien der 80er Jahre erzählt hat. (Sie hat mit Ihrer Familie in Mumbai gelebt, Ihr Mann war Korrespondent.)

    Das für mich Erstaunlichste war: Es gibt in der Sprache der Inder kein Wort für Neid oder Missgunst. Im Hinduismus gilt ja, dass jeder Mensch in einem “besseren” Leben wiedergeboren wird, wenn er auf der aktuellen Stufe seine Aufgabe erfüllt. Der Arme sieht also keinen Grund, den Reichen zu beneiden – der hat eben nur die Stufe der Armut schon längst hinter sich gelassen.

    Mich würde sehr interessieren, ob diese dem Glauben geschuldete Demut heute immer noch allgegenwärtig ist.

    Ansonsten: Bleiben Sie gesund, liebe Meike, und berichten Sie uns weiter in Ihrer unnachahmlich frischen Art! Ich genieße es, Ihnen auf der Reise über die Schulter zu schauen.

    Herzliche Grüße aus dem sonnigen Berlin
    Kristine

  17. Maroussia Says:

    ich bin ein wenig enttäuscht, ich wollte Ihre Ziele eigentlich nicht im Voraus kennen. Meine Schuld, ich (Neugierige) hätte die Kommentare nicht lesen sollen ! Ich freue mich ganz besonders auf Japan. Kyoto steht auf meiner persönlichen aber virtuellen Reise Liste.