Zufälle

Wir kannten uns natürlich vom Namen, wir haben gemeinsame Freunde, wir sind uns aber noch nie über den Weg gelaufen. In München hätte es sich wahrscheinlich nie ergeben, dass wir uns zum Essen treffen, hier in Shanghai war es fast selbstverständlich. Ilana Lewitan und Amelie Fried sind für eine Woche in der Stadt anlässlich einer Einzelausstellung von Ilana; Amelie liest bei der Vernissage. Wir hatten einen puppenlustigen Abend, an dem es unter anderem um Fernsehen, Reisen, Vorurteile, Au-pairs und glückliche Zufälle ging. Meine Lieblingsgeschichte erzählte Ilana: wie sie sich Ende der Achtziger – damals arbeitete sie noch als Architektin – mit ihrer Mappe bei einigen New Yorker Architekturbüros vorstellte und kopfschüttelnd abgewiesen wurde – ihre Maßangaben waren metrisch, nicht in feet. „Aber gehen Sie mal einen Stock höher und probieren es da, Richard misst in Metern.“ Richard war Richard Meier, der Richard Meier. Der guckte sich ihre Mappe an und stellte sie ein, Ilana arbeitete vier Jahre bei ihm. So muss es gehen.

Für alle, die sich nie aufraffen können

Wie schön

Die Chinesen kopieren einfach nur alles? Pah! Zumindest in der Kosmetikabteilung finden sich Maschinchen, die man auf dem deutschen Markt bislang vermisst. Von links nach rechts: Tränensackvibrator, Nasenverschmälerer, Gesichtshaarrupfer, Hamsterbackenroller, Faceliftbandage. Ich zaudere noch.

Frühstück to go

Ich sollte vorausschicken: ich bin kein großer Frühstücker. Es gibt Leute, die fallen tot um, wenn sie morgens nicht sofort was zu essen kriegen, bei mir hingegen besteht Frühstück in der Regel aus einer Kanne Tee und einer WLAN-Verbindung. Trotzdem bin ich heute um 8 Uhr aufgestanden, um drei Stunden lang durch die Straßen zu laufen und dabei folgendes zu essen (in dieser Reihenfolge): jian bing (Pfannkuchen), jidan bing (Crepe mit Ei, Frühlingszwiebeln, scharfer Sauce, Hoisin-Sauce), jiang bing (Beijing-Pizza), guo tie (potstickers – angebratene, mit Schweinefleisch gefüllte Teigtaschen), cong you ban mian (Nudeln mit Frühlingszwiebelöl), qing jiao gansi (Paprika mit festem Tofu), qing jiao fuzhu (Paprika mit aus der Haut von Sojamilch gerollten Tofu-Stäbchen), rou jiamo (chinesischer Hamburger) und cong you bing (dicke kleine Pfannkuchen mit Frühlingszwiebeln). Und zum Nachtisch ein portugiesisches pastel de nata.

Mit mir unterwegs: Jamie und Kyle, auf dem Gruppenbild ganz links, Austin Hu, der Koch und Besitzer des Restaurants Madison, Liz und Megan. Alles Amerikaner, die seit ein paar Jahren in verschiedenen Jobs in Shanghai leben (Liz z.B. macht tagsüber Qualitätskontrolle für Stofffirmen und führt nachts auf pubcrawls durch die Kneipenszene). Jamie und Kyle haben vor zwei Jahren ihr alternatives Stadtführungsunternehmen UnTour gegründet, mit ihnen war ich eigentlich Ende des Monats auf eine Weird Meat-Tour verabredet, aber dann fragten sie, ob ich heute spontan mit zum Frühstücken gehen wolle. Und da mein Mantra für dieses Jahr „Klar, warum nicht“ ist… Den Rest des Tages dann nur noch Obst.

Guten Morgen

Montag, kurz vor neun im Xiangyang-Park. Ich war mit ein paar Leuten zum Frühstück verabredet, stand so in der Gegend herum und guckte den Damen oben beim gemeinsamen Tanz zum Radetzky-Marsch zu. Frauen werden hier mit 55 pensioniert, Männer mit 60, da ist viel Tagesfreizeit zu füllen. Auch von dem reizenden Herrn unten, einem Wasserkalligraphen. Wasserkalligraphie ist ein beliebtes Hobby: Meist werden Segenssprüche oder Redensarten mit Wasser auf das Pflaster geschrieben. Nach wenigen Minuten sind sie verschwunden, einfach weggetrocknet.

Der alte Herr, ein pensionierter Arzt, der übrigens eine kleine lila Wäscheklammer am linken Ohr trägt (gegen seine Schlaflosigkeit, erklärte er), fragte, ob er mich malen dürfe. Klar, nur zu!

Es war, glaube ich, einer meiner Lieblingsmomente der bisherigen drei Monate. Und wieder mal eine Lektion darin, den Augenblick zu lieben.

