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Ja, wo sind wir denn hier?

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Mir ist zu meinem Schrecken aufgefallen, dass ich schon über alles mögliche geschrieben habe – aber noch nicht richtig über Tel Aviv. Höchste Zeit also für einen kleinen Stadtbummel. Obwohl dieser, streng genommen, schon fast wieder aus der Stadt herausführt, nämlich nach Jaffa, einen der ältesten Häfen der Welt. Dessen Geschichte ist, wie bei allem, was 4000 Jahre alt ist, komplex. Mal sehen, ob ich das noch zusammenkriege, was uns die nette Führerin der Stadtverwaltung gestern erzählte. Gegründet – der Legende nach – von Japheth, dem Sohn Noahs (der Noah). 1468 v. Chr. an die Ägypter gefallen. Dann babylonisch, persisch, phönizisch bis zu Alexander dem Großen, der einfach in die Stadt geritten kam und sie ohne Gegenwehr übernahm. Kein Wunder, zu diesem Zeitpunkt war es auch schon egal, wem sie gehörte. Dann byzantinisch, im 11. Jahrhundert kurzes Kreuzfahrer-Intermezzo, dann wieder ägyptisch. 1515 Teil des osmanischen Reichs unter Sultan Salim I. 1799 Napoleon. Dann wieder Ägypter, dann Türken. Seit 1917 unter britischer Besatzung. Seit 1948 israelisch. Seit 1950 vereint mit Tel Aviv, das 1909 aus Jaffa heraus gegründet wurde. Heute ist ein Drittel der Bevölkerung arabisch.

Die Altstadt Jaffa ist in den letzten Jahren sehr liebevoll restauriert worden. Vor ihren Toren gibt es ein Flohmarkt-Viertel, in der Altstadt selbst sind Künstler angesiedelt worden, der Hafen wird derzeit nach dem Vorbild des Tel Aviv Port zu einer Gastro- und Kulturzone ausgebaut. Kleiner Rundgang? Los geht’s:

Die Bäckerei Said Abu Elafia, gegründet 1879, seit vier Generationen in der Hand derselben arabischen Familie. Fantastische Pita und andere Köstlichkeiten, die bis heute in großen offenen Steinöfen gebacken werden. Yefet, 7, Jaffa. 24 Stunden täglich geöffnet

Klassisch israelisches Recycling: Es gibt keinen Marmor im Land, also bediente man sich für diesen ottomanischen Brunnen gebrauchter Steine aus der Römer-Hochburg Caesarea, weiter nördlich an der Küste.

Auch klassisch Israel: ein koscheres Restaurant, gebaut in die Mauer der Moschee.

Der sehr beschauliche Kidar Kedumin, der zentrale Platz der Altstadt im Schatten der franziskanischen Sankt-Peter-Kirche.

Eine der interessantesten Galerien im Künstlerviertel ist das Ilana Goor Museum, ein traumhaftes Haus aus dem 18. Jahrhundert, das einst Herberge für jüdische Pilger auf dem Weg nach Jerusalem war. Ilana Goor, eine Bildhauerin, hat es mit ungeheurem Aufwand restauriert und lebt auch hier. Mich faszinierten vor allem ihre selbst entworfenen Möbel.

Ilana Goor Museum, Maza Dagim, 4, So – Sa 10 bis 16 Uhr

Der Morgen danach

Montag, 17. Oktober 2011

Heute morgen gleich noch mal. Ich bin kurz entschlossen über Nacht im Hod Hamidbar in Ein Bokek geblieben, einer relativ lieblosen Spa-Maschine wie anscheinend alle Hotels hier, aber eines der wenigen mit direktem Strandzugang. Man kann direkt aus dem Bett im Bademantel in das andere Bett da draußen.

Es war halb acht, es dümpelten schon ein russisches und ein israelisches Herrenkränzchen in angeregter Unterhaltung mit Morgenzigarre (übrigens: die Leute da oben stehen nicht auf dem Meeresgrund, die stehen senkrecht im Wasser ohne Bodenberührung. Auch das ein sensationelles Gefühl), aber wenn man ein paar Meter weiter hinaustreibt, ist es so, als ob sie nicht da wären. Jeder existiert hier in seiner eigenen kleinen Welt.

