Der arme Mann in der Touristeninformation von Bodega Bay seufzt und reicht die Karte rüber. „Die Szene mit den fliehenden Kindern und dem Schulhaus wurde in Bodega gedreht, nicht in Bodega Bay. In Bodega Bay dafür die Szenen, in denen Tippi Hedren mit dem Wagen in die Stadt fährt, und der Brand auf der Tankstelle, gleich gegenüber bei The Tides.“ Die Rede ist natürlich von „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock, der das Städtchen berühmt gemacht hat und jeden Tag Hunderte von Touristen nach dem Schulhaus suchen lässt. Vermutlich ist hier schon jede Möwe fotografiert worden, stets mit leichtem Gruseln. Die Armen – was man denen alles unterstellt!
Das alte Schulhaus ist heute Privatbesitz, wie ein leicht genervter Teenager unmissverständlich klar machte. Muss nicht schön sein, ständig besichtigt zu werden.
Unerwartet idyllisch wurde es dann ein paar Meilen nördlich, im kleinen Nest Jenner. Das Café Aquatica liegt direkt an der Mündung des Russian River in den Pazifik, es serviert fabelhafte Crab Sandwiches und von der Holzterrasse aus einen Hammerblick auf den Fluss.
Also – was macht man an einem Tag, an dem man alles machen kann, wenn er in einem Jahr liegt, in dem man alles machen kann? (Und, wenn man mal darüber nachdenkt: in einem Leben, in dem man alles machen kann.) Weil mein Geburtstag auf einen Sonntag fiel, wollte ich ihn klassisch beginnen lassen: in der Kirche. Allerdings in einer nicht so klassischen Kirche: der St. John Coltrane African Orthodox Church in der Fillmore Street (danke, Hollow, altes Haus, für den Tipp), die den großen Jazzsaxophonisten John Coltrane als Heiligen verehren. Der sonntägliche Gottesdienst – ich durfte nicht fotografieren, aber die New York Times war 2007 mal da und hat Bilder gemacht – ist deshalb auch mehr Jam Session als tonloses Gebetsgemurmel. Die Gemeinde bekommt Tambourine und Rasseln in die Hand gedrückt, der Mann neben mir packt seine Posaune aus, und vorn neben der Kanzel spielen die Ministers of Sound: Archbishop Franzo King in seiner schönen lila Soutane am Tenorsaxofon, Reverend Wanika King Stephens, die Pastorin, am Bass, Brother Frederick Harris am Schlagzeug und Mother Marina King and the Sisters of Compassion singen, andere Mitspieler kommen und gehen. „This is not entertainment“, sagt die Pastorin zu Beginn, und in der Tat, es ist einer der innigsten Gottesdienste, die ich je erlebt habe, inklusive einer tränentreibend schönen zwanzigminütigen Version von Coltranes tiefspirituellem „A Love Supreme“, so ekstatisch wie das Original. Jazz kriecht immer wieder in die zweistündige Veranstaltung hinein. Während der Predigt, in der es um die geistliche Erneuerung geht und die Notwendigkeit, jeden Tag ein wenig zu sterben, um das alte Leben abzulegen, improvisiert der Pianist ein bisschen auf Coltranes Klassiker „Everytime we say goodbye“ herum, und die Jazz-Liebhaber im Publikum grinsen. Denn das Lied geht so weiter, wie Ella hier singt: „Everytime we say goodbye I die a little“.
Die Seele war also gut genährt, jetzt ist der Leib dran. Ich hatte einen Tisch im Sutro’s reserviert, einem Restaurant im alten Cliff House am Ocean Beach. Die Sutro Baths, 1896 eingeweiht und 1966 nach einem Brand geschlossen, waren mal das größte Schwimmbad der Welt, mit einem Süßwasser- und sechs Salzwasserpools (mit unterschiedlichen Temperaturen). Das Bad war damals eine technische Sensation, darüber gibt es sogar noch einen reizenden alten Filmschnipsel, den Thomas Alva Edison persönlich gedreht hat. Heute: eine Ruine, nur das Cliff House steht noch, wenngleich in seiner X-ten Reinkarnation.
Wie immer: ein Logenplatz für die Alleinesserin, direkt am Fenster zum Ozean. Und weil ich meinen Tischnachbarn gegenüber erwähne, dass ich Geburtstag habe, bringt der Kellner, der gut zugehört hat, am Ende ein Butterscotch Pot de Crème mit einer Kerze. Mir wird nichts mangeln.
Plus dieser Blick, zum Besoffenwerden.
