Damals

Der Auftrag kam von einer SZ-Leserin, Ruth Paulig. Ihr Bruder Heinrich habe in den Siebzigern in Addis als Mathematikprofessor an der Uni gearbeitet und sehne sich sehr nach Äthiopien zurück. Aufgrund eines Schlaganfalls könne er aber nicht mehr reisen. Ob ich ihm bitte ein Tütchen Berbere besorgen könne, das scharfe äthiopische Gewürz, das er so liebt? Und bitte auch mal bei seiner alten Haushälterin Birke vorbeischauen, die mit ihren sechs Kindern bei ihm gelebt habe? Ihr ein bisschen Obst bringen – das ist so teuer geworden – und Geld für Medikamente?

Aber natürlich, sehr gern. Birke wohnt in einem winzigen Haus unweit des zentralen Platzes Arat Kilo. Ihr Sohn Getenet holt mich netterweise ab, allein hätte ich den Weg durch die engen Gassen kaum gefunden. Der Besuch entwickelt sich schnell zu einer Reise in die Vergangenheit. Birke holt alte Fotoalben hervor, „ihren Schatz“, sagt Getenet. Darin unzählige Bilder nicht nur ihrer eigenen Familie, sondern auch welche von all den Menschen, für die sie im Lauf ihres Lebens gearbeitet hat, Deutsche, Franzosen, Familien, deren Kinder sie aufwachsen und schließlich gehen sah. Auf mehreren Fotos ist sie mit einem weißen Baby auf dem Arm zu sehen: Michael, der in Addis geborene Sohn von Heinrich – heute ein erfolgreicher Wissenschaftler, er leitet einen Forschungsbereich an der TU München.

Wir reden viel über Vergangenheit und Erinnerung. Ich frage Getenet, dessen Kinderbilder ebenfalls im Album kleben, wie alt er sei. „41 oder 42“, sagt er. Das wisse er nicht? Nein, das kann er nur schätzen. In Äthiopien gebe es keine Geburtsurkunden, und seine Mutter könne sich nicht genau erinnern. Nicht mal an den Geburtstag? Nein: Er hat sich selbst einen gewählt. „Ich mag die Zahl 7, und ich mag den Monat Mai. Und ich mag Donnerstag. Also habe ich geschaut, in welchem Jahr der 7. Mai auf einen Donnerstag fiel.“

Natürlich gibt es buna, natürlich reden wir über die Sorgen, die die Familie gerade hat. Jeyuwork, die Tochter, die ihre Mutter zusammen mit einem Nachbarmädchen pflegt, hat gerade ihren Job verloren. Sie hat in einem Andenkenladen in einer Einrichtung des SOS-Kinderdorfs gearbeitet, dort sind gerade nach einem Korruptionsfall mehrere Stellen gestrichen worden. Getenet, ein Fahrer für eine Aids-Charity, unterstützt die Familie, ist aber viel unterwegs. Die Diabetes-Medikamente, die Birke braucht, sind teuer und müssen voll bezahlt werden, eine Krankenversicherung gibt es hier nicht. Ich räume sofort mein Portemonnaie aus.

Mich beschäftigen solche Fotos, solche Geschichten immer sehr: die Begegnungen und Berührungspunkte, die man im Leben hat (die auch ich in diesem Jahr habe), und die Wege, die sich danach wieder in ganz andere Richtungen entwickeln. Ich soll unbedingt die Fotos schicken, die ich an diesem Vormittag gemacht habe, sagt Getenet. Die wird er ausdrucken. Und die werden wahrscheinlich bald neben all den anderen im Album seiner Mutter kleben.

19 Antworten to “Damals”

  1. Lina Says:

    Das rührt mich gerade zu Tränen.

  2. Drachenfee Says:

    @ Lina. Das war auch meine erste Reaktion …

  3. Daniela (Le-Sabra) Says:

    mich auch, aber es sind auch Tränen für alle anderen die wir nicht kennen

  4. Tally Says:

    Gänsehautgeschichte.

    War Birkes Häuschen so einfach zu finden?
    Da bestand wohl weiterhin irgendwie Kontakt, vermute ich.

  5. Elke Schüßler Says:

    Liebe Meike Winnemuth, ich habe gerade 5 Überweisungsscheine Stichwort:Meikes Reisebüro eingeworfen. Gibt es in München ein israelisches Lokal ??
    Da ich eh noch nie was gewonnen habe, vielleicht beantworten sie mir auch so meine Frage: Ist das Reisen in Israel mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu empfehlen.
    Danke für den tollen Blog Elke Schüßler

  6. meike Says:

    @Elke: Vielen Dank! Na, wenn das nix nützt… Ich bin sicher, wir finden ein passendes Lokal, falls das Los auf Sie fallen sollte. Und die öffentlichen Verkehrsmittel, speziell die Busse und die Sheruts, die Leihtaxis, kann ich nur empfehlen. Ich bin nach Jerusalem per Sherut gefahren, für minimales Geld.
    @Tally: Den Weg zu Birkes Häuschen hat mir Ruth Paulig genau beschrieben (dessen hätte es aber nicht bedurft, weil Getenet mich abgeholt hat), sie war erst letztes Jahr da. Der Kontakt ist nie abgerissen.