Und wieder eine Stunde, in der ich wirklich weg war. Ganz schnell übernimmt das Amphibiengehirn, die Atmung wird tiefer, der Puls langsamer. Man kann quasi zuhören, wie das Metronom immer gelassenere, ruhigere Ausschläge macht.

Alles ist hier wie abgefedert. Das Wasser trägt wie ein Gentleman, der Wind weht mild, durch den hohen Brom- und Magnesiumgehalt der Luft knallt die Sonne nicht so, UVB-Strahlen werden herausgefiltert. Das Tote Meer ist der tiefste Punkt der Erde, 420 Meter unter dem Meeresspiegel, und genau so fühlt es sich hier an: Man lässt sich sinken und wird gehalten, sicher aufgefangen im tiefen Schoß der Erde.

Bei der nächsten Lebenskrise würde ich ab sofort die Koffer packen und eine Woche Totes Meer buchen. Sie sollen mich mit Schlamm einreiben, mit Salz massieren und dreimal am Tag eine Stunde ins Meer schmeißen – und ich bin so gut wie neu.


Lever dood as Slaav

Montag, 17. Oktober 2011

„Willst du wirklich da hoch?“ – „Es ist unfassbar anstrengend.“ – „Noch kannst du zurück.“ Jeder, wirklich jeder, der mir auf den ersten hundert Metern des Schlangenpfads entgegenkam, hatte so einen Spruch auf Lager, und bei jeder Mahnung war ich entschlossener: Klar will ich da hoch. Zu Fuß. Um 12 Uhr mittags, bei knochentrockenen, totmeergesalzenen 34 Grad. Seilbahn! Pff! Was bin ich, ein Tourist? Ich bin so dämlich leicht zu manipulieren: Man muss mir nur sagen, „Lass es besser“, und schon wächst mir ein norddeutscher Sturkopp in XL, in den nur noch ein Gedanke passt: „Das wäre ja gelacht.“

Vielleicht ist es aber auch dieser Ort. Masada ist der jüdische Schicksalsberg. Der Nationalmythos. Ein 350 Meter hohes Felsplateau nicht weit vom Toten Meer, auf die Herodes 43 v. Chr. eine luxuriöse Festung bauen ließ. Allein die Überreste seines auf drei Ebenen gebauten Palastes an der Nordspitze des Plateaus, das wie ein Schiffsbug ins Land ragt und einen weiten Blick über die Wüste und das Tote Meer bietet: spektakulär. Eine geniale Wasserversorgung, Vorratsspeicher, die monatelanges Überleben hier oben möglich machten, ein feudales Badehaus mit doppeltem Fußboden zur Wärmespeicherung: brillant. 110 Jahre später wurde die Festung von jüdischen Rebellen erobert, einer der großen symbolischen Erfolge im ersten Aufstand gegen die römischen Besatzer. Im Jahr 73/74 holten die Römer zum Gegenschlag aus. 8000 Soldaten belagerten Masada über mehrere Monate und bauten einen 100 Meter hohen Erdwall, über den hölzerne Belagerungstürme mit Rammböcken geschoben wurden. Der Durchbruch gelang, die Eroberung war unvermeidlich, die römische Übermacht erdrückend. Was dann geschah, basiert auf den Schilderungen des jüdischen Historikers Flavius Josephus, der sich eine gute Geschichte nie von der Wahrheit kaputtmachen ließ. Die 967 Eingeschlossenen – Männer, Frauen, Kinder – bestimmten per Los 10 Männer, die alle anderen umbringen sollten – lieber tot als Sklave der Römer. Unter den verbliebenen 10 wurde einer ausgelost, die anderen neun zu töten und sich dann selbst ins Schwert zu stürzen. Als die Römer am Morgen Masada stürmten, empfing sie Totenstille; nur zwei Frauen und fünf Kinder hatten den Massenselbstmord überlebt.