Bis hierhin also schon mal ganz gut. Aber jetzt. Was ich bislang noch nicht geschafft habe, wird heute unvermeidlich: Um nach Sonoma zu kommen, ins wine country, muss ich über die Brücke. Die Brücke.
Es war mindestens ein solcher Halleluja-Moment wie am Morgen in der Kirche. Es ist bestimmt keine gute Idee, mit Tränen in den Augen und dazu durch die Windschutzscheibe fotografierend über die Golden Gate Bridge zu fahren, aber St. John Coltrane oder sonstwer war bei mir. Woran liegt es nur, dass mich Bauwerke so rühren? Ist es die Arbeit, die Tapferkeit, der Wahnsinn, die Beharrlichkeit, die immer darin stecken? Ich erinnere mich an eine Geschichte, die uns beim Besteigen der Harbour Bridge in Sydney erzählt wurde (mein Gott, vor einem halben Jahr…): wie die Arbeiter, auf schmalen Streben hoch über dem Wasser balancierend, die glühenden Niete, die ihnen über mehrere Meter Entfernung zugeworfen wurden, mit einem Eimer auffingen. Sechs Millionen Niete. Unvorstellbar, diese Arbeit. Von der Golden Gate Bridge gibt es die schöne Story, dass der letzte Niet aus puren Gold war und unter gewaltigem Presserummel eingeschlagen wurde. Nur hielt er, da Gold sehr weich ist, die starke Erhitzung nicht aus, löste sich und fiel ins Wasser. Und ward nie mehr gefunden.
Weiter, nach Sonoma. Sonoma gilt als das unschickere, unangestrengtere der beiden Weintäler nördlich von San Francisco. Also das richtige für mich. Die Fahrt dorthin: zu meiner Lieblingstageszeit, dem späten Nachmittag. In diesem faulen goldenen (nietenfarbenen) Licht, das sagt: Jetzt ist der Tag schon fast vorbei, jetzt kannst du langsam loslassen. Aber genieß dennoch die Wärme, jede Minute davon (Doktor Freud, jetzt Sie mal wieder…). Meine Reservierung im Gaige House Inn war durchs System gerutscht, trotzdem hatten sie ein Zimmer für mich. Ein großes, schönes, trotzdem billiges. „Why don’t we give her the king room?“ Yeah, why don’t you.
Glen Ellen ist der wahrscheinlich verschlafenste Ort im Sonoma Valley. Deshalb stehen Körbe mit Taschenlampen bereit für diejenigen, die abends zum Essen hinausgehen. Denn Straßenbeleuchtung: Pustekuchen. Wenn man zurückkehrt, steht dafür eine Schale mit noch warmen, frischgebackenen Keksen im Gaige House bereit. Geradezu leuchtend.
Gaige House, 13540 Arnold Drive, Glen Ellen, CA 95442
Aber vorher: ein weiterer der vielen Zufälle dieser Reise, die ich inzwischen für fast selbstverständlich halte. Die nette Rezeptionistin empfiehlt zum Abendessen das benachbarte Fig Café. Ich ziehe also mit meiner Taschenlampe los, lasse mich gern an die Bar setzen, bestelle und gucke mich um. Neben mir: eine Frau, die ebenfalls allein isst. Natürlich reden wir. Stellt sich heraus: Birgitta aus Hannover, wohnt seit 16 Jahren in San Francisco, arbeitet bei IBM, pingpongt als Softwareentwicklerin durchs ganze Land. Und. Hat. Heute. Auch. Geburtstag. Also bitte! Ich lache nur. Wie gesagt: MIr sind in diesem Jahr schon so viele Wunder begegnet, dass ich fast schon mit ihnen rechne.
Ein guter Tag, ja? Ein perfekter Tag, würde ich sagen. Halb geplant, halb eben gerade nicht. Und wieder mal sind die ungeplanten Momente so unendlich viel gelungener.
Und deshalb, weil dies so ein Jazztag war, das Motto des Tages, gespielt von Miles Davis und John Coltrane: So what. Coltrane steigt mit seinem Solo bei Minute 2:00 ein. Und circa 30 Sekunden später sieht man Miles Davis eine Zigarette rauchen, wohl wissend, dass es etwas dauern könnte.
