Reasons to be cheerful, part 3

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Tag 5 in Tel Aviv, und ich war noch immer nicht in der Innenstadt. Meine Monate folgen einem Muster, das mich anfangs etwas rasend gemacht hat: die erste Woche schreibe ich für meine diversen Auftraggeber über den vergangenen Monat. Ich sitze hier quasi mit scharrenden Hufen, muss aber erst mal Rückschau halten. Mittlerweile habe ich das zu schätzen gelernt. Es ist ein Abschied vom Alten, eine sanfte Landung im Neuen – und auch wenn man den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und nur kleine Ausflüge zum Strand oder Supermarkt macht, passiert eine Menge.

Kurzzusammenfassung: Nirgends habe ich bisher so viele schlecht gelaunte und ruppige, aber auch so viele charmante und flirtige Leute auf einem Haufen gesehen. Meine Supermarktkassiererin: ein Drachen, unlächelnd, bellend – aber gestern schob sie mir stumm eine Karte über den Tisch; ihre Kollegin erklärte: Die solle ich ab sofort immer mitbringen, das gebe Discount. Ich bedankte mich, sie lächelte immer noch nicht. Auf der Strandpromenade hält mich ein alter Mann am Arm fest, erzählt mir in bestem Englisch Geschichten von Andromeda und Perseus, hält am Ende meine Hand und baggert ganz entzückend und munter vor sich hin. Wie alt er sei, frage ich. 83. „Ach, wenn Sie nur drei Jahre jünger wären…“, sage ich. Er lacht und lässt mich ziehen.

Und ich bemerke eine Scheu an mir, die ich nirgendwo sonst auf der Welt habe. Wenn jemand versucht zu raten, woher ich komme („Dutch? Swedish?“), korrigiere ich nicht. Nirgendwo bin ich so ungern deutsch wie hier, ob zu Recht oder nicht, werde ich herausfinden.

Vorerst aber sitze ich noch ein wenig am Tisch, schreibe und schaue auf diesen Baum da oben. Was mich zu einem weiteren Rückschau-Ritual bringt: Jeden Abend schickt mir eine Website namens (dämlicher Name) Happy Rambles eine Mail mit der Frage, wofür ich an diesem Tag dankbar war. Ich antworte auf die Mail, fertig. Das Programm sammelt. Ich bin gespannt, am Ende des Jahres all meine Antworten zu lesen. Das Wissen, am Abend die Frage beantworten zu müssen, sorgt schon am Tag für größere Aufmerksamkeit für all die besonderen und gelungenen Momente (die es auch am Schreibtisch gibt: Heute wird eine der Antworten dieser blühende Baum sein). Als mich meine Freundin Rose im März in Indien besucht hat, hatten wir ein ähnliches Spiel. Jeden Abend haben wir uns gegenseitig gefragt: Was war heute das Schönste für Dich? In diesem Jahr ist so viel schön, dass etliches verloren geht. Auf diese Weise ein bisschen weniger.

Schnellschüsse

Montag, 3. Oktober 2011

Wie immer sitze ich zu Beginn des Monats vorwiegend am Schreibtisch, um die Geschichten über den vergangenen Monat zu schreiben – es gibt immer ein bisschen Jetlag im Kennenlernen der neuen Stadt. (Das Geräusch, das Sie im Hintergrund hören, ist das Rasseln der Ketten – erst die Hausaufgaben, dann darf ich mit den anderen Kindern spielen.) Deshalb nur kurz ein paar Eindrücke.

Oh Gott, zerschossen, dachte ich, als ich das Haus aus dem Augenwinkel sah. Und merkte beim genaueren Hinsehen, wie sehr ich die Nahost-Bilder aus den Nachrichten im Kopf habe. Hier war nur ein ehrgeiziger Architekt am Werk, der ganz offensichtlich vorher mal in Barcelona gewesen sein muss. Gaudí reibt sich gerade im Grab die Hände.

Die stehen hier überall in den Straßen: mannshohe Drahtkäfige zum Sammeln von Plastikmüll. Nicht elegant, aber sehr wirkungsvoll: Die allgegenwärtigen und bei der Hitze sehr nötigen Wasserflaschen können so direkt entsorgt werden. Praktischer und praktizierter Umweltschutz.