Masada ist seitdem ein Symbol. Die offizielle Lesart: ein jüdischer Heldenmythos. Unkorrumpierbarer Freiheitswillen, und sei es um den Preis des Todes. Andere diagnostizieren einen Masada-Komplex: die pathologische Neigung zur Selbstzerstörung. Für dritte ist Masada ein klassischer Fall von Geschichtsklitterung aus politischen Zwecken. Denn die archäologischen Funde sind alles andere als eindeutig. Die Tonscherben mit den Namen der zehn Auserwählten, die im Masada-Museum wie Reliquien ausgestellt sind? Die sind echt – ebenso wie die 700 anderen gefundenen Scherben mit Namen von Frauen und von Nahrungsmitteln. Möglicherweise waren die Scherben Teil eines Rationierungssystems. Und waren die Eingeschlossenen wirklich die noblen Freiheitskämpfer, als die sie in Filmen, israelischen Schulbücher und sogar einer Rockoper gefeiert werden? Selbst die ursprüngliche Quelle, Flavius Josephus, identifiziert sie als Sicarier, religiöse Fanatiker, die einen Bruderkrieg gegen moderatere jüdische Gruppen führten. Josephus schildert einen Überfall zur Vorratsbeschaffung auf die nahegelegene Oase Ein Gedi, bei dem sie 700 Frauen und Kinder töteten – ein Detail, das im Besucherzentrum von Masada nicht erwähnt wird. Es ist ein Minenfeld, wie so oft im Nahen Osten. Was wahr ist und was nicht, ist längst egal. Mythen werden zu Identitäten, Religionen zu Rechtsansprüchen. Lieber tot als nachgeben. Am allerliebsten natürlich: die anderen tot – das gilt für jede Seite.

Oben auf dem Plateau, das ich nach 50 Minuten keuchend erreichte (mein privater Massada-Komplex: lieber tot als Seilbahn) lärmen Schulklassen auf Pflichtbesuch, wallfahrten Orthodoxe, galoppieren amerikanische Kreuzfahrttouristen ihrem Führer hinterher. Handy-Klingeltöne spielen die aktuellen Charts, Teeniemädchen kreischen, ein spanischer Fremdenführer wandelt im Jesus-Look durch die Ruinen. Es ist ein Zirkus.

Runter nehme ich die Seilbahn.

Nemo: gefunden

Dienstag, 11. Oktober 2011

Mein verdammtes Glück mal wieder: Wir wären eigentlich zu dritt gewesen im Tauchkurs, aber am Vorabend haben die anderen beiden kurzfristig abgesagt. Also habe ich Einzelunterricht bei David. Und er schmeißt mich fast sofort ins warme Wasser. Erst zwei Stunden Theorie: Auftrieb, Überdruck, Druckausgleich – bäh, Physik. Aber lebensnotwendige Physik, also passe ich auf. Dann packen wir die Ausrüstung, ich quäle mich in eine Neoprenpelle, wir fahren ans Meer. Kein Schwimmbadtraining, wozu auch? Der beste Pool ist das Rote Meer.

Ich schätze, dass jeder etwas hysterisch wird, der zum ersten Mal die Erfahrung macht, unter Wasser zu atmen. Ich wurde gleich doppelt hysterisch, denn keine zehn Meter vom Ufer entfernt beginnt schon der Wahnsinn. Was wir nur aus dem Aquarium kennen, schwimmt hier einfach so rum. Clownfische, Papageienfische, Picassodrücker schießen ungerührt durch die Beine der Badenden, ein getüpfelter Schlangenaal windet sich am Boden, ein Vieh, das aussieht wie ein Stein, drückt sich in einen Felsen, ein Seeigel trudelt über den Meeresboden. Lektion 1: nicht unter Wasser lachen, dabei kommt nur Wasser in die Maske. Lektion 2: Fische kann man nicht mit der Hand fangen, sie wirken immer näher, als sie sind. (Bis auf den Schlangenaal, den habe ich gestreichelt.)

Wir üben Mundstück verlieren, Maske ausblasen, aus der Flasche des Tauchpartners atmen. Ich kämpfe mit dem Druck auf den Ohren, bin anfangs zu ungeduldig mit mir und dem Druckausgleich. David zeigt Fische (Gott! Was riesiges Blaues!), Korallen, wir gehen tief und immer tiefer. Sechseinhalb Meter, sagt er später, 40 Minuten waren wir beim zweiten Tauchgang unten – ich hatte für beides nicht das geringste Gefühl, weder für Zeit noch für Raum.