Freiwillige Selbstkontrolle

Wenn ich mir so die englischsprachigen Zeitungen anschaue, die hauptsächlich für hier lebende Ausländer, Investoren und Touristen gedacht sind, mag ich mir gar nicht vorstellen, was in den chinesischsprachigen steht. Die Shanghai Daily hält sich jetzt schon den dritten Tag mit skandalisierten Artikeln darüber auf, dass am Donnerstag ein Dutzend Leute in der U-Bahn über die Kontrolldrehkreuze geflankt sind – „outcry“, „shocks city“… Bereits seit Dienstag wird eine Online-Umfrage durchgeführt, wie man der chaotischen Verhältnisse im Gucun Park Herr werden solle. Dort sind während des Kirschblütenfestes doch sage und schreibe fünf Leute dabei beobachtet worden, wie sie auf Kirschbäume geklettert sind, es seien Zweige abgerissen worden, außerdem sei Müll liegen geblieben.

Die Antwortmöglichkeiten der Umfrage, wie man künftig mit so etwas umgehen solle:
1. Die Anzahl der Wachkräfte erhöhen.
2. Mehr Schilder aufstellen, die den Leuten sagen, wie sie sich verhalten sollen.
3. Mehr Parks schaffen, damit die Mengen sich besser verteilen.
4. Sich einfach an solche Vorkommnisse gewöhnen.

Fast 50 Prozent (wohlgemerkt der englisch sprechenden Leser, also vorwiegend Ausländer) waren für Antwort 1. Für den Fall, dass das nicht getürkt ist (was es vermutlich ist), finde ich verblüffend, dass selbst westlich Erzogene hier sofort glühende Anhänger einer strammen Überwachung werden. Kein Wunder, dass die Regierung den plumpsten Weg gewählt und Ai Weiwei der Steuerhinterziehung beschuldigt hat (wie übrigens rein zufällig nahezu jeden Regimekritiker bisher). Denn das Allerschlimmste, was man hier jemandem anhängen kann, ist: nicht dasselbe zu tun wie alle anderen. Von Ai Weiwei übrigens bis auf eine kurze Agenturmeldung keine Rede in der Shanghai Daily, natürlich auch nicht von den Regierungsbeamten, die laut Guardian jährlich 80 Milliarden Dollar hinterziehen.

Samstagsprogramm

Zeit für eine weitere kleine Diashow. Heute: Altstadtbummel.

Der Yu-Garten, etwa 400 Jahre alt, liegt mitten in der Altstadt – die beste Einführung in die chinesische Gartenkunst. Rasenflächen und Blumenbeete findet man hier nicht, dafür Karpfenteiche, Felsformationen, Pavillons, Brücken und einige symbolträchtige Pflanzen wie Bambus, Gingko, Päonien. Der Garten wurde von einem reichen Beamten der Ming-Zeit für seine Eltern angelegt. Bis er allerdings nach 18 Jahren Bauzeit 1577 fertig war, lebten die Alten schon längst nicht mehr. Damals wie heute waren Gärten und Parks zum Leben da, es sind Orte für Familienfeiern, Gesangsdarbietungen, Saufgelage.



Direkt neben dem Garten liegt in einem weiteren Teich eines der schönsten Teehäuser der Stadt, das Hu Xin Ting. Unten wird nur Tee serviert, oben Tee mit Beilage: Tofu, in Sojasauce gegarte Wachteleier, Klebreis im Bambusblatt, getrocknetes Schweinefleisch. Von hier oben hat man einen schönen Blick auf die Zickzack-Brücke, die zum Teehaus führt. Die Form wird oft gewählt, weil Dämonen sich angeblich nur geradeaus bewegen können, man durch neun Biegungen also vor ihnen sicher ist.

Der food court von Yu Yuan. Vielleicht die einfachste Art, zu chinesischem Essen zu kommen, denn hier muss man kein Wort sprechen, nur nehmen und nehmen und nehmen. Und zahlen und beten, dass man einen Platz findet.

In einer Großstadt sollten Haustiere möglichst klein sein. In Shanghai möglichst auch noch transportabel. Der alte Herr oben links hat seine Vögel mit in den Park genommen, damit sie sich mit anderen Vögeln unterhalten können (wildlebenden und anderen Käfigvögeln), der kleine Junge oben rechts führt seinen Goldfisch aus, im Tier- und Insektenmarkt nahe Xintiandi kann man dutzende verschiedengemusterter Kleinschildkröten und Grillen kaufen, die man ebenfalls gern mit sich herumträgt.

Das hat mir gefallen: Große Wäsche wird aus Platzmangel einfach mal zwischen zwei Straßenlaternen aufgehängt. Wäschediebe scheinen hier kein ernsthaftes Problem zu sein.