Ein kleiner Exkurs zum Thema Allein essen. Für viele ist es ein Horror: allein in ein Restaurant gehen, allein am Tisch sitzen, auf das Essen warten, niemanden zum Reden haben – grässlich. Dann lieber eine Tüte Chips auf dem Beifahrersitz, eine Cola von der Tanke, Käse und Brot im Hotelzimmer. Mir ging es auch lange so, aber wenn ich eines auf dieser Reise gelernt habe, dann: allein zu essen. Natürlich gehe ich immer lieber mit jemandem aus, aber oft ergibt es sich halt nicht, und der Magen knurrt trotzdem. Je nach Tagesform gehe ich dann entweder in Läden, die für Alleinesser wie geschaffen sind, Oyster Bars, Sushirestaurants und Läden wie Le Pain Quotidien mit ihren Community Tables oder in klassische Restaurants mit Zweier- und Vierertischen – nur um festzustellen, dass an den meisten Zweiertischen nicht viel mehr geredet wird als an meinem eigenen Tisch.
Die besten Esserlebnisse habe ich verlässlich dann, wenn ich gar nicht vorgehabt hatte zu essen. Heute zum Beispiel fuhr ich den Highway 1 von Carmel nach Big Sur, eigentlich nur, um die Landschaft anzugucken und NPR zu hören, einen der besten Radiosender der Welt. Talk of the Nation, Fresh Air mit Terry Gross,All Things Considered – ich bleibe manchmal, und das passiert mir in Deutschland eher selten, im Auto sitzen, um eine Sendung fertig zu hören. Kurz hinter Big Sur wies ein unscheinbares Schild zur Post Ranch Inn, an dem ich zuerst vorbei fuhr, schon weil ich gar nicht danach geschaut hatte. Aber irgendwas klingelte. Post Ranch Inn: war das nicht irgendein dolles Hotel oder so was? Also zurück, den Berg hoch. Eine Frau in einem Wachhäuschen: Wohin ich denn wolle? Na, einfach mal gucken, sagte ich. Es gebe aber gar nichts zu sehen, sagte sie milde, offenbar gewohnt, Leute abzuwimmeln. Ich würde gern ins Restaurant, was Kleines essen, sagte ich (ein Restaurant werden sie ja wohl haben). Sie winkte mich durch, ich fuhr weiter den Berg hoch, ließ mir von der Rezeption den Weg über einige geplankte Wege und Holztreppen zum Restaurant zeigen – und wurde an diesen Tisch gebracht.
Oh. Mein. Gott. Ich wollte eigentlich wirklich nichts essen, denn um 15 Uhr hatte ich mich zum Afternoon Tea im Cypress Inn angemeldet, aber wie, bitte, kann man hier nichts essen? Nur was Kleines. Roher Ahi Tuna in Sesam-Kruste mit Wasabi-Soja-Emulsion, dazu ein kleiner Salat mit Kresse, Koriander und knusprigen Wontonstreifen, ein Glas Vouvray dazu, passt schon. Und wieder mal die Erfahrung: Als Alleinesser wird man hier ungewöhnlich gut behandelt. Kein Katzentisch, sondern die Loge. Mein Kellner schenkt das Weinglas besonders voll („Die Flasche ist sowieso fast leer“) und stellt mir hinterher einen Teller mit Petit Fours hin, obwohl ich weder Kaffee noch Dessert wollte. Himmlisch. Ich habe mich keine Minute gelangweilt, und das ohne Buch.
Post Ranch Inn, 47900 Highway 1, Big Sur, CA 93920. Hier gibt es weitere Fotos zu sehen.
Dann schnell nach Hause, zu Doris. Doris’ Signature Tea. Reservations recommended. Husbands and pets welcome, stand auf der Karte. Und diese Mahlzeit war genau so bezaubernd. Ein Teetablett mit Gurken- und Lachssandwiches, scones und Früchtekuchen, das Geplauder von älteren Herrschaften mit Dackeln und Pudeln auf dem Schoß: „Wir haben so viele Eichhörnchen dieses Jahr, ihr auch?” Just lovely.
Und niemand, niemand hat mich von dem Vergnügen abgelenkt, diese beiden so unterschiedlichen Alleinesserfahrungen mit allen Sinnen zu genießen.
Seit Hawaii und Doris Duke habe ich eine Schwäche für meschuggene Erbinnen, und hier kommt die nächste: Von fast überall in Russian Hill kann man auf den Coit Tower im benachbarten Telegraph Hill gucken. Zu verdanken hat die Stadt ihn Lillie Hitchcock Coit, die 1851 als Siebenjährige mit ihren reichen Eltern nach San Francisco zog und dort eine obsessive Liebe zur Feuerwehr entwickelte, speziell zur Freiwilligen Feuerwehrmannschaft Knickerbocker Engine Company Number 5, die sie mal aus einem Hotelbrand gerettet hatte. Wann immer fortan ein Feuer ausbrach, war sie als Maskottchen mit dabei und feuerte ihre Mannschaft an. Angeblich hat sie sich sogar die Nummer 5 auf ihre Unterhosen sticken lassen.