  7. kerstin_g Says:

    @elke und meike:
    http://www.schmock-muenchen.de/
    Kann man wirklich empfehlen!

  8. Maïté ALOY Says:

    @Elke Schüssler: ich weiss zwar (leider) nicht genau, worum es bei den Überweisungsscheinen für Meikes Reisebüro geht, aber in München gibt es das israelische Restaurant “Schmock”, http://www.schmock-muenchen.de und das Cohen’s, http://www.cohens.de.

    Liebe Grüsse aus Luxemburg :)

  9. antagonistin Says:

    Was für eine liebevolle und wunderschöne Geschichte. Danke.
    (Auch für so viele andere Schilderungen, bin grad erst dazu gestoßen und lese und lese…)

  10. Franka Says:

    Liebe Frau Meike Winnemuth,
    weil ich auf dem letzten Foto Mutter und Tochter und das Nachbarmädchen sehe, geht mir die Frage durch den Kopf, ob die Frauen beschnitten sind.
    Sind Sie mit diesem Thema schon konfrontiert worden?

    Liebe Grüße!
    Franka

  11. Sibylle Says:

    Liebe Meike, es reisen so viele mit im Blauen Bus und das umsonst, hätten wir nicht früher drauf kommen können etwas für diese Menschen zu spenden? Wie könnte das gehen?
    Mögen alle Engel Sie weiterhin begleiten!

  12. Kristiane Says:

    Sie scheinen großes Glück zu haben, was Ihre Begegnungen auf dieser Reise betrifft. Der Gedanke ans Spenden kam mir beim Lesen übrigens auch.

  13. Judith Says:

    „Ich mag die Zahl 7, und ich mag den Monat Mai. Und ich mag Donnerstag. ”

    ….ab da hab ich geheult! nein, ich denke es sind nicht nur meine hormone…

  14. claus Says:

    in vielen laendern in afrika fuehrte man frueher (!) ueber sowas (geburtenregister) nicht buch .. da zaehlte nur, ob einer “vor – oder nach – dem regen…” geboren ist… (eigene erfahrung: viereinhalb jahre westafrika)

  15. meike Says:

    @Maité: Darum hier geht es bei den Überweisungsscheinen: In einer Charity-Aktion kann man SZ-Redakteure gewinnen, unter anderem auch mich. Und das Schmock ist wirklich klasse, da habe ich schon mal gegessen.
    @Franka: Mir ist das Thema Weibliche Beschneidung sehr bewusst, auch wenn ich bis jetzt noch nicht direkt mit ihm konfrontiert worden bin. In Äthiopien ist die Beschneidung offiziell verboten, wird auf dem Land allerdings noch weiter praktiziert. Ich habe keine der Frauen, die ich bisher kennengelernt habe, danach fragen mögen. Das bringe ich einfach nicht.

  16. angelika Says:

    es gibt so viel leid in afrika an so vielen ecken. man weiß nicht, wo man zuerst helfen soll. falls es erlaubt ist – sonst einfach den beitrag rauslöschen – möchte ich auch gern auf dieses thema hinweisen:
    http://www.fallingwhistles.com/. – meine tochter hat einen vortrag an ihrer uni darüber gehalten, spontan fanden sich studenten, die für drei schulplätze ehemaliger kindersoldaten die patenschaft übernommen haben. (eine gruppe von 6 studenten hat ein global issues forum an der uni gegründet, bei dem in zweiwöchentlichem rhythmus über über einen krisenherd in der welt berichtet wird und studenten aus diesen ländern über die zustände berichten. oft entstehen aus diesen abenden praktische hilfen, die umgesetzt werden. immer wieder geht es, neben vielen anderen themen, um verschiedene regionen in afrika.)

    dann die vergessenen kriege, die an verschiedenen fronten in afrika. und hier, bei ihnen in äthopien, die direkthilfe, die die uns berührt und aufrüttelt und hoffentlich bei ganz vielen lesern das bewußtsein schärft, sich zu bewegen und etwas zu tun. vielen dank, dass sie hier daran erinnern.

  17. Marie Says:

    @meike Das ist ja auch Intim- und Privatsphäre, ich fände es übergriffig, wenn man out of the blue das Thema anschneidet.

  18. Maïté ALOY Says:

    @meike: Vielen Dank für die Info, das ist ja mal originell!
    Und wenn ich mal in München bin, muss ich unbedingt auch ins Schmock. Ich schau mir immer deren tolle Website an und fluche dann, dass ich so weit weg wohne ;) .

  19. Chris Says:

    Nein, out of the blue ist völlig fehl am Platze und als Touristin kann man die Welt auch nicht retten indem man alle möglichen Ungleichgewichte zum Thema macht. Ich weiß auch nicht ob ich den Mut hätte den Zauber des Augenblicks gewissermaßen zu ruinieren.
    Aber: lt. meiner ehemaligen Mitbewohnerin im Studentenwohnheim aus Eritrea, kann man diese Grausamkeit nicht genug besprechen, denn gerade in ländlichen Gebieten wissen die Frauen gar nicht, wie die westliche Welt zu diesem Thema denkt und das diese Verstümmelung nicht sein muss. Gespräche, Denkanstöße und Aufklärung sind alles und viel wenig machen ein viel!