Manchmal denke ich, es ist vielleicht ein bisschen viel für die Synapsen, was ich in diesem Jahr erlebe. Jeden Monat eine neue Welt, neue Eindrücke, neue Menschen, neue Lebensbedingungen, neue Regeln. Und jetzt auch noch dieser Kosmos unter Wasser. Mir platzt das Hirn. Vor Freude.


Negev

Sonntag, 9. Oktober 2011

Ich bin erst mal durchgefahren. Auch ohne Aussteigen am Toten Meer (oben das Salz- und Kaliwerk) dauerte die Fahrt nach Eilat sechs Stunden, ich nehme lieber auf dem Rückweg Zeit zum Treiben. Und auch so war es schwer genug, nicht alle paar Kilometer anzuhalten und die Kamera auszupacken. Ich liebe Wüste, und die Negev ist keine Ausnahme.

Meine Vermieterin Gabrielle hatte mich noch gewarnt, „die richtige Straße“ zu nehmen. Auf der anderen, der, die näher an der ägyptischen Grenze liegt, habe es neulich nördlich von Eilat einen Zwischenfall gegeben. „Hast du ‚Babel‘ gesehen?“ Ich wusste gleich, was sie meinte: Heckenschützen hatten vom Sinai aus zunächst auf einen Bus, dann auf einen Privatwagen geschossen, acht Menschen waren dabei gestorben.

Seltsamerweise macht mir das keine Sorge. (Obwohl ich natürlich die andere Straße genommen habe.) Auch wenn ich durch die Straßen von Tel Aviv gehe, fühle ich mich nicht bedroht. Noch schaffe ich es nicht, die Nachrichtenbilder mit dem Land zu verbinden. Aber die Gefahr ist da. Natürlich. Vor ein paar Tagen war ich in einem Vorort zum Essen eingeladen. Sie ist Deutsche und lebt seit 22 Jahren hier, er ist Israeli, die Familie ursprünglich aus Bagdad. Selbstverständlich haben sie einen Bunker im Keller, „ich nutze ihn hauptsächlich als Weinkeller“, sagt er, der Sommelier, lächelnd. Und sie sagt: „Niemals würde ich mein Kind mit einem Bus fahren lassen.“ Wann immer sie einen Bus überholt, sagt sie, zieht sie unwillkürlich den Kopf ein. Warum sie bleiben? Sie schweigen erst. „Wir denken seit zwei Jahren darüber nach zu gehen. Wir haben die Schnauze voll.“ Einfach zu lange mit dem Krieg, den Anschlägen gelebt, die erste Intifada mitgemacht, die zweite. Immer wieder gehofft, dass es endlich vorbei ist. Jetzt ist der Sohn 11, in sechs Jahren müsste er zur Armee, für drei Jahre. Vorher, das schwören sie sich, gehen sie. „Aber wir haben hier unser Leben, unsere Familie, unsere Arbeit. Die Sonne, den Strand.“ Zum Abschied pflückt er mir zwei Zitronen vom Baum vor dem Haus.


Abgetaucht

Sonntag, 9. Oktober 2011

Ich bin dann mal wieder weg. Ich habe einen Wagen gemietet und fahre nachher durch die Negev-Wüste ans Rote Meer nach Eilat, um dort eine Woche lang das Tauchen zu lernen, ein alter Traum, der jetzt wieder (räusper) aufgetaucht ist und spontan verwirklicht wird. Auf dem Weg dahin komme ich am Toten Meer vorbei und werde selbstverständlich das obligatorische Foto machen, zeitungslesend im Wasser treibend. Und weil ich wegen Laubhüttenfest und Sabbat zwei Tage tauchfrei habe: Vielleicht nutze ich die Gelegenheit, nach Jordanien hinüberzufahren, nach Petra.

Wie es mit dem Netz da unten aussieht, weiß ich nicht – das sehen wir dann ja. Falls ich also in dieser Woche nichts von mir hören lasse: Keine Sorge, mir passiert schon nichts.

Jom Kippur I

Freitag, 7. Oktober 2011

Gegen drei bin ich endlich aus dem Haus gekommen, ich musste noch was fertigschreiben. Morgen ist Jom Kippur, jetzt besser schnell noch was einkaufen, dachte ich. Und stand dann mit offenem Mund auf einer menschenleeren Straße vor verschlossenen Geschäften. Auf der Straße, denn Autos fuhren zu diesem Zeitpunkt in etwa so viele wie sonst gegen drei Uhr nachts.