Lillie muss ein ziemlich flamboyantes Leben geführt haben. Sie war zeitweise mit zwei Männern gleichzeitig verlobt, wechselte ständig ihren Verlobungsring und heiratete dann gegen den Willen ihrer Eltern einen davon, Howard Coit. Als sie einmal gern einen Boxkampf sehen wollte, zu dem Frauen damals noch nicht zugelassen waren, ließ sie einen Preiskampf in einem Hotelzimmer ausrichten und schaute ihn von einem Tisch herab an. „Bis zum K.O.!“ verlangte sie. Sie trieb sich, als Mann verkleidet, in Spielhöllen herum, rauchte Zigarre und floh schließlich, als ein Verwandter versuchte, sie zu erschießen (sie hatte sich geweigert, ihm ihre Finanzverwaltung zu übertragen), und dabei einen Unschuldigen tötete, nach Paris, wo sie am Hof von Napoleon III. lebte. 1923 kehrte sie nach San Francisco zurück, wo sie 1929 mit 88 starb. Der Coit Tower wurde mithilfe von 100.000 Dollar gebaut, die sie der Stadt vermachte. Bis heute heißt es in der Stadt, er sehe aus wie eine Feuerwehrspritze, aber der Architekt hat die Inspiration immer bestritten.
Rund um den Coit Tower liegt einer der schönsten Stadtteile von San Francisco, Telegraph Hill. Hier leben wilde Papageien in den steilen Gärten (darüber gibt es auch einen Dokumentarfilm), die Häuser erreicht man nur über steile Treppen, einige über geplankte Holzwege. Es ist völlig verwunschen hier oben, ein Ort, der meilenweit von allem entfernt zu sein scheint und doch mitten in der Stadt liegt. In der Napier Lane 15 steht übrigens ein kleines Cottage zum Verkauf, genau die richtige Größe, mit Blick auf die Bay. Sonntag habe ich Geburtstag, falls also noch jemand…
Als ich unten wieder auf dem Boden angekommen war, fuhr gerade ein Feuerwehrauto am Sentinel Building in der Columbus Avenue vorbei, dem Sitz der Filmproduktionsfirma von Francis Ford Coppola. Ich empfand das als Aufforderung von Lillie Coit, vor dem schönen Café Zoetrope auf der Stelle eine Pizza zu essen und zwei Glas Malbec zu trinken. Ich habe gelernt, auf die Signale zu hören.
Überhaupt: Vielleicht entwickelt man beim Reisen eine besondere Aufmerksamkeit für die geheimen Fäden, die zwischen den Orten gesponnen sind, aber wenn mir Leitmotive wie Feuerwehr (neulich in Hawaii, letzte Woche hier in SF) oder Francis Ford Coppola hartnäckig immer wieder begegnen, dann beglückt mich das auf ganz seltsame Weise. Ich habe neulich ja schon mal vom Reisenden als Zusammenhangmaschine geschrieben, und das wird immer wahrer, je länger es dauert.
Café Zoetrope, 916 Kearny Street, Mo-Fr 11-22 Uhr, Sa 12-22 Uhr, So 12-21 Uhr.
Das Schöne am Alleinreisen ist ja, dass man seinen Obsessionen völlig ungehindert folgen kann. Nach Magnum gestern heute also: Ananas. Ich habe hier praktisch jeden Tag eine gegessen, Gegenwehr wäre auch sinnlos gewesen bei Stücker 50 Cent und diesem überwältigenden Duft. Auf Oahu befindet sich die historische Dole Plantation, die heute in klassisch amerikanischer Tradition ein Vergnügungspark mit Huschebahn und Riesenshop ist.
Was für eine Heidenarbeit Anbau und Verarbeitung dieser Stachelbiester ist, wird erst hier klar: Ananas werden von Hand gesetzt und geerntet, bis zur ersten Frucht dauert es 20 Monate. In fünf Jahren gibt es nur drei Ernten, und die finden in Schutzkleidung statt, die eher einer Rüstung gleicht. Obwohl die Ananas ursprünglich gar nicht auf Hawaii heimisch war, wurde sie durch die Plantagen und die damals weltgrößte Konservenfabrik von James Dole zu einem Exportschlager: Einst kamen 75 Prozent der Weltproduktion aus Hawaii.