Die Tong Han Chun-Apotheke, eine der ältesten der Stadt, sieht ungefähr so aus wie eine Douglas-Filiale bei uns und hat auch circa solche Preise. Für diese Ginseng-Wurzel – die immerhin eine besondere ist, weil sich hier zwei Rhizome die Hand reichen, so die Erklärung – werden 339.000 Yuan verlangt, 36.000 Euro. Dafür sollte dann aber auch mindestens ein Extrajahr Lebenszeit drin sein. Ebenfalls empfehlenswert: gemahlene Süßwasserperlen, oral einzunehmen. Soll tolle Haut machen. Ich habe nichts gekauft, aber die Karte mitgenommen, falls jemand interessiert ist…

His Bobness

Der alte Mann war da und hat abgeliefert. Ich habe Dylan vor Jahren schon mal auf seiner Never Ending Tour gesehen und kann deshalb sagen: Das war wie immer. Er kommt, kippt eine Fuhre Musik vor den Zuhörern aus und fährt weiter, wie ein Spediteur. Die einzigen Worte, die er während der 90 Minuten sagt, kommen nach der ersten Zugabe „Like a Rolling Stone“: Er stellt knarzend seine Band vor. Zweite Zugabe „Forever Young“, grußloser Abgang, Licht an.

Und trotzdem, es war gut, was er da machte. Im Mai wird er 70, und in den fast genau 50 Jahren, die er auf der Bühne steht (albernerweise kosteten die teuersten Konzerttickets in Shanghai 1961,411 Yuan, 210 Euro, eine Anspielung auf das Datum seines ersten Auftritts am 11.4.1961), muss er Songs wie „Ballad of a Thin Man“ und „Highway 61 Revisited“ zehntausende von Malen gespielt haben. Irgendwie schafft er es, die Lieder so zu singen, als ob er zum ersten Mal von ihnen abbeißt. Sogar die schunkelige Rentnerversion von „Simple Twist of Fate“ – harmlos, ein Spaziergang durch den Botanischen Garten, aber: gut.

Am Ende standen alle und jubelten: die jungen Chinesen, die grauköpfigen Expatriates (mit ihren jungen Chinesinnen). Und ich.

Nachtrag: Die sehr nüchterne Einschätzung der von mir sehr geschätzten Maureen Dowd in der New York Times.

Lunch

Links der Lunch, den ich hatte: wunderbare Ente, wunderbarer Flussfisch, Spinat, Tofu mit Sellerie, Lotuswurzeln, gekocht von Julias ayi (wörtlich: Tante, hier: Haushälterin). Eine Einladung in ein Privathaus! Dafür bin ich gern 45 Minuten Taxi in einen Vorort gefahren. Julia (wir erinnern uns: Dievommond) wohnt feudal in einem compound, einer bewachten gated community mit eigenem Clubhaus, Swimmingpool und Shuttlebus. Ein Wachmann radelt vor dem Taxi her und zeigt den Weg. Nach dem Essen gingen wir ein bisschen auf dem Markt bummeln: frisch geschlachtete, noch zuckende Fische, Hühner in Käfigen, die auf die Suppe warteten – hier weiß man, dass die Ware nicht lange gelegen hat.

Und in einem Restaurant in der Nähe weiß man, was auf den Teller kommt: liebevolle Displays von Fischköpfen und Hühnerfüßen (links) und Entenschnäbeln (rechts) am Eingang bereiten in aller Klarheit darauf vor, was einen erwartet. Julia wies mich auf ein sechsstöckiges Restaurant hin, dessen Untergeschoss eine Art Stall ist. Dem Esser wird dort angeblich am Tisch die lebende Ziege vorgeführt, die gleich für ihn geschlachtet wird…

Chinesisch für Anfänger

Von diesen beiden, Jack und Emily (ich muss noch rauskriegen, warum so viele Chinesen englische Vornamen haben), habe ich mich heute am frühen Morgen und am späten Nachmittag je zwei Stunden knechten lassen. Jack hat mir Tai Chi-Unterricht auf dem Dach des URBN gegeben – da stelle ich mich anscheinend nicht so doof an. Unglaublich doof aber beim Mandarin. Ich habe mir immer etwas darauf eingebildet, einigermaßen sprachbegabt zu sein. Jetzt weiß ich: nö. Bin ich nicht. Zumindest nicht mandarinbegabt. Die Aussprache! Die Intonation! Gute Güte, was habe ich mir schon bei einfachen Sätzen wie wo ye hengao xìng rènshi ni einen abgebrochen („Freut mich, Sie kennenzulernen“). Jetzt bitte noch auf dem wo, dem ye, dem hen und dem ni einen umgekehrten accent circonflexe vorstellen, den ich nicht auf meiner Tastatur hinkriege und der eine abfallende und wieder ansteigende Intonation bedeutet, und man hat ungefähr eine Vorstellung. Intonation ist unabdingbar, weil Wörter je nach steigendem oder sinkendem Ton unterschiedliche Bedeutungen haben. Beispiel: wen (mit langgezogenem Strich, kann ich auch nicht schreiben): warm, wén: lächeln, wèn: fragen, wen mit umgekehrtem circonflexe: küssen.

Halt: das R. Das berühmte chinesische R! Von wegen, Chinesen können kein R sprechen, ich kann das nicht! Die arme Emily ließ nicht locker, als ich schon längst wimmernd in der Ecke hockte. Noch nie war ich über das Ende einer Unterrichtsstunde so froh. Es ist wie mit dem Tango: Ich bin einfach nicht dafür gemacht. Immerhin habe ich’s probiert.