Straßen leer, Geschäfte zu, Restaurants geschlossen, selbst der Strand war verlassen – über diesem Freitagnachmittag, dem Vorabend zum höchsten jüdischen Feiertag, lag eine Stimmung wie frischgefallener Schnee. Die Welt ist wie ausgeknipst und in Watte gepackt, so leise. Ich glaube, ich hatte zuletzt 1973, am autofreien Sonntag während der Ölkrise, ein ähnlich entrücktes Gefühl mitten in einer Stadt.

Zu Jom Kippur hält das Land den Atem an. Selbst normalerweise nicht so Strenggläubige fasten für 25 Stunden und trinken nicht mal Wasser, es fahren keine Busse und Bahnen, das israelische Fernsehen stellt seinen Sendebetrieb ein, es ist der Tag der Ruhe und Reue, und er beginnt mit dem heutigen Sonnenuntergang. Weitere Regeln: kein Sex, keine Lederschuhe, weiße Kleidung. Der Tag wird in der Synagoge verbracht, mit einer Unterbrechung am Nachmittag für ein kleines Nickerchen.

Schon am normalen Sabbat befolgen viele das Gebot, am siebten Tag zu ruhen und nicht zu arbeiten. Gar nicht. Das bedeutete unter anderem früher: kein Feuer anzuzünden. Heute: kein Auto zu fahren (der Zündfunke), kein Licht anzumachen, nicht zu kochen. Ob Elektrizität erlaubt ist oder nicht, ob man einen Kühlschrank öffnen oder den Aufzug nehmen darf, also um alle Probleme, die alte Lehre in das moderne Leben zu übersetzen, darum gibt es viele – und viele lustvolle – Debatten. (Hier ein sehr hübscher Artikel über einen Rabbi, dessen Job die Schlupflöcher des Herrn sind.)

Doch wie immer, wenn der offizielle Betrieb ruht, beginnt ein geheimes zweites Leben. Heute, am Vorabend von Jom Kippur, drangen Kinderrufe hoch in meine Wohnung. Irgendwas war auf der Straße los. Ich ging noch einmal hinunter. Und tatsächlich: Die Kinder erobern sich an diesem Abend auf Fahrrädern, Skateboards, Inlineskates die leeren Straßen zurück so wie wir damals die verlassenen Straßen von 1973. (Übrigens dem Jahr des Jom-Kippur-Kriegs, als Ägypten und Syrien die Feiertagsruhe nutzten, um Israel zu überfallen – aber das ist eine andere Geschichte.) Es ist die entspannte, verspielte, übermütige und überhaupt nicht leise, sondern lebensfrohe Variante von Ruhe, wie ich sie so liebe. Ich habe gerade gegoogelt, ob man am Sabbat eigentlich joggen darf, und die Antwort war: solange es ein Vergnügen ist und keine Anstrengung – ja. Eine Auslegung, mit der ich leben kann.

Schnellschüsse

Montag, 3. Oktober 2011

Wie immer sitze ich zu Beginn des Monats vorwiegend am Schreibtisch, um die Geschichten über den vergangenen Monat zu schreiben – es gibt immer ein bisschen Jetlag im Kennenlernen der neuen Stadt. (Das Geräusch, das Sie im Hintergrund hören, ist das Rasseln der Ketten – erst die Hausaufgaben, dann darf ich mit den anderen Kindern spielen.) Deshalb nur kurz ein paar Eindrücke.

Oh Gott, zerschossen, dachte ich, als ich das Haus aus dem Augenwinkel sah. Und merkte beim genaueren Hinsehen, wie sehr ich die Nahost-Bilder aus den Nachrichten im Kopf habe. Hier war nur ein ehrgeiziger Architekt am Werk, der ganz offensichtlich vorher mal in Barcelona gewesen sein muss. Gaudí reibt sich gerade im Grab die Hände.

Die stehen hier überall in den Straßen: mannshohe Drahtkäfige zum Sammeln von Plastikmüll. Nicht elegant, aber sehr wirkungsvoll: Die allgegenwärtigen und bei der Hitze sehr nötigen Wasserflaschen können so direkt entsorgt werden. Praktischer und praktizierter Umweltschutz.