Kleiner Ananas-Grundkurs: Die Reife erkennt man nicht an der Farbe, sondern am Duft. Wenn sich aus dem Inneren der Krone leicht ein Blatt zupfen lässt: kaufen! Ananas reift kaum nach, es lohnt sich also nicht, eine unreife zu kaufen und liegen zu lassen. Auf der Dole-Plantage werden die reichlich verteilten Probierstücke übrigens mit Li Hing Powder bestreut, einer für mich sensationellen Entdeckung: Extrakt von salzig eingelegten Pflaumen und Lakritz, süß-salzig-sauer und einfach suchtbildend.
Den Wecker auf 6 Uhr gestellt. Um 6.30 Uhr allen Ernstes aufgestanden. Um 7 Uhr losgefahren. Um 7.15 Uhr losgegangen. Um 8 Uhr auf dem Gipfel des Diamond Head gestanden. Mich um 8.02 Uhr gefragt, warum ich drei Wochen gebraucht habe, um mich endlich dazu aufzuraffen.
Der Diamond Head, das Wahrzeichen von Honolulu, ist ein Vulkankrater direkt neben Waikiki, ich sehe ihn von meinem Balkon aus. Auf hawaiianisch heißt er Le’ahi, die Braue des Tunfisches. (Was merkwürdig ist, da der Tunfisch einer der wenigen heimischen Fische ohne jegliche Brauen ist, im Gegensatz zum Mahi-mahi oder zum parrotfish. Aber okay, ich werde mich nicht mit Hawaiianern streiten.) Den Aufstieg schafft man in gut 30 Minuten, oben wird man mit einer anständigen steifen Brise belohnt (als Norddeutsche stehe ich auf so was) und einem ebenso umwerfenden Blick über Waikiki und Weialae.
9 Uhr, zweite Station: der Wochenmarkt gleich am Fuß des Diamond Head. Man hatte mir vorher geraten, unbedingt ungefrühstückt dorthin zu gehen. Ein guter Rat, denn: frischer Ananassaft, dazu Leinsamen-Karotten-Ananas-Hafer-Muffins, gefolgt von einem Ingwer-Minz-Serranochili-Limonen-Drink, dann zwei gegrillte Abalonen (für die ich in China das Zehnfache gezahlt hätte… okay: habe) – und das war nur der erste Gang. Man möchte auf Knien über diese Markt robben, denn erst hier wird einem klar, was für ein gesegnetes Land Hawaii ist: frische Shrimps aus Kauai, Kaffee aus Kona, Muskatnüsse (unten rechts) und Vanilleschoten aus Paauilo, fünf Jahre in der Wabe gereifter Honig von Wildbienen, Hawaiian Red Veal (Fleisch von Kälbern, die schon ein bisschen auf die Wiese durften), die ersten heimischen Mango und natürlich Ananas und Papaya bis zum Abwinken. Jetzt noch eine frische junge Kokosnuss zum Dessert und vielleicht noch selbstgebackenen Pecan Crunch? Ein Ono Pop-Eis in der Geschmacksrichtung Surinamkirsche-Nelke oder Orange-Zimt oder Kalamansi-Koriander oder Feige-Feta-Honig oder… bringt mir hier raus.
Saturday Farmer’s Market, Kapiolani Community College, 4303 Diamond Head Road, Honolulu. Jeden Samstag von 7.30 Uhr bis 11 Uhr
In Honolulu steht der einzige Königspalast der USA. (Herr Jauch, das wär‘ was für 125.000.) Der Iolani Palace – von einer Größe, die in Europa gerade mal für einen unteren Grafen gereicht hätte – wurde 1879 vom letzten König Kalakaua gebaut. Zu diesem Zeitpunkt regierte er nur noch über 39.000 Untertanen. Als Captain Cook die Inseln gut 100 Jahre zuvor „entdeckt“ hatte (sie waren ja schon immer da), lebten auf Hawaii zwischen 400.000 und einer Million Menschen. Die Engländer und nach ihnen die Amerikaner schleppten Masern, Grippe, Geschlechtskrankheiten ein und damit das Todesurteil für die Inselbewohner. Selbst gegen einfache Erkältungen hatten sie keine Abwehrkräfte, sie starben zu Tausenden.
