Men at work
„Have you seen our garden?“ fragte mich der Mann in blau unten in meiner U-Bahnstation Warwick Avenue. Nein, welchen Garten denn? Kommen Sie, den zeige ich Ihnen. Und ich stieg mit Graham die Treppe hinauf zum Eingang der Station. Tatsächlich, in zwei Blumenkästen am Treppengeländer, wo jeden Tag Tausende vorbeigehen: der Garten. Tomaten, zwei kleine Kohlköpfe, Auberginen, Salbei, Rosmarin, Chilischoten, Erdbeeren. Zwei- oder dreimal am Tag steigt Graham oder einer seiner Kollegen mit einer Wasserkanne ans Licht, um den Garten zu gießen. Die Jungs haben Spaß, keine Frage. Bei der Gelegenheit: noch ein Gruß von Tim.
Schon im Juni erreichte mich eine Mail von Sonja Wanner, einer SZ-Magazin-Leserin. „Sehr geehrte Frau Winnemuth, ich habe einen etwas komischen Auftrag an Sie. Ich war schon viele Male in London (das erste Mal 1983 als Studentin) und jedes Mal suche ich die Buchhandlung Foyles auf. Als Englischlehrerin gehe ich immer in die Abteilung für Englisch als Fremdsprache und wirklich jedes Mal seit 1983 war derselbe Verkäufer da, der mit mir gealtert ist. Er ist sehr zurückhaltend, spricht z.T. mit etwas lauter Stimme und weiß einfach sehr gut Bescheid. Er trägt eine Brille und müsste inzwischen um die 60 sein. Ich habe irgendwie das Gefühl, er ist sehr einsam.
Er wird sicher bald in den Ruhestand gehen und ich habe Angst, wenn ich das nächste Mal in London bin, dass er nicht mehr da ist. Ich weiß nicht einmal seinen Namen und ich wollte mich bedanken für seine Hilfe in all den Jahren. Könnten Sie ihn aufsuchen, nach seinem Namen fragen und sich in meinem – unbekannten – Namen bei ihm bedanken?“
Aber gern. Foyles war auch für mich immer erste Anlaufstelle damals im Studium. Es ist weiß Gott nicht der hübscheste Buchladen, aber ganz sicher immer noch einer der größten. Die Abteilung Englisch als Fremdsprache liegt im ersten Stock, hinter der Kasse: ein junger Mann. Ist der Gesuchte etwa tatsächlich schon in Rente? „Oh nein, Giles ist auf einen Kaffee rausgegangen, der müsste gleich wieder da sein.“ Es dauert dann doch etwas länger, denn der Mann arbeitet inzwischen, wie es ihm passt. Giles Armstrong – nicht etwa 60, sondern schon über 70 – ist seit 40 Jahren bei Foyles, und zwar immer in derselben Abteilung. „I am perfectly happy here, so why should I change?“ Rente? Nein, wozu denn? Auf ihn wartet niemand zuhause, hier hingegen: jeden Tag neue Leute aus aller Herren Länder. Er sei bestimmt eine Legende, sage ich. „Ach“, antwortet er mit feinem Lächeln, „den Ausdruck würde ich nicht benutzen. Sagen wir: eine Institution.“ Er hat von der Geschäftsleitung die Erlaubnis, so lange zu arbeiten, wie er will. Und als ich ihm den Dank und die Grüße von Sonja Wanner ausrichte, strahlt er wie ein Weihnachtsbaum.
Ich liebe es, wenn Leute lieben, was sie tun. Wenn sie ihr Ding stolz und eigensinnig und mit Spaß durchziehen und sich ihren Arbeitsplatz genau so zurechtdengeln, wie es für sie gut ist. Mit Blumenkästen oder langen Teepausen – whatever works.
Juli 29th, 2011 at 05:13
Good morning!
Friday – the beginning of weekend!
Hope yours is soft and …
Franka
Juli 29th, 2011 at 05:21
Hach, einmal mehr wünschte ich, der HVV nähme sich an London Transport ein Beispiel!
Juli 29th, 2011 at 06:14
Bei diesem Bericht wird einem richtig warm ums Herz!
Juli 29th, 2011 at 06:41
Auch mein Herz weitet sich und wird ganz warm und weich…was für eine schöne Geschichte aus London.
You made my day – wie so oft. Immer wieder danke.
Juli 29th, 2011 at 07:10
Schade, dass ich nie in London studiert habe – und grosser Dank an Sonja für diesen wunderbaren Auftrag. Ja – und Dank an Meike, dass Du uns wieder einmal eine Gänsehaut Geschichte geschenkt hast!
Juli 29th, 2011 at 07:30
wow! ich glaub, ich muss auch dringend anfangen zu dengeln…
Juli 29th, 2011 at 07:41
Aaalso….liebe Leute…..
auch ich liebe diesen Blog mit den netten Geschichtchen around the world – für manchen hat Fr. Winnemuth anscheinend schon fast therapeutische wirkung….
