Freiwillige Selbstkontrolle

Wenn ich mir so die englischsprachigen Zeitungen anschaue, die hauptsächlich für hier lebende Ausländer, Investoren und Touristen gedacht sind, mag ich mir gar nicht vorstellen, was in den chinesischsprachigen steht. Die Shanghai Daily hält sich jetzt schon den dritten Tag mit skandalisierten Artikeln darüber auf, dass am Donnerstag ein Dutzend Leute in der U-Bahn über die Kontrolldrehkreuze geflankt sind – „outcry“, „shocks city“… Bereits seit Dienstag wird eine Online-Umfrage durchgeführt, wie man der chaotischen Verhältnisse im Gucun Park Herr werden solle. Dort sind während des Kirschblütenfestes doch sage und schreibe fünf Leute dabei beobachtet worden, wie sie auf Kirschbäume geklettert sind, es seien Zweige abgerissen worden, außerdem sei Müll liegen geblieben.

Die Antwortmöglichkeiten der Umfrage, wie man künftig mit so etwas umgehen solle:
1. Die Anzahl der Wachkräfte erhöhen.
2. Mehr Schilder aufstellen, die den Leuten sagen, wie sie sich verhalten sollen.
3. Mehr Parks schaffen, damit die Mengen sich besser verteilen.
4. Sich einfach an solche Vorkommnisse gewöhnen.

Fast 50 Prozent (wohlgemerkt der englisch sprechenden Leser, also vorwiegend Ausländer) waren für Antwort 1. Für den Fall, dass das nicht getürkt ist (was es vermutlich ist), finde ich verblüffend, dass selbst westlich Erzogene hier sofort glühende Anhänger einer strammen Überwachung werden. Kein Wunder, dass die Regierung den plumpsten Weg gewählt und Ai Weiwei der Steuerhinterziehung beschuldigt hat (wie übrigens rein zufällig nahezu jeden Regimekritiker bisher). Denn das Allerschlimmste, was man hier jemandem anhängen kann, ist: nicht dasselbe zu tun wie alle anderen. Von Ai Weiwei übrigens bis auf eine kurze Agenturmeldung keine Rede in der Shanghai Daily, natürlich auch nicht von den Regierungsbeamten, die laut Guardian jährlich 80 Milliarden Dollar hinterziehen.

9 Antworten to “Freiwillige Selbstkontrolle”

  1. Ben's Mum Says:

    Na, hoffentlich bleiben Sie uns nach diesem Bericht weiter erhalten und landen mit Ihrem Guardian-Hinweis nicht bei den anderen “Regimekritikern”.
    Auf jeden Fall, weiterhin viel Glück und gute Reise.

  2. maria Says:

    Mal darüber nachgedacht woher der Begriff “getürkt” kommt?

    Ein bisschen mehr Reflexion über Sprache hätte ich von einer Journalistin schon erwartet.

  3. Optimist Says:

    Marias wichtigtuerische Kommentare sind langsam überflüssig!

  4. Marie Says:

    Eine Gschaftlhuberin halt.

  5. elke Says:

    Hi
    “getürkt” kommt vom Schachtürken von Herrn von Kempelen.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_von_Kempelen
    Schöne Grüße

  6. elke Says:

    hoppla
    http://de.wikipedia.org/wiki/Schacht%C3%BCrke

  7. Marie Says:

    Wieder was gelernt.

  8. Dievommond Says:

    Oje, Meike, Danke fuer Deine Sichtweise! Wahrscheinlich bin ich schon zu lange hier, denn vieles faellt mir gar nicht mehr auf!

    Aber eines habe ich auch selber schon schmerzlich erfahren: “das Allerschlimmste, was man hier jemandem anhaengen kann, ist: nicht dasselbe tun wie alle anderen…” Ich weiss ja nicht, wann und warum Du zu dieser Erkenntniss gekommen bist, aber da ist was dran. Und darunter leide auch ich. Und zwar sehr!

    An der Umfrage von Shanghai-Daily habe ich uebrigens spasseshalber teilgenommen und fuer Punkt 3 (mehr Parks schaffen…) gestimmt.

    Und sehr interessant finde ich auch Deine Behauptung, dass man bisher allen Regime Kritikern Steuerhinterziehung vorgeworfen hat. Das wusste ich vorher nicht. Der Link zum Artikel im Guardian ist toll, ich hab alles gelesen.

  9. Dievommond Says:

    naja, trotzdem muss ich die Shanghai-Daily hier mal noch ein bischen verteidigen: Sind denn die deutschen Tageszeitungen wirklich besser? Dort gibt es doch auch eine Menge Klatsch und Tratsch. Die Shanghai-Daily ist in Shanghai hoechstens das, was die AZ in Muenchen ist. Wenn ueberhaupt. Oder vergleiche sie mit dem Isar-Loisach Kurier. Die regen sich doch auch ueber Nachbars Tauben auf dem Dach auf! Wo ist denn da bitte der Niveau Unterschied? Natuerlich ist die Schlechtigkeit des Einen keine entschuldigung fuer die Schwaeche des Anderen. Aber trotzdem: Wer im Glashaus sitzt soll mal nicht mit Steinen werfen!

    Und obwohl Du irgendwie Recht hast mit Deinem “Denn das Allerschlimmste, was man hier jemandem anhängen kann, ist: nicht dasselbe zu tun wie alle anderen.”

    So ist das trotzdem nur die halbe Wahrheit. Meine kleine Cousine zum Beispiel, deren Mutter Koreanerin ist, hat mir mal dieses typisch asiatische (bitte nicht nur chinesische!!) Phaenomen versucht zu erklaeren:
    “weisst Du, Julia, ich fuehle mich so frei, dass ich es mir leisten kann, mich anzupassen…Es ist mir ein Beduerfniss auf die Gefuehle meiner Mitmenschen zu achten….”

    Ich denke, es gibt da einen grundsaetzlichen Unterschied zwischen asiatischen und westlichen Menschen, der nichts mit dem Regime zu tun hat, sondern mit Tradition. Und beide Sichtweisen – sowohl die asiatische als auch die westliche – haben ihre Vorteile und Berechtigung. Zum Beispiel bin ich immer wieder ueberrscht und erstaunt ueber die Sensibilitaet und das Einfuehlungsvermoegen meiner asiatischen Freunde.