Kalakaua, the merrie monarch, muss ein sehr aufgeschlossener, unternehmungslustiger König gewesen sein. Als erster Herrscher der Welt segelte er einmal um die Erde. In New York besuchte er Thomas Alva Edison und ließ als einer der ersten seinen Palast mit Telefon und Glühbirnen ausstatten. (Sehr nützlich, denn so konnte er den Haushofmeister im Keller anrufen, der das Licht im ganzen Palast zentral an- und ausschaltete. Lichtschalter gab es nicht in den Räumen.) Als er 1891 starb – ironischerweise im Palace Hotel, San Francisco –, beerbte ihn seine Schwester Lili’uokalani, die letzte Regentin Hawaiis. 1893 wurde sie von einer Vereinigung amerikanischer Zuckerplantagenbesitzer abgesetzt, 1895 wurde die Republik Hawaii ausgerufen, 1898 wurde sie von den USA annektiert. Königin Lili’uokalani wurde im Palast eingekerkert und verlegte sich aufs Handarbeiten und Komponieren. Beides sehr erfolgreich: Sie schrieb unter anderem den Welthit Aloha Oe. 1993 unterschrieb der damalige US-Präsident Bill Clinton eine Resolution, in der sich Senat und Abgeordnetenhaus 100 Jahre nach dem Putsch offiziell für die amerikanische Beteiligung an dem Staatsstreich entschuldigten.
Der Palast wirkt auf herzzerreißende Weise wie gerupft. Möbel und Ausstattung sind in alle Winde verstreut, auf irgendwelchen Auktionen versteigert worden. Hin und wieder taucht noch mal ein Stück des Original-Interieurs auf – in Australien, in Iowa, neulich wurde sogar ein alter Sessel an der Küste angeschwemmt –, es wird weltweit danach gefahndet.
Iolani Palace, 364 South King Street, Honolulu. Führungen Di und Do viertelstündlich 9 bis 10 Uhr, Mi, Fr und Sa 9 bis 11.15 Uhr
Ein Kapitel in der traurigen Geschichte des hawaiianischen Königshauses spielt an meinem nächsten Ziel und vorläufigen Lieblingsort der Insel, Queen Emma’s Summer Palace. Klingt formidabel, aber ich bin zweimal daran vorbeigefahren, bis ich dann doch die enge Aufffahrt gefunden habe, die zu einem wundersamen kleinen Häuschen führt:
Auf dem Parkplatz standen gerade mal vier Autos, eine freundliche ältere Dame machte gleichzeitig Kasse und Führung. Königin Emma – Emma Kalanikaumakaamano Kaleleonālani Naʻea Rooke, soviel Zeit muss sein –, die Ehefrau von König Kamehameha IV., zog sich hierher nach dem Tod ihres Sohnes und ihres Mannes zurück. Sie legte sogar ihr Schlafzimmer näher an das Küchengebäude heran, um sich nicht so allein zu fühlen. In den Schaukästen, an den Wänden dieses von milden Lüften durchwehten Hauses: europäisches Silberbesteck, Federschmuck der hawaiianischen Häuptlinge – und Zeichnungen des mit vier Jahren gestorbenen Prinzen Albert, der lieber Feuerwehrmann als König werden wollte. Ein Foto zeigt ihn in der roten Uniform der Feuerwehr von Honolulu. Es bricht einem das Herz.
Wie immer war das Fotografieren der Innenräume leider verboten, aber hier kann man einige Bilder sehen: Queen Emma’s Summer Palace, 2931 Pali Highway, täglich von 9 bis 16 Uhr geöffnet.
Weiter: den Pali Highway hinaus zum Pali Lookout. Landschaft angeguckt. Luft angehalten.
Dann: die Schnapsidee gehabt, mir Piraten der Karibik IV anzugucken. Dabei habe ich schon Teil II und III gehasst. (Irgendein Rezensent schrieb so richtig: Man fand’s mal besser, als man dachte, dass Captain Jack Sparrow schwul sei.) Teil IV ist hier auf Oahu gedreht worden, es war also… Recherche. Bin bei circa Minute 27 eingeschlafen und bei Minute 78 wieder aufgewacht. Der Film dauerte dann leider noch bis Minute 141. Aber Hawaii sah hübsch aus.
Danach: nach Hause gefahren. Vor dem Haus ein paar Frangipani-Blüten aufgelesen. Das Zeug liegt hier einfach so auf der Straße, das fällt von den Bäumen. Es ist so unfassbar ungerecht.
Dann habe ich mich endlich wieder hingelegt. Es war kurz nach 16 Uhr. Perfect day.
Es bleibt eines der ewigen Rätsel der Menschheit: War es Trader Vic, der den legendärenMai Tai in San Francisco erfunden hat? War es Don the Beachcomber? War es ein namenloser Barkeeper des Royal Hawaiian Hotel in Waikiki? Um diese Frage kreisen erbitterte Debatten und sogar diverse Gerichtsprozesse. Letztlich egal, denn es geht um die Frage: Wer macht den besten Mai Tai? Einem guten Reporter bleibt da nichts anderes als: losziehen und selber trinken.