Aber diese Stimmungsaufheller finden sich -bei entsprechender Suche und bißchen Sinn dafür-
überall….. sogar manchmal hier in tiefer bayrischer provinz, also:
Augen auf!!
Juli 29th, 2011 at 07:43
Zwei zauberhafte Geschichten, wie sie eigentlich nur in England geschrieben werden können, oder!? Vielen Dank für’s erzählen und das Herz erwärmen
Lieben Gruß *Hanne*
Juli 29th, 2011 at 08:19
@Hanne: Meike Winnemuth kann solche Geschichten in JEDEM Land schreiben…
Juli 29th, 2011 at 08:40
Liebe Meike,
was für ein schönes Momenterlebnis zum Wochenende…
Ich wünsch Dir ein schönes letztes Wochenende in London
LG Ulrike
Juli 29th, 2011 at 08:40
Hallo Frau Winnemuth,
waren Sie schon in diesem Eisladen? http://www.theicecreamists.com
Da wurde mir heute im Morgenmagazin des ZDF von vorgeschwärmt und das mir als absoluter Eisjunkie. Leider schaffe ich es so schnell nicht nach London, von daher wüßte ich gern, ob das Eis dort wirklich so lecker ist.
Liebe Grüße nach London
Daniela
P.S. Danke für den Blog, ich bin immer wieder aufs neue gespannt, was Sie so erlebt haben.
Juli 29th, 2011 at 08:44
Die Geschichte von Giles Armstrong ist wirklich zauberhaft! Darum geht es doch: seinen Platz im Leben zu finden, oder? Vielen Dank dafür.
Juli 29th, 2011 at 08:50
Ich muss noch was nachtragen: hatte heute vormittag drei (!) Erlebnisse mit beruflich hypergestressten Medienberuflern, die mich wirklich nachdenklich gemacht haben. Alle drei eigentlich sehr nett, aber durch ständigen Stress, mörderische Hetze und hohen Druck werden sie mehr und mehr zu Grobianen und wirken, als wären sie eiskalte Biester. Doppelt erfrischend deshalb die Geschichten von Mister Foyles und dem Mann aus der Londoner U-Bahn, die ich eben noch einmal mit Genuss gelesen habe. So geht’s also auch, beruhigend.
Juli 29th, 2011 at 08:59
Liebe Frau Winnemuth,
lassen Sie mich auf Ihre letzten London-Meter noch einen Tipp loswerden: ein kleiner, auf den ersten Blick unspektakulärer Laden im Osten der Stadt, in Hoxton, der Sie vielleicht auch begeistern wird:
http://www.ministryofstories.org/monster-supplies/
http://www.guardian.co.uk/books/video/2010/nov/19/nick-hornby-ministry-stories-video
Und gleich um die Ecke findet am Sonntag vormittag ein toller Blumenmarkt in der Columbia Road statt…
Beste Grüße!
Juli 29th, 2011 at 09:15
Als ich mich neulich entschied für vier Tage nach London zu fliegen, um dort einen Mann zu treffen, den ich bis dahin nur durchs Emailschreiben und Skypen kannte, versprach der mir, er würde mich überraschen wollen, wenn ich ihn besuchen käme, was ich denn gern möge.
Also ich zählte auf. Wohnen in einem bezaubernden Gästehaus (seine Wohnung war tabu), irgendwo außerhalb Londons, ländlich, vielleicht ein paar Pferde hinterm Haus auf der Koppel, oder so. Wirklich, das willst du, fragte er. Ich möchte, dass du die Zeit mit mir verbringst statt mit Pferden. Gut.
Etwas Entdecken und Anschauen, was nicht in Reiseführern steht. Besser nicht, das lenkt deine Konzentration von mir weg, antwortete er. Aha.
Wollen wir nach Brighton fahren, barfuss laufen auf Kiesmurmeln, ein Picknick mit Käse, Baguette und Rotwein? Es war das Wochenende mit Temperaturen um 30°C. Nach Brighton, fragte er, bei der Hitze im unklimatisierten Auto. Das also auch nicht.
Ein Spaziergang über einen wuseligen Flohmarkt, wagte ich vorsichtig zu fragen. Nein, das sei auch nicht der richtige Ort, um sich kennenzulernen. Gut, mach du jetzt bitte Vorschläge, ich gab auf.