Erstes Mahl (draußen) und erstes Mal (drinnen)

Sonntag, 2. Oktober 2011

Ach, fangen wir doch gleich mit Essen an, warum nicht? Es führt bei mir ja doch kein Weg daran vorbei. Ich wohne nicht weit vom alten Hafen entfernt, der in den letzten Jahren zu einer holzbeplankten Restaurant- und Shoppingmeile umgebaut worden ist. Heute war es hübsch leer, der Sonntag ist hier wie unser Montag, ein normaler Arbeitstag nach dem gestrigen Shabbat. Auf eine Empfehlung hin habe ich Beni HaDayag angesteuert – alias Benny the Fisherman – und arglos eine gegrillte Brasse bestellt. Und bekam dann ein Schälchen, zwei Schälchen, fünf Schälchen, 14 Schälchen mit Vorspeisen hingestellt plus eine Schüssel Salat plus Pita – der Wahnsinn. Gebackene Aubergine (die einzige Art, wie ich Aubergine ertrage, den Fettschwamm unter den Gemüsen), Joghurt mit Dill, scharfe Tomatensauce, Pilzsalat, Kohlsalat, Tabbouleh… es hörte nicht auf. „Sie können von allem gern nachbestellen“, sagte die Bedienung. Ach, Mist. Dabei wollte ich Israel nutzen, um mich wieder in Form zu bringen; ich habe mich gerade für den Hamburger Marathon im April angemeldet – nur für den Fall, dass ich mich nächstes Jahr langweilen sollte. Die Brasse war dann auch ganz vorzüglich: einmal schnell drübergeflämmt, nur mit Zitrone serviert, noch brutzelnd serviert. Genau so, wie man Fisch haben will.

Beni HaDayag, Alter Hafen, Hangar 8

Tel Aviv ist, wenn man’s auf den Punkt bringen will, ein acht Kilometer langer Strand mit Stadt dahinter. Einer der nördlichsten Strände ist gleich auch einer der interessantesten: der orthodoxe Nordau Beach hinter einem Bretterzaun, der tageweise nach Geschlechtern trennt. Sonntags, dienstags und donnerstags können hier die Frauen baden, montags, mittwochs und freitags die Männer, Samstag ist zu. Heute lagen hier Orthodoxe mit verhüllten Haaren, die vollbekleidet schwimmen gingen, neben zwei jüngeren Frauen, die sich oben ohne sonnten – Nordau ist trotz oder wegen der strengen Sitten der einzige Strand in Tel Aviv, wo das möglich ist. Die Atmosphäre: entspannt; wie immer, wenn Frauen unter sich sind. Bisschen wie Damensauna. Bauch raushängen lassen und sich ungestört unterhalten – auch wenn die Bademeister männlich sind.

Nordau Beach, Shlomo Lahat Promenade. Feinster Sand, Duschen und Umkleiden, ein kleiner Fitnessbereich.


Neue Heimat 10

Samstag, 1. Oktober 2011

Ich bin am dritten Tag von Rosh Hashana gelandet, dem Neujahrsfest, das nach dem jüdischen Kalender auf Ende September oder Anfang Oktober fällt (übrigens ist unser „Guter Rutsch“ vermutlich eine Verballhornung von Rosh = Anfang). Schon beim Umsteigen in Wien standen Männer im Gebetsschal am Gate und beteten zum Rollfeld hinaus, in Tel Aviv fuhren wegen des Feiertags keine Busse und Bahnen, die Taxis nehmen 25 Prozent mehr. Dieses Jahr ist der Oktober der Monat mit den meisten jüdischen Feiertagen, einer der Gründe, warum ich ihn mir für Tel Aviv ausgesucht habe.

Die Wohnung liegt am nördlichen Ende der Ben Yehuda Street, 200 Meter vom Strand entfernt. Meine Vermieterin: Gabrielle, Tochter einer US-Amerikanerin und eines Brasilianers, in Hongkong geboren, in den Philippinen aufgewachsen, hat in London studiert – ein weiteres Weltenkind.

Das erste Mahl im neuen Heim: gekräutertes Hummus mit Kreuzkümmel-Crackern, Obstsalat aus Mango, Kaki und weißem Pfirsich, Grapefruitsaft. Auf einen frohen neuen Monat!