Exponat 1: Scratch Mai Tai in der Mai Tai Bar des Royal Hawaiian, der schweinchenrosa gestrichenen Königinmutter unter den hiesigen Hotels. Nicht geschüttelt, sondern in Schichten serviert wie ein Tequila Sunrise. Geschmack: geht so. Alkoholgehalt: sehr befriedigend. Präsentation: Schirmchen, Ananas-Viertel, rosa Cocktail-Serviette. Ambiente: unschlagbar – direkt am Strand von Waikiki. Dazu serviert: Fischli-Knabbergebäck (gibt es das in Deutschland eigentlich noch?), sehr charmant. Ohne Kreuzproben würde ich sagen: 2 minus. Aber es hat ja gerade erst begonnen.
Warnung: Dieser Beitrag ist nichts für Empfindliche, Magenkranke und Raupenfreunde. Wollte ich nur gesagt haben.
„Die Libellen musst du gut kauen, die Flügel können sonst beim Runterschlucken stecken bleiben“, sagte Kyle. Ein guter Rat, aber im Notfall hätten wir die Libellen mit Erdinger Weißer heruntergespült.
Mit Jamie und Kyle war ich schon einmal auf Foodtour unterwegs, dieser Abend aber sollte etwas… herausfordernder werden. Die Weird Meat Tour führt in Hinterhofrestaurants und auf Nachtmärkte, auf der Suche nach Dingen, die man nicht so oft auf den Teller bekommt. Es begann im Southern Barbarian mit fritierten Honigbienen (obere Reihe), serviert mit Dörrfleisch und Malzfritten, dann Wasserwanzenlarven, Libellen und Bambuswürmer (Mitte links, rechts noch mal die Libellen größer). Es klingt alles schrecklich nach Dschungelcamp, schmeckt aber verblüffend lecker. Knusprig, wie Kartoffelchips oder Popcorn. Halt wie etwas, was man gedankenlos vor dem Fernseher isst, nicht weiter der Aufregung wert. Fast noch verblüffender: die Auswahl an europäischem Bier, eine Leidenschaft des Wirts. Aus Deutschland war außer Erdinger – im Original Weißbier-Glas, vom Kellner fachmännisch eingeschenkt – auch Einbecker Doppelbock dabei.
Zweite Station: Bi Feng Tang, ein kantonesisches Kettenrestaurant, das 24 Stunden geöffnet hat. Hier: Taube (mit Kopf serviert) und Entenzungen (unten). Taube kannte ich schon. An chinesischen Täubchen ist allerdings kaum Fleisch dran, sie taugen eher als Zahnstocher. Entenzungen hingegen: interessant. Die Zungenspitze lässt sich gut abbeißen – Konsistenz: in etwa wie roher Schinken –, dann arbeitet man sich um das Zungenbein herum, wieder eine elende Zuzelarbeit. Aber ich hatte ja schon genügend Bienen im Magen, der erste Hunger war gestillt.
Weiter: Li Jian Jun. Große Heiterkeit beim Lesen der Karte. Old dopted mother eleusine? Tile fish homesickness? Acid cowpea flashy foam? Nicht mal die Bilder können einem hier sehr weiterhelfen. Wir bestellten Stir fatty intestine: gebratener Schweinedarm mit unglaublich viel Chili. Auch das nicht so eklig wie es klingt. Aber auch nichts, was ich beim nächsten Mal wieder bestellen würde. Stattdessen lieber noch mal die Lotuswurzeln.
Zum Schluss: Nachtmarkt. Gebratener stinky tofu mit süßer Sauce: nicht so stinky, wie sein Name androht, eher wie reifer europäischer Käse. Danach konnten wir nicht mehr und haben uns geärgert: Flusskrebse, Austern, riesige, frisch geöffnete Jakobsmuscheln…
Alles mindestens einmal probiert und dabei festgestellt: Alles ist essbar, vieles sogar genießbar. Die Shanghaierin Shirley, die dabei war, winkte aber trotzdem bei dem meisten ab.
Ach so, und: kein Hund, es ist nicht die richtige Jahreszeit. Hund isst man im Winter.
Southern Barbarian, 2/F, Ju’Roshine Life Arts Space, 169 Jinxian Lu, in der Nähe der Maoming Nan Lu Bi Feng Tang, 175 Changle Lu, Nähe Maoming Nan Lu
Nachtrag 27. April: Das fand ich heute im Supermarkt. iDuck Series? Fantastisch.