Was war nur los? Wir hatten doch soviel Gemeinsamkeiten, bevor wir uns trafen. Wir setzten uns ins Auto und fuhren los. Ich sprach nur noch das Notwendigste, und überlegte angestrengt, springst du raus oder hältst du durch, und entschied mich fürs Durchhalten. Wir landeten: in Clacton on Sea. Wer diese Gegend im Südosten von England kennt, ich nenne sie deepest Essex, weiß, dass dieser Landstrich zauberhaft ist, jedoch sehr sehr sehr einfach. Der obligatorische Pier“spaziergang“ musste also her. Strand und Pier überlaufen mit wohl genährten Menschen und unzähligen Kindern. Rummel, Jahrmarkt, Karussellpferde reiten, Lärm, Autoskooter, Zuckerwatte, dickbäuchige Angler auf zerbrechlichen Campingstühlen, weg, weg, weg. Es ist ihm tatsächlich gelungen, mich zu überraschen. Das hatte er ja angekündigt! Ich liebe es auch, wenn Leute ihr Ding durchziehen. Aber so?
Was für eine Wohltat, liebe Meike, Ihre Erlebnisse zu lesen. Ich weiß, was ich in London verpasst habe und gehe in Gedanken jeden Schritt mit Ihnen. Schön ist das.
Juli 29th, 2011 at 09:45
Hach, goose bumps. Schön, wenn Leute glücklich sind, mit dem was sie tun.
Juli 29th, 2011 at 13:31
@Detlef
Du hast den vergessen – Ich schick Dir einen:
Juli 29th, 2011 at 14:56
herrlich!
Juli 29th, 2011 at 15:11
Oh Henriette…vielleicht demnächst nochmal nach London und dann nicht diesen Mann treffen?
Juli 29th, 2011 at 16:56
Oh jeh
An diesem Mann aus London stimmt ja gar nix
Ab auf den Mond
Juli 29th, 2011 at 19:24
Wenn ich das alles so lese, bekomme ich wieder große sehnsucht nach london! wie sehr ich diese stadt doch liebe! danke für die wunderbaren geschichten und diesen inspirierenden blog!
Juli 29th, 2011 at 19:25
Hatte Mr. Armstrong denn eine Ahnung davon, wer die Absenderin der Grüße ist?
Juli 29th, 2011 at 19:29
Ja so sind sie, die wahren Buchhändler vom alten Schlag. Ich hatte einstens in HH einen Kollegen, der auch arbeiten durfte, wann e r wollte. Außerdem war sein Gedächtnis immens, er war unsere wandelnde Bibliographie- an Computer war ja noch nicht zu denken. Wenn er mal wieder für uns Kolleginnen den Verlag eines Buches herausfinden sollte, ging er nebenan ins Café und kam dann nach einer langen Pause stolz zurück, natürlich wußte er jetzt den Verlag.
Juli 29th, 2011 at 22:56
Meike,
Sie haben’s doch mit diesen Tierchen, vor allem wenn sie frech sind, stimmt’s? Nicht alle Briten sind offenbar zurückhaltend und stilvoll….
http://www.gmx.net/themen/nachrichten/bildergalerien/bilder/487s5j4-spektakulaere-bilder-der-woche
ein angenehme Weiterreise, damit mir alle täglich was schönes zu lesen kriegen.
Juli 30th, 2011 at 08:45
Gestern morgen war erst die Hälfte des Beitrags online. Wie gut, dass ich später noch mal guckte. Danke für den anrührenden Beitrag zu Giles Armstrong!
Juli 31st, 2011 at 08:06
Das ist sooo schön, arbeiten, weil es Freude macht… und ein kleines bisschen traurig, weil keiner zuhause wartet. Ja, “anrührend” ist genau die richtige Bezeichnung. Love it!
Juli 31st, 2011 at 10:47
Auch wenn ich gerade ganz wo anders auf der selben Insel bin, nämlich dort, wo sie ihr eigenes Geld haben, scheint mir es auch hier so zu sein, dass kleine Verrücktheiten im Alltag erlaubt oder gar erwünscht sind. In Deutschland traut man sich so vieles nicht, was weder verboten noch schlimm wäre. Dieser alltägliche kleine Individualismus macht die Menschen sympathisch. Und vielleicht auch glücklich.
Juli 31st, 2011 at 12:09
Jaa! sich seinen Arbeitsplatz “zurechtdengeln” . Solche Menschen mag ich auch!
August 1st, 2011 at 09:35
zwei Dinge: 1. mich würde wie Barbara R auch interessieren. ob Herr Armstrong wusste, von wem die Grüße kamen..
2. was hat denn nun Sonja dazu gesagt? Sie hat sich hier noch gar nicht geäußert…
August 1st, 2011 at 10:14
@Jule und Barbara: Nein, Mr. Armstrong wusste es nicht, wie sollte er auch? Sonja war ja bis dahin nur eine namenlose Kundin unter tausenden. Sie hat sich sehr gefreut, glaube ich.
Oktober 9th, 2011 at 18:19
Echt Klasse Geschichte. Da macht Bücher kaufen bestimmt noch richtig Spaß, wenn dieses Urvertrauen einfach da ist. Die Bücher sind dann auch einfach etwas besonderes, weil man weiß, dass ER sie gut findet, weil er sie empfohlen hat. Wirklich Druckreife Geschichte!