Erstes Mahl (draußen) und erstes Mal (drinnen)

Sonntag, 2. Oktober 2011

Ach, fangen wir doch gleich mit Essen an, warum nicht? Es führt bei mir ja doch kein Weg daran vorbei. Ich wohne nicht weit vom alten Hafen entfernt, der in den letzten Jahren zu einer holzbeplankten Restaurant- und Shoppingmeile umgebaut worden ist. Heute war es hübsch leer, der Sonntag ist hier wie unser Montag, ein normaler Arbeitstag nach dem gestrigen Shabbat. Auf eine Empfehlung hin habe ich Beni HaDayag angesteuert – alias Benny the Fisherman – und arglos eine gegrillte Brasse bestellt. Und bekam dann ein Schälchen, zwei Schälchen, fünf Schälchen, 14 Schälchen mit Vorspeisen hingestellt plus eine Schüssel Salat plus Pita – der Wahnsinn. Gebackene Aubergine (die einzige Art, wie ich Aubergine ertrage, den Fettschwamm unter den Gemüsen), Joghurt mit Dill, scharfe Tomatensauce, Pilzsalat, Kohlsalat, Tabbouleh… es hörte nicht auf. „Sie können von allem gern nachbestellen“, sagte die Bedienung. Ach, Mist. Dabei wollte ich Israel nutzen, um mich wieder in Form zu bringen; ich habe mich gerade für den Hamburger Marathon im April angemeldet – nur für den Fall, dass ich mich nächstes Jahr langweilen sollte. Die Brasse war dann auch ganz vorzüglich: einmal schnell drübergeflämmt, nur mit Zitrone serviert, noch brutzelnd serviert. Genau so, wie man Fisch haben will.

Beni HaDayag, Alter Hafen, Hangar 8

Tel Aviv ist, wenn man’s auf den Punkt bringen will, ein acht Kilometer langer Strand mit Stadt dahinter. Einer der nördlichsten Strände ist gleich auch einer der interessantesten: der orthodoxe Nordau Beach hinter einem Bretterzaun, der tageweise nach Geschlechtern trennt. Sonntags, dienstags und donnerstags können hier die Frauen baden, montags, mittwochs und freitags die Männer, Samstag ist zu. Heute lagen hier Orthodoxe mit verhüllten Haaren, die vollbekleidet schwimmen gingen, neben zwei jüngeren Frauen, die sich oben ohne sonnten – Nordau ist trotz oder wegen der strengen Sitten der einzige Strand in Tel Aviv, wo das möglich ist. Die Atmosphäre: entspannt; wie immer, wenn Frauen unter sich sind. Bisschen wie Damensauna. Bauch raushängen lassen und sich ungestört unterhalten – auch wenn die Bademeister männlich sind.

Nordau Beach, Shlomo Lahat Promenade. Feinster Sand, Duschen und Umkleiden, ein kleiner Fitnessbereich.


Neue Heimat 10

Samstag, 1. Oktober 2011

Ich bin am dritten Tag von Rosh Hashana gelandet, dem Neujahrsfest, das nach dem jüdischen Kalender auf Ende September oder Anfang Oktober fällt (übrigens ist unser „Guter Rutsch“ vermutlich eine Verballhornung von Rosh = Anfang). Schon beim Umsteigen in Wien standen Männer im Gebetsschal am Gate und beteten zum Rollfeld hinaus, in Tel Aviv fuhren wegen des Feiertags keine Busse und Bahnen, die Taxis nehmen 25 Prozent mehr. Dieses Jahr ist der Oktober der Monat mit den meisten jüdischen Feiertagen, einer der Gründe, warum ich ihn mir für Tel Aviv ausgesucht habe.

Die Wohnung liegt am nördlichen Ende der Ben Yehuda Street, 200 Meter vom Strand entfernt. Meine Vermieterin: Gabrielle, Tochter einer US-Amerikanerin und eines Brasilianers, in Hongkong geboren, in den Philippinen aufgewachsen, hat in London studiert – ein weiteres Weltenkind.

Das erste Mahl im neuen Heim: gekräutertes Hummus mit Kreuzkümmel-Crackern, Obstsalat aus Mango, Kaki und weißem Pfirsich, Grapefruitsaft. Auf einen frohen neuen Monat!