Abwarten ist nicht nötig, um in China Tee zu trinken. Die hiesige Methode der Zubereitung ist nämlich deutlich fixer als die anderer Teenationen. Zunächst: Das Foto oben links täuscht. Das Tässlein vorn rechts hat etwa den Durchmesser von zum Kreis geschlossenem Daumen und Zeigefinger. Machen Sie das gerade? Gut. Das Kännchen entsprechend: Puppenstubenformat. Die linke, höhere Tasse ist ein Riechtässchen, es wird beim Servieren des ersten Aufgusses in die Trinktasse gestülpt und einem dann zum Schnuppern des Aromas unter die Nase gehalten.
Die Zubereitung funktioniert folgendermaßen: Das Tonkännchen wird mit großzügigen sieben Gramm Teeblättern gefüllt, in diesem Fall einem Oolong Tienguanyin. 100 Milliliter kochendes Wasser (es ist Oolong! Bei grünem Tee 75 Grad) werden darüber gegossen, der Tee zieht 30 Sekunden und wird dann in den kleinen Glaskrug abgeseiht. Das Ganze kann man bis zu zehnmal wiederholen. Und so war es auch heute im Song Fang Maison de Thé: Immer wenn der Krug leer war, trat die reizende Dame rechts mit einer Kanne heißen Wassers an den Tisch und goss erneut auf.
Das Song Fang ist eher ungewöhnlich für Shanghaier Teehäuser, es wird betrieben von einer Französin mit Sinn für Design – es gibt ein eigenes Geschirr mit hübschem Retro-Logo – und ohne Scheu vor steilen Preisen, besonders im Shop; das Café ist bezahlbar. Es existieren inzwischen drei Filialen, die in der French Concession ist aber die netteste. Unten gibt es den Teeladen, in den oberen zwei Etagen sitzt man unter Vogelkäfigleuchten auf rotgeblümten Polstern.
So wie die Schlussszene eines meiner ewigen Lieblingsfilme, „Es war einmal in Amerika“, habe ich mir immer Shanghai vorgestellt: eine Stadt wie eine Opiumhöhle, dunkel, verboten, ein Ort des Vergessens. Bestimmt kein Zufall, dass meine Lieblingsorte alle in dieses somnambule Muster passen, obwohl die Stadt selbst so gleißend, so rasend ist. In meinem Massagesalon Dragonfly herrscht permanentes Halbdunkel, man verständigt sich flüsternd; im Raum für die Fußmassagen stehen sechs Liegesessel nebeneinander, oft müssen die Kunden geweckt werden, damit der nächste drankommen kann. Eine moderne Opiumhöhle, aus der ich jedes Mal wie betäubt taumele.
Das Mansion Hotel war in den Dreißigern die Villa von Sun Tingsun, einem Geschäftspartner von Huang Jingrong und Du Yueshang, den beiden mächtigsten Shanghaier Gangstern jener Jahre. Du war der Al Capone von Shanghai, der mächtige Boss der „Grünen Bande“ (einer Privatarmee aus 20.000 Leuten) und beherrschte mithilfe von korrupten Beamten und Huang, dem Polizeichef der French Concession, praktisch die ganze Stadt. Im heutigen Mansion Hotel war die… nennen wir es: Geschäftszentrale eingerichtet. Heute einer der besten Orte für einen Tee in einem fast musealen Dreißiger-Jahre-Ambiente.
Mansion Hotel, Xingle Lu 82
1910 wurde am Bund der Shanghai Club gegründet, ein britischer Privatclub. Dessen Schmuckstück: die Long Bar aus Mahagoni, die mit 34 Metern zur damaligen Zeit längste Bar der Welt. Noel Coward sagte, man könne an ihr die Erdkrümmung erkennen. Man konnte sich nicht einfach irgendwohin setzen, die Plätze wurden nach Status vergeben. Je höher in der Hackordnung, desto näher am Ostende der Bar, mit dem besten Blick auf den Huangpo. Die Bar, die in den Neunzigern einem Kentucky Fried Chicken weichen musste, wurde letztes Jahr rekonstruiert und Teil des Waldorf Astoria, das im Gebäude des alten Shanghai Club eröffnet wurde. Klar haben wir uns ans Ostende gesetzt – aber ein paar Plätze vom äußersten Rand entfernt. Man muss immer Platz für Weiterentwicklungen lassen.
Long Bar, The Waldorf Astoria, The Bund, Zhong Shan Dong Yi Lu 2